„[Ein Planungsstaat] ist weder demokratietheoretisch wünschenswert noch zukunftsfähig, da Planer sich notwendigerweise am Gegebenen orientieren. Und das ist in einer Phase fatal, in der nicht nur gesellschaftliche Teilbereiche wie die Wirtschaft, das Gesundheits- oder das Bildungssystem in der Krise sind, sondern das Bezugssystem dieser Krisen, die atlantisch-kapitalistische Kultur der Ressourcenübernutzung, selbst an eine Funktionsgrenze geraten ist. (…)
[Man kann lernen von] Institutionen, bei denen das Eintreten unerwarteter Ereignisse nicht einfach nur unangenehme, sondern katastrophale Folgen haben kann. Beispiele dafür sind Atomkraftwerke, Flugzeugträger, Feuerwehren, Krisenteams, die bei Geiselnahmen eingesetzt werden, Katastrophenschützer et cetera. Die Arbeit in solchen Organisationen zielt vor allem darauf ab, dass bestimmte Ereignisse nicht eintreten – weshalb eine ganze Reihe von Eigenschaften, die in anderen Organisationen als wertvoll gelten, hier problematisch sind: Jede Form von Routine etwa ist ein Problem, weil sie die Sensibilität in Bezug auf sich abzeichnende oder ankündigende Probleme unterminiert. (…)
„Erfahrung an sich“, schreiben Weick und Sutcliffe, „ist noch kein Grund für Sachkenntnis“, sie kann im Gegenteil zur Falle werden. Nämlich dann, wenn etwas so aussieht wie ein Ereignis, das man kennt, in Wahrheit aber etwas ganz anderes ist – die beiden größten Störfälle in Atomkraftwerken, die Beinahe-Kernschmelze in Harrisburg und der GAU in Tschernobyl sind entstanden, weil die Mannschaften den Fehler falsch interpretierten. (…)
Für den Umgang mit Unerwartetem kommt es vor allem darauf an, Sensorien dafür zu entwickeln, dass sich etwas ankündigt oder abzeichnet, das die routinemäßige Behandlung sofort überfordern würde – das heißt, es geht darum, misstrauisch gegenüber der Erfahrung zu sein und die Phänomene immer aufs Neue in Augenschein zu nehmen. Und es geht auch darum, auf Unerwartetes nicht mit Rückgriff auf „bewährte“ Rezepte zu reagieren, sondern so schnell wie möglich die unterschiedlichsten Kompetenzen zu versammeln, die zu einer zutreffenden Problembeschreibung und -analyse beitragen können. (…)
Wenn Politiker und Planer keine Ahnung haben, mit welcher Art von Krise sie es zu tun haben, dann wissen sie logischerweise auch nicht, wie sie zu managen ist. Wäre es nicht produktiver, das zu sagen, als mit dem Verfahren von Versuch und Irrtum (Lehman pleitegehen lassen, Hypo Real Estate retten) scheinbar zu steuern und schließlich bei absurd kontraproduktiven, weil veränderungsfeindlichen Lösungen zu landen wie der Abwrackprämie oder der Auflistung von Steueroasen. (…)
Achtsamkeit ist in diesem Sinn ein Instrument zur Sicherstellung der Reversibilität von Entscheidungen, um verhängnisvolle Entwicklungspfade und Eskalationswirkungen systematisch zu vermeiden. Eine Gesellschaft, die sich für ihre Fehler und Fehlentwicklungen interessiert und weiß, dass ihre Entwicklung dynamisch und nicht vollständig planbar ist, die Erfahrung für hinderlich hält bei dem Versuch, das Unerwartete zu erkennen, ist eine in Echtzeit lernende Gesellschaft, und genau die brauchen wir, weil das, was wir zu bewältigen haben, das Unerwartete ist, das wir noch gar nicht im ganzen Umfang erkannt und beschrieben haben. Eine solche Gesellschaft ist jedem Planungsstaat prinzipiell überlegen, weil sie im Gegensatz zu diesem auf Veränderungsanforderungen flexibel und schnell reagieren kann.“
Politik der Achtsamkeit