Fortsetzung der Lektüre Daily Rituals. How Great Minds Make Time, Find Inspiration, and Get To Work

Im gestrigen Eintrag zu Margaret Mead tauchte die Frage auf, wie man mit Zeitlöchern umgeht. Zeit, die man nicht mit dem Schaffen nutzen kann, vor allem Wartezeit. Die rote Ampel, der Bus, auf den man wartet, die Schlange in der Kaufhalle. Während ich Zuspätkommen bei Shows, Proben und anderen Kollektiv-Verabredungen als zumindest zu rechtfertigende Zumutung empfinde, bin ich im Laufe der Zeit großzügiger geworden, wenn ich einfach nur warten muss. Ich erinnere mich nicht, wann ich mich das letzte Mal wirklich gelangweilt habe. Denn gerade Situationen, in denen es nichts zu tun gibt, kann man so interessant auffüllen. Für uns Schauspieler zum Beispiel mit (ggf. für andere unsichtbaren) Körper- und Atem-Übungen. Lesen geht fast überall, für mich allerdings tatsächlich mit der Einschränkung, dass ich sitzen kann und einen Bleistift zum Anstreichen dabei habe. (Eine Macke von mir: Ich könnte nie Bücher mit Kugelschreiber oder Text-Marker anstreichen, auch wenn ich mir sicher bin, dass die Anstreichungen nie wieder entfernt werden. Soweit geht meine anerzogene Ehrfurcht vor dem Buch.) Wenn ich in vollen Bahnen stehen muss, schließe ich manchmal die Augen und trainiere mein Gedächtnis, indem ich versuche, mir die anwesenden Passagiere bildlich vorzustellen. Oder ich entwerfe Impro-Übungen mit geschlossenen Augen. Die besten Ideen kommen einem tatsächlich in „bus, bed, bath“ (verschiedene Quellen. Vermute, dass mit „bath“ der bathroom, also das Klo gemeint ist.) Auch die Reifung der Gedanken hat ihren Ort und ihre Zeit.
Im Übrigen ist das tatsächlich ein Grund, dass ich mich scheue, den Führerschein zu machen. Ich wäre wahrscheinlich viel zu sehr mit meinen Gedanken woanders, was nicht nur mein Leben gefährdete. Lesen könnte ich beim Fahren auch nicht. Hörbücher (das darf ich als aktiver der Branche eigentlich nicht sagen) kann ich nicht ausstehen.

Samuel Johnson (1709-1784)
Schrieb offenbar nachts nach 2 Uhr bei Kerzenlicht.
Vormittags im Bett, wo er auch Besuch empfing.
16-2 Uhr außerhalb des Hauses – Bars, Restaurants usw.

James Boswell (1740-1795)
Bemühte sich stets, morgens aufzustehen und an die Arbeit zu gehen, „als ob ein schönes Mädchen auf ihn wartete“. Dabei ging es darum, seine doch recht starke Neigung zu Faulheit und Schlendrian zu überlisten. In guten Zeiten gelang es ihm. In schlechten fühlte er sich „dreary as a dromedary“.

Immanuel Kant (1724-1804)
Von dem, was wir wissen, muss Kants Leben in äußerst geregelten Bahnen verlaufen sein. Immer dieselben Uni-Kurse lehren. Keine Reisen (außer ans nicht weit entfernte Meer). Regelmäßige Nachmittagsspaziergänge. Von Heinrich Heine stammt das Bild, die Königsberger würden ihre Uhren nach seinem Spaziergang stellen. (Wieviel von unserem Kant-Bild stammt eigentlich von Heine?)
Der strikte gesundheitsorientierte Tagesablauf  ist Kants schwacher körperlicher Grundkonstitution geschuldet. Man beachte: Er wurde fast 82 Jahre alt!
Aufstehen 5 Uhr. 2 Tassen schwacher Tee, eine Pfeife. Vorbereitung seiner Vorlesungen, die von 7-11 Uhr dauerten. Danach Mittagessen, die einzige wirkliche Mahlzeit des Tages, oft mit Freunden und Bekannten aus verschiedenen Lebensbereichen. Ab 15 Uhr Spaziergang und Freunde besuchen. Zwischen 19 und 21 Uhr nach Hause, wo er noch schrieb. 22 Uhr Licht aus.
Man beachte diese kurze, späte Schreibphase.

William James (1842-1910)
Mit 28 schrieb er sich die Warnung ins Tagebuch: „Erinnere dich, dass wir nur dann, wenn Gewohnheiten der Ordnung geformt werden, in die wirklich interessanten Tätigkeits-Gebiete voranschreiten können und schließlich wie ein Geizkragen Korn für Korn der willentlichen Entscheidungen ansammeln können; denn wenn auch nur eine Verbindung fehlt, bricht eine unendlich große Anzahl zusammen.“
Der größte Horror war für ihn Entscheidungsunfähigkeit, woran er selber litt.
Moderater Alkoholkonsum. Zigaretten und Kaffee gab er mit Mitte Dreißig auf.
Schlaflosigkeit mit Chloroform (!) bekämpft.

Henry James (1843-1916)
Schrieb zwischen Frühstück und Mittag. Im Alter diktierte er seine Texte, da er an Handgelenkschmerzen litt.
Nachmittags: Tee, Spaziergänge, Lesen.
Sofort nach Beendigung eines Buches begann er ein neues. Die Inspirationen verfolgten ihn.

Franz Kafka (1883-1924)
Lebenslanger Brotberuf. Meiste Zeit bei der „Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt“ von 8-14 Uhr.
Da er mit seiner Familie in beengten Verhältnissen lebte, musste er seine Konzentration auf die Nacht legen, wenn alle anderen schliefen.

Arbeitsroutinen von Künstlern VII – Zeitlöcher
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2 Kommentare zu „Arbeitsroutinen von Künstlern VII – Zeitlöcher

  • 2013-11-11 um 16:40 Uhr
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    Ich denke ja, dass ähnlich wie in diesem TED Talk beschrieben, das förderlichste Klima für neue Ideen nicht das Bett, der Bus oder das Klo sind, sondern, die Gesellschaft von und der Austausch mit anderen: http://www.youtube.com/watch?v=0af00UcTO-c – selbst in meinem relativ uninspirierenden Büro-Job merke ich, wie hilfreich der Austausch mit anderen über das gemeinsame Projekt / die gemeinsame Arbeit ist, da ich selber einfach schnell Sachen übersehe (Tunnelblick). Ganz zu schweigen natürlich vom kreativen Potential innerhalb einer Impro-Gruppe!

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  • 2013-11-11 um 18:46 Uhr
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    Danke für den Hinweis. Du hast einerseits Recht, Claudia: In der entspannten Kaffeehaus-Situation lassen sich gut Ideen für gemeinsame Projekte generieren, eigene Ideen testen usw.
    Aber andererseits braucht man auch Zeit zur Introspektion. Das ist natürlich sehr deutlich, wenn man sich die Arbeitsweise des Schriftstellers und des Komponisten anschaut. Beide können ihre Ideen ja schlecht im Gespräch entwickeln. Dafür braucht man einerseits intensive gedankliche Beschäftigung mit dem Thema/Stoff/Material, andererseits auch Ruhe, die Gedanken quasi unbeobachtet im Kopf arbeiten zu lassen.

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