Wie wichtig der Blick von außen auf die Szene ist, habe ich hier schon oft angesprochen. Diese Adlerperspektive (bisweilen auch „drittes Auge“ genannt) ist entscheidend für unsere Orientierung innerhalb einer Szene.
Für manche Spieler ist die Forderung nach einer Außensicht irritierend: „Dann ist man ja nicht mehr im Moment! Man verliert doch die Figur!“
Aber das ist nicht notwendigerweise so. Um ein Beispiel aus dem Alltag zu geben: Angenommen, ich treffe mich mit einem Kollegen zum Brunch und dabei plaudern wir über unsere neusten Ideen und Projekte. Wenn ich dabei achtsam bin, bin ich mir meines Essens bewusst, ich bin mir über die Beziehung zu meinem Kollegen ebenso klar wie über den Inhalt unseres Gesprächs. Aber außerdem ist mir natürlich der Rahmen dieses Settings klar, nämlich wo wir uns befinden und dass die Zeit verstreicht.
Multitasking ist für uns im Alltag meistens normal, wir haben es über Jahre unbewusst trainiert. In einer Impro-Szene bewegen wir uns in anderen Kategorien: Die Rolle, die Tätigkeit, die Beziehung zum Anderen, das Genre, der Inhalt – all das wird kollaborativ und spontan erschaffen. Für Impro-Anfänger kann das ungewohnt sein und sich wie Jonglieren mit fünf Bällen anfühlen. Durch fortwährendes Üben verliert sich dieses Gefühl der Überforderung nach und nach. Unsere Aufmerksamkeit kann mehrere Elemente gleichzeitig wahrnehmen, da sie uns einzeln und für sich genommen keine große Schwierigkeiten bereiten.
Die Adlerperspektive beizubehalten bedeutet nicht, zu wissen oder zu steuern, wo die Szene hingeht. Vielmehr geht es um das Bewusstwerden des gesamten Bühnengeschehens: Was passiert hier gerade? Und in welchem Kontext steht das?
Wenn ich die Adlerperspektive einnehme, wird mir bewusst, was die Szene braucht: Ausbreiten der Handlung oder Vorantreiben? Szenenwechsel oder Fortführen der Szene? Verschärfen des Inhalts oder Auflösung? Beschleunigung oder Entschleunigung?
Die Adlerperspektive