Kapitel 3 – Der gefährlichste Feind des Zarismus

Am Ende des 19. Jahrhunderts war das zaristische System verfault. Die Reichsanmaßung einerseits war ungeheuer. Das Land umfasste 104 Nationalitäten. Die im 19. Jahrhundert dominierende Strategie, die Probleme an den ausfransenden Rändern des Reichs in den Griff zu kriegen, bestand darin, noch mehr zu erobern. Andererseits war das zaristische System nicht reformierbar. Von einem Parlament konnte selbst 1900 keine Rede sein. Alexander II. schuf einen Ministerrat, den Kotkin als "Totgeburt" bezeichnet, da die Minister keinerlei Unabhängigkeit hatten, sondern dem Zaren persönlich Rechenschaft leisten mussten. Die Treffen des Ministerrates unterliefen jeden Reformansatz, indem es den einzelnen Ministern nur darum ging, bei Entscheidungsfindungen am Ende nicht auf der falschen Seite zu stehen. An Einbindung der Bevölkerung in die politische Entscheidungsfindung war nicht zu denken. Dissens galt als gefährlich. Wer sich oppositionell äußerte, wurde verbannt. Als einziges probates Mittel, grundsätzlich etwas zu ändern, schien der Opposition das Attentat. Alexander II. erwischte es 1881. Alexander III. überlebte mehrere Attentate, eines in Anwesenheit seines Sohnes, des späteren Zaren Nikolaus II. Lenins Bruder wurde nach einem versuchten Anschlag hingerichtet. Das Ganze wirkte selbstverstärkend: Da Opposition für die Zaristen mörderisch wirkte, wurden derlei Ansätze sofort erstickt. Da aber jede Art von Opposition illegal war, erschien Militanz unausweichlich.

The inflexible autocracy had many enemies, including Iosif Jugashvili. But its most dangerous enemy was itself.

Die faktische physische Bedrohung des Regimes führte zur Gründung der Geheimpolizei Ochranka. Diese Geheimpolizei war in Europa keine Ausnahme, sie unterwanderte die linke Opposition, was zu Paranoia unter den Sozialdemokraten führte.

Das kommt einem aus der DDR-Opposition bekannt vor.

Das Russische Reich war zudem auch unfähig, die Herausforderungen der Moderne zu meistern oder auch nur anzugehen. Der zunehmenden Industrialisierung und Intellektualisierung stand die Weigerung des Regimes gegenüber, diesen Kräften, zumindest ein legales Ventil politischer bzw. wirtschaftlicher Artikulation zu leihen. Dazu kamen immer wieder Bauernaufstände.
In diese Situation gerät ein fähiger Politiker an eine wichtige Position – Sergej Witte. Er präferiert (wie später Stalin) eine forcierte Entwicklung der Schwerindustrie, und visierte Reformen in der Innenpolitik und eine "Realpolitik" in der Außenpolitik an. Allerdings standen diesen Ansätzen keinerlei politische Strukturen gegenüber. Nikolaus II. bevorzugte Geheimhaltung, spielte Minister gegeneinander aus, ja, ließ sie sogar über seine eigenen politischen Ziele im Unklaren. Als im Januar 1905 streikende Arbeiter ihrem "Väterchen Zar" eine Petition überreichen wollen, verdrückt der sich aus der Stadt, und die Polizei lässt die Demonstranten niederschießen – der Startschuss für die 1905er Revolution.
In dieser Zeit nimmt Dschugaschwili (der bis hier und auch auf den weiteren Seiten der Biografie eher wie ein Nebendarsteller wirkt) eine Kehrtwendung in vielen Positionen ein, vor allem verabschiedet er sich, nach Angriffen aus seiner eigenen Partei, von der Vorstellung, Georgien sollte nach einer Revolution nationale Autonomie erlangen. Er unterwirft nicht nur die georgische Sozialdemokratie, sondern das spätere Georgien Russland.
Schon im Jahr 1903 wurde die russische Sozialdemokratie gespalten. Man mache sich keine Illusionen: Auch die Menschewiken waren radikale Revolutionäre, die für die "Diktatur des Proletariats" standen. Aber sie standen für eine breite Arbeiterbewegung der Partei, während Lenin derartige Vorstellungen für illusorisch hielt: Eine revolutionäre Partei müsse ein professionelle Elite-Truppe sein. Die gegnerische Fraktion bezeichnet er als Minderheitler (die sie bis auf eine einzige Abstimmung nie waren).

Schon hier wird klar: Lenin will seine Vorstellungen durchsetzen. Demokratie, auch innerparteiliche, ist ihm ein Gräuel. Eine Massenpartei zur Erlangung der Macht – das könnte ja sonstwo enden. Aber auch seine innerparteilichen Gegner greift er derart scharf an, dass erkennbar wird: Er ist an politischer Auseinandersetzung oder Debatte nicht wirklich interessiert, kompromissfähig ist er kaum.

Das Regime zerfällt, es lässt die Sozialdemokraten verbannen oder vertreibt sie ins Exil. Und die zerfleischen sich darüber, ob die Revolution sozialistisch sein soll oder (gemäß Marx’ Prophezeiung) zunächst bürgerlich sein sollte.
Der Zar lässt unterdessen Pjotr Durnowo zum Retter der Autokratie machen und untergräbt damit Wittes Ansätze. Auch Durnowo ist ein rücksichtsloser und talentierter Politiker. Aber sein Talent verschafft dem Zaren nur eine Atempause. Er stabilisiert das Regime kurzzeitig und verurteilt es somit zum Untergang.

It is impossible to know what would have transpired had Durnovó’s exceptional resoluteness and police skill not saved tsarism in 1905-6. Still, one wonders whether history of one sixth of the earth, and beyond, would have been as catastrophic, and would have seen the appearance of Stalin’s inordinately violent dictatorship.

Stalin und ich – Die Leninsche Zerfleischung der Minderheitler genannten Mehrheitler
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