(Der folgende Text ist ein Auszug aus dem Mitte September erscheinenden Buch “Improvisationstheater. Band 9: Impro-Shows”.)

Momentan nutzen sicherlich 99 Prozent aller Improtheatergruppen Vorgaben und Vorschläge  aus dem Publikum. Interessanterweise sprechen sich aber einige führende Impro-Lehrer und -Schauspieler gegen die Verwendung von Publikumsvorschlägen aus. Keith Johnstone etwa ist der Meinung, dass das Publikum, wenn man es fragt, generell lustiger sein will als die Schauspieler und dann alberne, teilweise demütigende Vorschläge einruft.  Ebenso wie Johnstone glauben auch TJ & Dave, dass Publikumsvorschläge die Spieler von dem ablenken würden, was gerade in diesem Moment passiert.  Die Arbeit des Impro-Spielers würde dazu degradiert, Vorgaben „abzuarbeiten“.
Auf der anderen Seite stehen jene, die glauben, ohne Vorschläge zu spielen, sei Betrug am Publikum, oder zumindest offenbare man damit eine gewisse Arroganz. Das Aufgreifen des Publikums-Vorschlags sei die beste Art, eine Verbindung zu den Zuschauern herzustellen.
Ich glaube, dass beide Seiten zwar richtige Argumente vortragen, aber dass keine Seite in ihrer Absolutheit Recht hat.

Warum man es dem Publikum zumuten kann, ohne Vorschläge zu spielen
Improvisation entsteht aus dem Moment heraus. Und wenn wir diesen Moment erfassen, den Moment des Spiels, den Impuls der gemeinsamen Kreativität, wenn wir ungehinderten Zugriff auf unsere Assoziationskanäle zulassen und uns von unseren Partnern und unseren eigenen Gedanken überraschen lassen, dann brauchen wir tatsächlich keine Vorschläge aus dem Publikum, um improvisieren zu können. Um das klar zu sehen, brauchen wir nur einen Blick auf die improvisierte Musik zu werfen: Zwar finden sich auch dort inzwischen Musiker, die sich von Vorschlägen des Publikums inspirieren lassen, aber die große Stilrichtung der Impro-Musik des 20. Jahrhunderts, nämlich der Jazz, kommt ohne Publikumsvorgaben aus.
Manche Impro-Spieler wenden ein, erst die Vorgaben würden „beweisen“, dass wir wirklich improvisieren. Das tun sie aber nicht. Zuschauer werden gerade wenn man das betont, skeptisch und suchen dann (ähnlich wie bei Zauberkunststücken) nach den „Tricks“. Die Skeptiker im Publikum überzeugt man am besten dadurch, dass man die Improvisation weniger als Sensation hervorhebt, sondern den Fokus mehr auf den Prozess des Improvisierens bzw. auf die Inhalte lenkt. Unter Umständen muss man sich auch damit abfinden, dass es immer eine Handvoll Skeptiker geben wird.

Nachdem wir mit Foxy Freestyle ein komplettes Stück ohne Unterbrechung anhand von wenigen Publikumsvorgaben im Stil von Tennessee Williams improvisierten, lasen wir anschließend in einem Online-Kommentar zu unserer Show: „Das war ein außergewöhnlich schönes Stück, aber leider nicht improvisiert. Denn wenn das improvisiert gewesen wäre, müssten ja die Schauspieler Genies sein.“

Bei aller unbeabsichtigter Schmeichelei wurde mir hier klar: Wir werden Zuschauer wie diesen nicht überzeugen können, es sei denn, wir appellieren vor solchen Shows kurz an ihr Vertrauen oder wir arbeiten als Impro-Community hart und langfristig daran, das Vertrauen des Publikums in die Improvisation herzustellen. Aber eine Impro-Gruppe kann sich ihr Publikum „erziehen“ kann, wenn sie hartnäckig und mit hoher Qualität Improvisationstheater bietet, das ohne Vorschläge auskommt.
Zum Argument, nur durch Vorschläge könne eine wahre Verbindung zum Publikum hergestellt werden, ist anzumerken: In der Tat schlagen die eingebauten Vorgaben und inspirierenden Vorschläge eine Brücke zum Publikum, aber eben nicht die einzige. Man frage sich selbst: Was begeistert mich als Zuschauer mehr – eine runde, elegante Szene, in der der Flow der Spieler sichtbar wurde? Oder die schiere Tatsache, dass eine Handvoll Vorschläge eingebaut wurden? Die Freude der wenigen Zuschauer, von denen diese Vorschläge kamen, ist nicht zu unterschätzen. Aber die Freude des restlichen Publikums, die Umsetzung eines fremden Vorschlags zu sehen, darf man auch nicht überschätzen.

Was für die Verwendung von Publikums-Vorschlägen spricht
Vorschläge führen uns aus der Komfortzone.
Wenn man viele Jahre improvisiert, stellen sich unweigerlich Muster ein – man etabliert ähnliche Handlungen in ähnlichen Konstellationen an ähnlichen Orten mit ähnlichen Konflikten. Vorschläge aus dem Publikum können einen im positiven Sinne irritieren und zwingen, sich mit neuen Situationen auseinanderzusetzen. (Das setzt eine kluge Fragetechnik voraus, damit nicht immer dieselben Vorschläge zu hören sind.) Die Auseinandersetzung mit neuem Material zwingt uns Improvisierer zu neuen Lösungen und hält das Spiel auf der Bühne frisch.
Zeitersparnis in Kurzformen
In einer Szene, die nur wenige Minuten dauern soll, spart man Zeit, da nicht sämtliche Plattform-Elemente  nach und nach gemeinsam etabliert werden müssen. Wenn man schon weiß, dass wir Mutter und Vater sind, die im Garten den Kindergeburtstag vorbereiten, können wir sofort zum Kern der Szene kommen.
Verbindung zum Publikum
Die Verbindung zum Publikum wird verstärkt, wenn die Vorschläge aufgenommen und kreativ verarbeitet werden. Wir improvisieren dann nicht mehr nur für das Publikum, sondern auch mit dem Publikum. Die Verbindung wird noch intensiver, wenn es um mehr als „Vorgaben“ geht. Denn wenn wir das Publikum nach Vorgaben fragen, wird es versuchen, „originell“ zu antworten. (In mit Vorgaben vollgestopften Szenen sieht man dann „Eine Oper, in der ein Yeti in der Sauna von einem Pinguin rasiert wird“.) Das kann zwar im Einzelfall mal ganz witzig sein, bleibt aber letztlich belanglos. Vorschläge, die auf das Persönliche zielen, haben das Potential, die Storys emotionaler werden zu lassen, da sie dem einzelnen Zuschauer mehr bedeuten und das gesamte Publikum weiß, dass das so ist. Die Vorschläge schlingen also ein einmaliges Band um Publikum und Improvisierer. Es ist, als sei man eine verschworene Gemeinschaft, die ein geheimes Spiel spielt.

Brauchen wir überhaupt Vorschläge und Vorgaben aus dem Publikum?
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