(Der folgende Text ist ein Auszug aus dem Buch Improvisationstheater. Band 2: Schauspiel-Improvisation)


Konzeptionelle Zugriffe, zum Beispiel auf Sprache, Psychologie und szenische Notwendigkeit eines Prototyps, verlaufen über den präfrontalen Cortex, also denjenigen Bereich des Gehirns, der für rationales Abwägen zuständig ist.
Der Zugriff auf die Körperlichkeit ist für den Spieler der effektivste und der überraschendste Weg, einen Charakter spontan zu entwickeln. Auf unseren Körper und seine sensorischen Signale und emotionalen Kopplungen, die in der Amygdala verarbeitet werden, können wir viel unmittelbarer zugreifen. (Die Amygdala arbeitet um ein Vielfaches schneller als das Großhirn. Ihre Botschaften werden auch schneller ans Großhirn gesendet als umgekehrt. Das heißt für uns: Unserem Körper wird von selber klar, was gerade los ist, und zwar noch bevor das Großhirn eine Beschreibung oder einen Namen dafür gefunden hat.)
Unsere Körperlichkeit kann in einer Szene eine Eigendynamik entfalten, die uns selbst überrascht, die uns in diesen immer wieder gesuchten Prozess des Flows führt, in dem wir einfach das tun, was offensichtlich ist, ohne unser Hirn mit Konzepten zu irgendwelchen Charakteren zu verknoten oder uns von Strukturen gefangen nehmen zu lassen.

Ein Körperteil führt
Hast du schon mal einen dieser hektischen Menschen gesehen, die, sobald sie irgendwo hingehen, mit dem Kopf eigentlich schon da sind? Nicht nur mit den Gedanken, sondern es wirkt, als befinde sich ihre Stirn einen halben Meter vor ihrem Bauch. Weibliche Models hingegen schreiten auf dem Laufsteg mit einem kleinen Stoß des Beckens. Türsteher wiederum scheinen ihre ruhigen Bewegungs-Impulse vom Brustkorb zu bekommen.
Diese Bewegungs-Qualitäten haben einen ungeheuren Effekt, der auch dann noch wirkt, wenn er nur subtil angedeutet wird. Die Bewegungsqualität, die dadurch entsteht, dass sie von einem Körperteil ausgeht, verändert auch die Art, wie man atmet, was leicht einzusehen ist: Ein Bodybuilder atmet anders als ein Model. Das veränderte Atmen hat – wir haben es schon bei der Tier-Inspiration gesehen – einen Einfluss auf die grundlegenden Emotionen und darauf, wie man die Welt wahrnimmt (Diese emotionalen Impulse des Atems sind nun zunächst Impulse an den Spieler, und wir brauchen eine spielerische Haltung, um nicht von ihr weggetragen zu werden.)
Bekannte Beispiele für diese Art von Schauspiel :
•  Sharon Stone in „Basic Instinct“ – Hals
•  Jimmy Stewart in „Vertigo“ – Knie
•  Tom Hanks in „Forrest Gump“ – Brustkorb
Das Auffälligste, ist natürlich zunächst die Körperlichkeit, aber ein Typ wie Forrest Gump wird eben nicht nur durch seine kuriose Körperhaltung seltsam, sondern auch dadurch, wie diese steife Brust-raus-Körperhaltung eben alles andere beeinflusst – seine Sprache, seinen Status und nicht zuletzt vermittelt sie eindringlich die übergroße Anstrengung, die dieser eingeschränkte Mann unternimmt, um unter seinen Mitmenschen respektiert zu werden.

Übung Körperteil führt

Körper lockern.
Raum-Lauf. Fokus auf Atem und das Gehen.
Wähle einen Körperteil, der „führt“.
Nutze den gesamten Raum – alle drei Dimensionen.
Lass dich überraschen, in welche ungewohnten Bewegungen dich dieser Körperteil führt.
Es geht bei dieser Übung noch nicht um Charaktere, sondern um das radikale Ausloten von Bewegungsqualitäten.

Übung Vortrag mit führendem Körperteil

Kleine Lockerung.
Wähle einen Körperteil, der führt, und mime eine kurze Handlung. Achte dabei auf deinen Atem.
Dem Atem folgt die Stimme.
Halte einen physisch lebendigen Vortrag über ein beliebiges Thema.
Der Körper folgt dem Körperteil. Der Atem folgt dem Körper. Stimme und Geisteshaltung folgen dem Atem. Der Inhalt folgt der Geisteshaltung, wenn wir sie verstärken.

Wie können wir das nun auf der Bühne praktisch einsetzen? Zunächst ist es eigentlich immer ein guter Impuls, körperlich zu beginnen. Ganz besonders aber ist das angeraten, wenn man merkt, dass man zu verkopft wird, wenn man anfängt, in Kategorien von Richtig/Falsch oder Gut/Schlecht zu denken.

In einer improvisierten Szene, in der Gina die Bühne mit großen ruhigen Bewegungen ausfüllte, betrat Heike das Bild als kleine, herumfingerndes Mädchen, das die ältere Schwester nervt. Die Szene war komisch, und beide Spielerinnen hatten großen Spaß dabei.
Heike sagte später: „Nachdem ich mich beim Nachdenken über einen möglichen Character ertappt hatte, verließ ich mich auf meinen Körper und ging ins physisch geleitetes Gegenteil. Da mir Ginas Figur Oberarm-gesteuert erschien, folgte ich einfach dem Impuls ,Zeigefinger‘“.

Man sei im Übrigen nicht wählerisch, was den Körperteil angeht. Nimm einfach irgendeinen. Entscheidend ist, dass du mit ihm spielst, dich von ihm überraschen lässt und ihm einen Großteil der Kontrolle der Szene überlässt.

 

Entwicklung des Characters aus der Körperlichkeit – Beispiel: Körperteil führt
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