Gibt es unter Impro-Anfängern ausgesprochene Talente und kann man sie erkennen?
Diese Frage wird mir manchmal von Schülern gestellt und manchmal unter Impro-Kollegen diskutiert.
Die kurze Antwort lautet: Ja, es gibt Talente. Und nein, man kann sie nicht immer erkennen.
Aber die Wahrheit ist natürlich, wie so oft, komplexer und erfordert leider eine etwas längere Antwort.
Zunächst einmal müssen wir klären, was denn überhaupt gemeint ist, wenn wir von „Impro-Talent“ reden. Ganz grob gesprochen zähle ich dazu folgende Grund-Talente:
- Die Fähigkeit zuzuhören,
- Spielfreude,
- Materielle Talente: Schauspiel, Storytelling, Musikalität usw.
Sehr selten, vielleicht bei einem von hundert Schülern, kommt es vor, dass ich glaube, schon in der ersten Stunde ein derart überragendes Talent in all diesen Bereichen zu erkennen, dass ich ihn sofort in eine Klasse mit höherem Niveau eintreten lasse. Aber viele Schüler lassen schon zu Beginn ein beachtliches Talent in einigen Bereichen erkennen. Die Frage ist dann: Wie weit trägt dieses Talent?
Im Märchen „Das hässliche Entlein“ von Hans Christian Andersen stellt sich am Ende heraus, dass die zerzauste Ente, über die sich alle lustig gemacht hatten, eigentlich ein Schwanenküken gewesen war. Und so ist es auch in Impro-Workshops: Man weiß nicht, aus wem sich vielleicht der schönste Schwan seiner Generation entwickeln könnte.
Das hat erstens damit zu tun, dass in unseren Kursen Erwachsene auftauchen, die sich im Laufe ihrer Entwicklung die Spielfreude haben abtrainieren lassen. Es kommt dann darauf an, den Workshop zu einer spielfreudigen Sphäre zu machen, in der man sich freispielen und sich ausprobieren kann und in der es viel positiven Zuspruch gibt. Diesen versteckten Talenten kann man vor allem mit Impro-Games verschiedener Schwierigkeits-Stufen dabei helfen, ihren Schutzpanzer abzulegen und ihr Talent nach und nach zu entfalten.
Zweitens gibt es Schüler, die von vornherein eine große Spielfreude und ein gewisses schauspielerisches Geschick mitbringen, aber zunächst nicht die besten Zuhörer sind, Schwierigkeiten beim Akzeptieren haben und denen es schwerfällt gemeinsam etwas aufzubauen. Hier ist die große Frage, ob sie im Laufe der Kurse bereit sind, ihr Ego abzulegen und die Kraft finden, die sich aus der Gemeinsamkeit ergibt.
Drittens bringen manche Talente zwar eine große Spielfreude mit und sind sensibel gegenüber ihren Mitspielern, aber ihre schauspielerische Fähigkeiten (die wir auch alle als Kinder haben) sind völlig verschüttet. Diesen Schülern fehlt oft die Bühnenpräsenz und sie neigen dazu, nachzudenken, als unmittelbar zu reagieren. Hier gilt es, den Schülern Vertrauen in die eigenen physischen und emotionalen Assoziationen zu geben.
Diese drei Beispiele sind natürlich Idealtypen, und in der Wirklichkeit mischen sich diese Talente. Als Lehrer hat man letztlich nur die Möglichkeit, Türen zu öffnen. Hindurchgehen müssen die Schüler schon selbst. Das bedeutet aber auch, dass sie, wenn sie ihr Talent nutzen wollen, bereit sein müssen, sich zu verändern. Diese Veränderung ist oft mühsam und bisweilen schmerzhaft. Wer etwa Scheitern mit extrem negativen Emotionen verknüpft, wird etwas länger brauchen, um zu erkennen, dass der neue Weg auch mit Scheitern und manchmal sogar mit Frustration verknüpft ist.
Aber wie hoch diese Bereitschaft des Schülers zur Veränderung, das heißt zur Entfaltung seiner Talente ist, lässt sich zu Beginn nicht sagen. Ich habe Anfänger erlebt, die gleich von der ersten Stunde an recht unterhaltsam spielten, aber letztlich nie wirklich weitergekommen sind, weil sie mit sich selbst zufrieden waren. Und ich habe schüchterne „zerzauste Küken“ erlebt, die sich zu wahren Impro-Schwanenkönigen entwickelten.
Abschließend möchte ich noch hinzufügen, dass in einem Impro-Kurs natürlich niemand verpflichtet ist, sich zu einem ausgereiften Impro-Schauspieler zu entwickeln. Wenn die Motivation lediglich darin besteht, einmal pro Woche einen spielerischen Abend mit Gleichgesinnten zu verbringen, ist das völlig legitim.
(Ende der ausführlichen Antwort.)