Don’t explain everything

„When you make a film, you have to satisfy the audience to a certain extend. But you always have to leave them with a little appetite for more. If they are stuffed with what you gave them, they forget about it immediately. It happens on two levels: In a case (like Chinatown) when you deal with solving a mystery of corruption, when you deal with evil, you have to call it a tragedy, and therefore you can’t end it with happy ending. The other thing is you mustn’t tell too much. You have to leave the audience with the feeling that they didn’t understand everything. This type of films today try to explain absolutely everything. And there is nothing left really. Everythings seems already, done, told, boring in fact in the end.“

Das Foxy Freestyle Sommer-Experiment

Ein Ensemble-Mitglied auf Dienst- und Urlaubsreisen, das andere Neu-Mutter.
Statt nun selber 5 Monate Spielpause einzulegen, beschlossen Stefanie Winny und ich, aus der Not eine Tugend zu machen. Wir fragten uns: Welche Formate und Genres wollten wir schon immer mal ausprobieren? Mit welche Berliner Improvisierern würden wir gern auftreten und proben?
Der Clou dabei: Zu jeder Show gibt es nur eine 3stündige Probe, wobei jeder Spieler natürlich seine Hausaufgaben erledigen muss und sich mit den Genres beschäftigen.
Zwischenstand:
Die erste Show am 1. Juli war das von uns selbst entwickelte Format „Strangers in the night“, das wir bereits vor einem Jahr zu zweit gespielt hatten. Diesmal allerdings erstmals über beide Hälften einer kompletten Show. Überraschend schön, wie man nahe am Sentiment improvisieren kann. Neben viel Lachen auch die guten Momente, in denen man das Publikum vor Rührung schlucken hören kann. Und erstmals ergab sich bei diesem Format ein Happy End.
Der Vorschlag „Bollywood“ kam von Steffi. Ich hatte noch nie einen kompletten Bollywood-Film gesehen und mir nun „Mother India“, „Lagaan“ und einige Youtube-Clips angetan, sowie ein paar Artikel zum Thema gelesen. Es blieb exotisches Territorium. Trotz einiger Befürchtungen lief die Probe für die Bollywood-Show phantastisch. Unsere Gäste waren Uta-Maria Walter von Praxis Dr. Patschke und die Dichterin Christina Schneider, die erst vor einem Jahr mit Improvisieren begann, deren Stil uns aber neugierig gemacht hat. Das Gefühl „Wir haben nichts zu verlieren“ ließ sich allerdings nicht so leicht in die Show mitnehmen. Wie so oft war es nicht so sehr die Story, wie einige Zuschauer vermuteten (Zuschauer glauben immer, es läge an der Story), sondern an einer gewissen Zögerlichkeit, an der Überwältigung vom musikalischen Material, der Furcht, Erwartungen nicht erfüllen zu können und einigen Missverständnissen. In der Pause beschlossen wir, das Format nicht durchzuziehen, sondern lediglich das Ende zu spielen und dann zu einer einfachen Langform zu wechseln. Nach der Show lobte uns das Publikum trotzdem. Und es zeigte sich wieder einmal, dass einem die eigenen Ansprüche oft im Weg stehen. Auch der Video-Mitschnitt zeigt uns eine Menge schöner Szenen, die zwar nicht an die Szenen aus der freigespielten Probe heranreichen, aber dennoch lustig und sehenswert waren.
Bollywood war auf seine Weise schwer, aber nun ging es an Shakespeare. Was macht eigentlich den Stil von Shakespeare aus? Wie geht er eine Tragödie an, wie eine Komödie? Ich erstellte eine Liste der Stücke, die ich gelesen oder gesehen hatte: Macbeth, Hamlet, Romeo und Julia, Richard III., Der Sturm, Maß für Maß, Sommernachtstraum. Ansatzweise wusste ich bescheid über Lear und Othello. Also nur eine Komödie, wenn man das Problemstück „Maß für Maß“ nicht mitzählt. Also noch „Der Widerspenstigen Zähmung“ und „Viel Lärm um Nichts“ hinzugenommen, damit wir uns nicht zu sehr auf Zwillings- und Verwechslungs-Firlefanz einlassen müssten, der mit vier Schauspielern nur schwer zu bewältigen wäre. Hilfreich war auch eine kleine Merkliste von Herrn Hauswirth zu einem Impro-Shakespeare-Workshop mit Randy Dixon. Zum Hausaufgaben-Repertoire gehörte für mich: Pentameter-Sprechen, Natur-Metaphern improvisieren, im Geiste Listen erstellen von Shakespearschen komödiantischen Mitteln, Handlungs-Orten, Figuren usw.
Die Probe mit Uta-Maria Walter und Thomas Jäkel vom Portal Impro-News und den Changeroos machte Mut.
In beiden Proben ließen wir klassische Warm Ups einfach weg. Stattdessen begannen wir mit Brainstorming zu genre-typischen Elementen, die uns faszinieren. Wir assoziierten Szenen, die wir im nächsten Schritt auch einfach anspielten. Es folgten Monologe, aus denen sich Szenen entwickelten. Wir entdeckten, dass Shakespeare uns plot- und impro-technisch eine Menge Hilfsmittel in die Hand gab: Jeder folgende Schritt wird lang und breit angekündigt. Und schließlich fanden wir in der kurzen Probenzeit sogar die Möglichkeit, je eine viertelstündige Komödie und eine Tragödie anzuspielen.
Die Show war für mich eine der besten, die ich in den letzten Jahren gespielt habe: Geistig fordernd, niemand spielte unter seinen Fähigkeiten, alle gaben ihr Bestes, jeder Schritt ging Hand in Hand, wir haben das Genre ziemlich gut gemeistert, das Publikum (wo kamen die eigentlich alle her bei dieser Jahreszeit?) ging gut mit. Nach der Show sprach ich mit einem sehr jungen Pärchen Erstbesucher, die begeistert waren – für mich ein Beleg dafür, dass es nicht nötig ist, „unerfahrene“ Impro-Zuschauer unbedingt erst mit Games an Impro-Theater heranzuführen.
Wir fragten uns vor der Show: Wie wollen wir die Musik einbauen? Passt Musik überhaupt zu einem Shakespeare-Stück? Noch in der Probe haderten wir ein wenig mit dieser Frage. Wir einigten uns auf den Kompromiss, dass die Musik zwischen den Szenen erklingen sollte. Die Show begann, die erste Szene lief. Fee Stracke spielte, und es war großartig! Kein auf Renaissance getrimmtes Pseudo-Mittelalter, keine Film-Musik, sondern seltsam-modern und doch nie gewollt, sondern stets passend klingende Theatermusik.
(Wird fortgesetzt.)

16.Juni – Impro nach Metronom

16. Juni 2011

Nachdem er die Shows des vorangegangenen Abends sah, kommt Paul auf den Gedanken, sein Konzept zu verändern und unseren Rhythmus zu trainieren. Von nun an hören wir den ganzen Tag über ein Metronom (iPhone) über die Lautsprecher, währenddessen uns Paul kommandiert: Stop, Public, Action usw. Ich weiß nicht, ob dieses Training wirklich jemandem etwas bringt. Mir scheint der ganze Ansatz fraglich. Zu wenig kann man sich auf den Rhythmus einlassen, zu viel wird von Paul kommandiert. Wer seine Contenance verliert (z.B. lacht), muss in die Ecke.
So sinnvoll es im Einzelnen sein mag, sich bestimmter Angewohnheiten auch mal durch krasse Methoden austreiben zu lassen: Hier haben wir kaum Platz zum Ausprobieren. Jede Kleinigkeit wird sanktioniert oder gar kommandiert. Die Improvisation, das Kreative geht verloren.

Am Abend die "Translation Show", eine schöne Erfindung. Im ersten Teil spielt eine Hälfte des Festival-Ensembles so, dass jeder in seiner Muttersprache spricht. In der zweiten Hälfte jeder "in seiner schlechtesten Sprache". Schon im letzten Jahr war es so, dass die zweite Hälfte besser lief, da man auf Reduktion angewiesen war.
Den Clown und Lehrer Paul im ersten Teil mit ins Boot zu nehmen, stellt sich auch als zweischneidig heraus: Er spielt auf Gags und zieht andauernd den Fokus. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als seine Angebote zu verstärken und sie zu überakzeptieren oder ihn praktisch wegzuschicken.

*

Nachdem Mansûr der Dame des Hauses erklärt, dass er ein Tischgenosse Harûn er-Raschîds sei, öffnet sie sich ihm und berichtet von ihrem Verlust: Dschubair ibn Umair esch-Schaibâni, der Emir der Banu Schaibân, hat sie verlassen.

Der Grund war dieser: Eines Tages saß ich da, und meine Sklavin kämmte mir die Haare. Als sie mit dem Kämmen fertig war, flocht sie mir die Zöpfe; und da meine Schönheit und Anmut sie berückten, beugte sie sich über mich und küsste mir die Wange. In dem Augenblick trat er unversehens ein, und als er sah, dass die Sklavin meine Wange küsste, wandte er mir von Stund an zornig den Rücken, entschlossen, mich ewig zu meiden, und sprach diese beiden Verse beim Scheiden:

Soll ich mich in die Liebe mit einem andern teilen,
So lasse ich mein Lieb und leb für mich allein.
In dem geliebten Wesen, das anders in der Liebe
Als der Geliebte will, kann doch nichts Gutes sein.

Sie bittet Mansûr nun, ihren Geliebten aufzusuchen und ihm einen gedichteten Brief zu überbringen. Mansûr stimmt zu, und als er bei Dschubair eintrifft, ist dieser gerade auf Jagd.

Die Jagd des Sultans von Basra scheint inzwischen völlig vergessen.

Als Dschubair zurückkehrt, empfängt er Mansûr wie einen hohen Gast. Er

ließ mich auf seinem eigenen Pfühl ruhen und befahl, den Speisetisch zu bringen. Da brachte man mir einen Tisch aus chorassanischem Chalandsch-Holze mit goldenen Füßen, auf dem sich allerlei Speisen befanden.

328. Nacht – 14.6.2011 – Falling With Grace

Auf dem empfehlenswertenBlog von Andrew Hammel finde ich einen Vergleich verschiedener Indikatoren zwischen Deutschland und den USA, der einem die Entscheidung erleichtern könnte, ob sich das Leben im jeweils anderen Land lohnt.

Mir fällt die Wahl doch überraschend leicht. (Mehr Ländervergleiche hier.)

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14.6.2011

Der Clown Paul de Bene übernimmt den Workshop, und ich gebe mir Mühe, mich auf das Thema einzulassen. "Walking is falling with grace." Silly walks ohne zu Grimassieren ist vielleicht das Beste in den sechs Stunden. Ansonsten doch viel Gerede über Dinge, die man schon weiß, und am Ende gar 1 Stunde Freeze Tags, was wohl ein bisschen wenig ist, wenn man die lange Reise und die Kosten für diese Workshops bedenkt.

Am Abend die erste Show. Wir werden in Trios zusammengewürfelt und haben jeweils ca. 7 Minuten Zeit. Das Thema Narr kann, muss aber nicht berührt werden. Ich spiele mit Devin und Laurel. Nach vier eher ruhigen Szenen scheint der Publikumsvorschlag "Tornado" wie eine Aufforderung, nun endlich mal Stoff zu geben. Die Szene fassen wir dann schön surreal auf.

 

*

Bevor er Masrûr den Kopf abschlagen lässt, sendet er ihn doch lieber zur Tür, vor der

Ali ibn Mansûr, der Schalk aus Damaskus

wartet. Diesem befiehlt er, eine erlebte Geschichte zu erzählen, und Mansûr beginnt:

Der Sultan von Basra befahl Mansûr einmal, mit ihm auf Jagd zu gehen, und da er das erste Mal in Bagdad weilte, ging Mansûr auf einen Spaziergang durch die Stadt.

Kenner ahnen, was solchen Spaziergängern in den 1001 Nächten in der Regel widerfährt: Er trifft auf ein Haus mit einem zu Spielchen bereiten Mädchen.

Und richtig: Aus einem schönen Haus dringt die Gesangsstimme einer schönen Maid,

die erstrahlte wie der Mond, wenn er in der vierzehnten Nacht am Himmel thront; sie hatte zusammengewachsene Brauen und Augen, die versonnen schauen; ihre Brüste waren wie zwei Granatäpfel gepaart, ihre Lippen wie zwei Chrysanthemen zart; ihr Mund schien Salomos Siegel zu sein, und ihrer Zähne Reihn raubten Sängern und Erzählern den Verstand, so wie ein Dichter für sie Worte fand. (…)

Mansûr dringt in das Haus mit der Entschuldigung ein, er habe Durst.

Happiness in improv

What are we doing in improv shows?
„Are we making happy people happier?“ (Randy Dixon)
R.D. spricht hier an, dass wir meist die immerselbe Form des Lachen bedienen. Allerdings spricht meines Erachtens auch nichts dafür, irgendwelche Zuschauer unglücklich zu machen. Vielleicht ist „happiness“ das falsche Wort.
Auch am Schrecken kann man ästhetisches Vergnügen empfinden, oder an der neu erscheinenden Wahrheit usw. usf.
All das könnte Improtheater erreichen. Aber zu 90% erleben wir das Lachen über flinke Gags oder bestenfalls über Spontaneität per se.

14. Juni – Narren auf dem Baseball-Feld

Bin mir nicht sicher, wie das Thema "Fool" letztendlich aufzufassen ist. Randy will im Laufe der Woche verschiedene Dimensionen des Themas herausarbeiten. Aber in den Diskussionen scheint Begriffsverwirrung zu herrschen: Sprechen wir über tatsächliche Narren des Hofs oder über ihre Idealisierung in den Stücken Shakespeares?
Bisher sprechen wir viel über eine Art kathartische Funktion des Narren. Mir kommt indessen eher die Beschreibung des Narren bei Stephen Nachmanovitch ins Gedächtnis: Das freie, ungebändigte, teilweise gefährliche Spiel. Teilweise scheinen wir dieses Grund-Element unbewusst im Gepäck zu führen, andererseits geht es mir fast ein wenig unter. Ob in der Narrheit – dem freien Spiel mit gegebenen Elementen – Weisheit steckt, hängt vom Narren und seinem Gegenüber (bei Shakespeare z.B. Lear, bei uns dem Publikum) ab.

Um Zeit für eine kleine Stadtführung mit Randy und den Besuch eines Baseballspiels der Mariners zu haben, verkürzen wir den Workshop auf 15 Uhr.

 

Ich gebe mir größte Mühe, die Regeln des Baseball zu verstehen, komme aber über ein paar Grundlagen nicht hinaus. Die an unserer Seite sitzende Amerikanerin ist nett, aber keine gute Erklärerin. Aber hier oben auf der Tribüne ist die Begeisterung für dieses langsame Spiel, bei dem alle 5 Minuten mal jemand 50 Meter rennt und ab und an mal jemand einen Ball fängt, ohnehin mäßig. Ob die gute Laune sich aus dem ungesunden Essen speist, bliebt unklar. Dennoch jubeln wir mit, wenn die hoffnungslos unterlegenen Mariners mal einen Punkt (heißt das Punkt?) bekommen.
Seit unserer Ankunft in New Orleans frieren wir an den klimatisierten Orten. In Seattle ist es kühl, ich halte es irgendwann nicht mal mehr mit Jacke aus, während Mario unbeeindruckt sich noch im T-Shirt amüsiert.

*

BLINK – Kapitel 6: Seven Seconds in the Bronx: The Delicate Art of Mind Reading

Gladwell geht aus vom Fall Amadou Diallo, einem jungen schwarzen Mann in der Bronx, der Ende der 90er aufgrund eines Missverständnisses von Polizisten erschossen wurde. Das Urteil war schnell klar: Die Polizei ist rassistisch vorbelastet. Aber der eigentliche Grund bestand darin, dass es im Umgang mit brenzligen Situationen keine Deeskalations-Strategien gab: Räumliche Distanzen müssen erweitert und Kommunikation ermöglicht werden. Die Darstellung von Polizisten in Filmen wie Dirty Harry, die cool den Schurken umlegen und sich dann eine Zigarette anstecken, ist durch die Realität nicht belegt. Der Puls steigt auf bis zu 165 Schläge pro Sekunde, eine Frequenz, die es unmöglich macht, klar zu denken. Der Adrenalin-Überschuss steigt.
Gladwell bezeichnet diesen Zustand als

temporary autism

Das ist eigentlich auch für die Autismus-Forschung interessant. Sollte man im Umgang mit Autisten einfach das Tempo rausnehmen?

Kapitel 7: Listening with your Ears. The Lessons of Blink.

Selbst Profi-Musiker wie Sergiu Celibidache ließen sich lange Zeit durch ihre Augen täuschen und hielten trotz geschulten Ohres Frauen für unfähig bestimmte Instrumente wie Posaune überhaupt spielen zu können. Erst durch einen zufälligen Blindtest kam eine Frau – Abbie Conant – in die Münchner Philharmonie.

Und was machen wir aus alledem? Man fühlt sich manchmal aufs Glatteis geführt. Wann ist Blink-Denken von Vorteil, wann vertrauen wir zu sehr unseren Instinkten? Am Ende geht vieles leider im anekdotenhaften Stil von Gladwell unter. Gründliches Lesen und Herauspicken der Rosinen notwendig. Das Thema ist es wert.

13. Juni – getting foolish

Beginn des Workshops zum Thema "The Fool". Starten ein kleines Gruppen-Warm-Up unter eigener Regie. Sofort gute Stimmung in der 28köpfigen Truppe: USA, Kanada, Mexiko, Niederlande, Slowenien, Österreich/Australien, Japan, Deutschland.

Randy Dixon leitet die ersten beiden Tage. Sein Grund-Impuls für diesen Workshop hatte er in einem Shakespeare-Workshop, als die Frage nach der Funktion des Narren aufkam:

Hat das Improtheater seine Relevanz verloren. Second City jedenfalls hat jeglichen politischen Impuls abgestreift. Das Committee gründete sich während des Protests gegen den Vietnamkrieg.

Mein Einwand: Relevanz muss nicht politisch sein.

Weiter Randy Dixon: Der Narr zu sein bedeutet nicht, närrisch zu sein.

Das ist natürlich erst mal eine steile These, die sich vielleicht zu sehr aus der Perspektive auf den Shakespeareschen Narren ergibt. Denn bei Shakespeare gibt es kaum komplette Idioten.

Der Inhalt kann durchaus raffiniert werden.
Rede von Robert Falls: Über den Narren

Del Close: Das Ziel ist, dass die Zuschauer vor Lachen sterben. Erst dann können sie wieder heilen.

Wir reden davon, jemand habe Witz oder Humor. But there are four humours and five wits.

Ronald McDonald ist kein Narr, denn ein Narr muss auch das Potential zum Beleidigen haben.

Wir testen Szenen:

1. Zwei Personen und ein Narr, der der Ratgeber des einen ist und für den anderen unsichtbar.

 

2. Zwei Personen, die einen normalen Dialog führen und dabei Narrenkappen tragen.

3. Eine normale Szene mit zwei Personen, die Narrenkappe liegt auf der Bühne.

4. Eine normale Szene mit zwei Personen. Wir als Zuschauer stellen uns vor, die Narrenkappe läge auf der Bühne.

5. Fünf Narren. (Eine furchtbare Szene.) und als Gegensatz:

6. Vier normale Personen und ein Narr. –> Der Narr braucht immer einen normalen Gegenpart. Fünf Narren sind einfach nur fünf Arschlöcher.

*

BLINK Sechstes Kapitel: Kenna’s Dilemma

Dieses Kapitel ist benannt nach dem Musiker Kenna, der von Mitmusikern und Produzenten hochgelobt wurde. Ebenso von Zuschauern, die ihn im Live-Programm von U2 sahen. Aber im Radio und bei CD-Verkäufen fiel er durch. Der Grund: Es ist zu speziell.
Experten-Kennerschaft lässt sich nicht immer in unmittelbaren Allgemeingeschmack übertragen, vor allem, wenn die Dinge ungewohnt sind.
Weitere Beispiele:
– Der Pepsi-Test: In den 80er Jahren schnitt Pepsi beim unmittelbaren Vergleich gegen Coca Cola auf der Straße immer besser ab, was sich aber nur kurzfristig in Verkaufszahlen widerspiegelte. Der Grund: Ein paar Schlucke unterwegs trinken sich anders als zwei Dosen vor dem Fernseher.
– Margarine hatte vor dem 2. Weltkrieg einen überaus schlechten Ruf. Erst als sie entsprechend verpackt wurde und ihr ein bisschen buttriges Gelb hinzugemischt wurde, begann ihr Siegeszug.
– Herman Miller entwarf in den 90ern einen der modernsten Bürostühle seiner Zeit. Er war ergonomisch gestaltet und bequem zum Sitzen, aber er wirkte wie eine furchtbar instabile Drahtkonstruktion. Erst über den Umweg von Designer-Zeitschriften, dem Nebenbei-Auftauchen des Stuhls in Werbefilmchen (für andere Produkte).
Das Problem ist, dass das Ungewohnte für den Laien zunächst oft als hässlich erscheint.

Das ist natürlich auch in der Kunst ein immer wiederkehrendes Problem:

The problem is that buried among the things we hate is a class of products that are in that category only because they are weird. They make us nervous. They are sufficiently different that it takes us some time to understand that we actually like them.

Experten haben eine Sprache für ihren Geschmack entwickelt, am besten an Weinkennern erkennbar, der uns Laien fehlt.

USA 12. Juni 2011 – Sittin on the dock of the bay

Starten unseren Aufenthalt in Seattle entspannt mit einem Tag am Ufer.
Später ins Theater, um den Schluss des Improvathons zu sehen. Die Schauspieler am Ende ihrer Kräfte. Tony Beeman dazu: "Nach 36 Stunden hat man jeden Willen, eine Szene zu beeinflussen, aufgegeben. Man wird zum perfekten Improspieler."

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BLINK – Kapitel 4 – Paul Van Riper’s Big Victory

Das Kapitel ist benannt nach einem Vietnam-Veteranen, der Ende der 90er Jahre gebeten wurde, bei einem Kriegsspiel des Pentagon mitzuhelfen. Ein "fiktiver" arabischer Diktator sollte mit den höchsten technischen Mitteln der USA ausgeschaltet werden, während Van Riper als Gegenspieler auf die Angriffe unkonventionell zu reagieren hatte. Van Riper gewann, indem er die Pläne, die Technik und die hochausgefeilten Strategien der Angreifer permanent unterlief. Das Ergebnis dieses Spiels hätte die USA eigentlich von einem Angriff auf den Irak abhalten müssen; aber widersinnigerweise investierten sie in noch mehr Technik, Kommunikationshierarchien und Worthülsen.

"I told our staff that we would use none of the terminology that Blue Team was using. I never wanted to hear that word "effects", except in a normal conversation. I didn’t want to hear Operational Net Assessment."

Kurz reißt Gladwell die Struktur für Spontaneität im Improvisationstheater an: Dass Improtheater nicht bedeutet, irgendwas zu machen, sondern auf Akzeptieren und Verstärken beruht.

Eines der herausragenden Beispiele beschreibt Gladwell im Fall des Chicagoer Arztes Brendan Reilly, der zum Chef eines heruntergekommenen Krankenhauses wurde und sich mit folgendem Problem konfrontiert sah: Wegen der mangelnden Krankenversicherungen, kamen fast alle Patienten über die Notaufnahme. In der Nothierarchie standen Patienten mit Verdacht auf Herzinfarkt sehr weit oben. Gerade hier gibt es aber eine hohe Fehlerquote: Gesunde Patienten werden tagelang in Betten gehalten (aus Angst verklagt zu werden, falls doch was schiefläuft), Risikopatienten werden nach Hause geschickt. Er kam darauf, dass das Problem der Ärzte nicht in einem Zuwenig an Information bestand, sondern paradoxerweise in einem Zuviel. Er reduzierte (gegen den Willen der Ärzte) die Indikatoren auf Drei: 1) Akute Herzmuskel-Schmerzen, 2) Flüssigkeit in der Lunge, 3) systolischer Blutdruck unter 100. Die Diagnosen wurden auf beiden Seiten um ca. 70% besser. Der Grund: Indikatoren wie Alter oder Rauchen spielen zwar statistisch im Leben des Patienten eine Rolle, nicht aber (bzw. unwesentlich) bei der akuten Situation.

Es gibt also Umstände, in denen uns die Menge der Informationen überfordert oder gar in eine falsche Richtung lotst. Ein für mich auch nachvollziehbares Beispiel ist eine Marktforschungsstudie für Marmeladen, die Gladwell zitiert. Bei der Test-Einführung einer neuen Produkt-Serie in einem Supermarkt in Kalifornien wurden sechs Gläser ausgestellt. kauften 30 Prozent der Käufer, die kurz anhielten, entschlossen sich zum Kauf. Als die Auswahl auf 24 erhöht wurde, kauften nur drei Prozent. Der Grund: Käufe wie diese sind Schnellschuss-Entscheidungen.

Genau das passiert beim Buchverkauf beim Kantinenlesen: Je größer die Auswahl der Bücher, umso weniger wird absolut gekauft.

11. Juni 2011 – Behinderte gehen weiter

Noch einmal ins Frühstücks-Café Lil‘ Dizzy, das anscheinend nach Dizzy Gillespie benannt wurde. Zucker, Salz und Fett – so finden es die Amis nett.

Die Abreise gestaltet sich ähnlich aufregend wie die Anreise: Greg, der Fahrer fehlt. Der Chef verliert die Ruhe nicht – er habe die Karre des Fahrers bereits draußen erspäht, und der sei ja erst fünf Minuten über der Zeit. Gut gelaunt taucht Greg auf. Die Bitte, das Hostel im Internet gut zu bewerten, wird er auf der Fahrt noch drei Mal wiederholen. Auf der Fahrt schildert er uns seine wirtschaftliche Lage. Neben dem Fahrer-Job müsse er noch auf dem Friedhof arbeiten und außerdem seiner Mutter im Haushalt helfen. Aber man wisse ja, wie das mit der Familie ist – die zahlten einem nichts. Um seine lockere Art, das Lenkrad zu bewegen nicht noch zu verschärfen, verkneifen wir uns Nachfragen zu seiner offenbar angespannten Familiensituation. Zu früh am Flughafen, was aber die Entspanntheit des reisenden Pärchens eher fördert.

Kindheitserinnerung beim Hören des Lieds „Rehab“ von Amy Winehouse: 1980, im Ferienlager in Bad Saarow, wohnten in den Nachbar-Bungalows die „Rehabilitanten“, von denen es hieß, sie kurierten irgendwelche Behinderungen aus. Die Art der Behinderungen versuchten wir im Laufe der 14 Tage meist vergeblich zu erspähen. Von einem erfuhr ich, er habe einen Hüftschaden, was man leider auch nicht ohne weiteres erkennen konnte, allerdings glaubte ich, dass sein geflochtener Gürtel, der sich in mein optisches Gedächtnis bis heute eingeprägt hat, etwas damit zu tun hatte. Wie die meisten Ferienlager, so war auch das in Bad Saarow sehr vom Tischtennis geprägt. Natürlich „chinesisch“, sobald mehr als vier Mitspieler beteiligt waren. Für den Fall, dass man den Ball nicht erreichen konnte, weil einem jemand im Weg gestanden hatte, galt die Regel „Behinderte gehen weiter“, die man sich allerdings nicht auszusprechen traute, wenn ein Rehabilitant mitspielte. Wir fragten uns sogar insgeheim, ob man sie nicht fairerweise immer weitergehen lassen müsste.

Ankunft in Seattle. Für Juni recht frisch. Die Umstellung von New Orleans enorm. Vom Flughafen mit Gepäck acht Minuten zur Bahn latschen. Schlimmer als in Schönefeld.
Green Tortoise Hostel. Schwierigkeiten bei der Raumzuteilung, Missverständnis bei der Buchung durch Unexpected Productions. Steffi kommt in ein Sechserzimmer, aus dem sie spät nachts von der Nachtwache und sechs Dänen verscheucht wird; man weist ihr eine andere Koje zu. Mir sagt Randy zu, sich zu kümmern. Ich nehm’s leicht. Ein Festival ist eben schwierig zu organisieren.
Zum Market Theater. Dort läuft seit Freitag der „Improvathon“ – ein 50stündiger Improtheater-Marathon zugunsten der Renovierung des Theaters. Am Ende dieses Marathons haben einige über 40 Stunden Impro in den Knochen – Tony Beeman etwa 42 Stunden, und in der Zeit maximal 2 Stunden Schlafunterbrechung. Wir begrüßen die ersten bekannten Gesichter. So wie im letzten Jahr gehen wir mit Masako erst mal Burger essen.
Impro-Format Playborhood (für 6 – 12 Spieler): Eine Nachbarschaft mit drei Häusern. Auf der Bühne räumlich getrennt. (Das Market Theater wie dafür geschaffen.) In jedem Haus dominiert ein Stil oder Genre. Wir werden in die Familien eingeführt, deren Charaktere später aufeinandertreffen. Recht gut umgesetzt. Erste Impro-Inspiration.
Die Lösung für mein Übernachtungs-Problem – ein Nobel-Hotel. Ich bin’s zufrieden.

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BLINK – Kapitel 3 The Warren Harding Error

Dieses Kapitel beschreibt die düsteren Seiten des „Thin Slicing“ – mit dem prominenten Beispiel des von vornherein präsidial wirkenden Republikaners Warren Harding, der sich schließlich als einer der schlechtesten US-Präsidenten aller Zeiten entpuppte.
Auf http://www.implicit.harvard.edu findet man den Impliziten Assoziations-Test (IAT), der zeigt, wie klischeehaft unser Hirn arbeitet, wenn es schnell arbeiten muss. So assoziieren wir Familie eher mit Frauen und Karriere eher mit Männern; und noch beunruhigender: Weiße eher mit Gutem, Schwarze eher mit Bösem.

Der Test funktioniert wohl auch, wenn ihn Schwarze und Feministinnen durchspielen.

Den Schnell-Assoziations-Fehler begehen auch Verkäufer, die ihre Kundschaft zu schnell in kaufkräftig vs. uninteressiert einteilen.

 

Genre Quickfix

Frage auf dem Festival Randy Dixon, wie er ein neues Genre angeht. Er meint, das Erste, was er tut, sei, das Kinderlied „Humpty Dumpty“ auf das Genre zu übertragen. (Fürs Deutsche wäre die Entsprechung wohl „Hänschen klein“)
Wie würde ein Western oder Tennessee Williams diese Geschichte erzählen?
Damit hat man zwar noch keine sprachlichen Mittel, keine Bilder usw. aber immerhin schon eine Perspektive aufs Storytelling.

10. Juni – In den Swamps

10. Juni 2011
Swamps-Tour. Man holt uns vom Restaurant "Huck Finn’s" ab, wo uns wie üblich freundlich fettes, süßes Frühstück serviert wird.
Fahrt durch die Außenbezirke von New Orleans, die es ordentlich erwischt hat. Ein Teil der gigantischen Brücke ist im Stausee gelandet. Und es scheint sich jeder damit abgefunden zu haben, dass die 20 Prozent, die die Stadt nach Katrina verlassen haben, nicht mehr zurückkommen werden.
Die Busse werden auf sechs verschiedene Bootsführer aufgeteilt. Captain Bishop, ein Redneck Mitte Dreißig, nimmt uns in Empfang und lotst uns zu seinem Boot, das im Gegensatz zu den anderen kein Dach hat, was die Farbe seiner Haut erklärt. Deadpan. Um jede seiner Ironien zu verstehen, bräuchte ich ein besseres Sprachgefühl. Er führt uns zu verschiedenen Stellen, an denen er Alligatoren vermutet, und die er, wenn er sie entdeckt, mit Namen ruft.

Ich frage ihn, woran man die männlichen von den weiblichen unterscheidet. Er darauf, die Weibchen seien besonders heimtückisch, sie locken einen an, und dann quetschen sie einen aus. Bleibe ratlos. Eine Minute später sagt er, man könne sie nicht voneinander unterscheiden, es sei denn, man würde mit der Hand in der Kloake nachtasten.
Ein Exemplar der Louisianazypresse. Der Baum, dessen Holz besonders widerstandsfähig gegen Wasser, Parasiten und Schimmel sei, ist inzwischen so gut wie ausgerottet.
Die Alligatoren ausgesprochen zutraulich. Reagieren auf Hot Dogs und Köder, von denen ich nicht weiß, ob sie nur wie Marshmellows aussehen.
Jäger sind hier häufig unterwegs. Ein mitfahrender Deutscher erzählt uns, er habe hier einen Fernsehkanal entdeckt, in dem nichts weiter laufe als Berichte über Alligatorenjäger, die offensichtlich aus Blutdurst jagen. Dazu Captain Bishop: Er sei selber Jäger und jage hier in den Swamps alle möglichen Tiere und auch schon mal Alligatoren. Diese Typen aber seien unfair. Die erste Legende stimmt schon mal nicht: Alligatoren sind nicht aggressiv. In all den Jahren, in denen er hier die Bootstouren mache, habe es erst einen Unfall gegeben – nämlich als jemand seinen Kopf in das Maul eines Alligators gesteckt habe. Die Jäger hier in diesem Gebiet nützten die ungewöhnliche Zutraulichkeit der Tiere aus. Sie beobachten die Routen der Touristen, gehen diesen dann später nach und erlegten die Alligatoren im Minutentakt.

Vorbei an Hütten im Indian Village, die weißgottwie hier errichtet wurden. Die Hälfte durch Katrina zerstört. Warum ausgerechnet die anderen das überstanden haben, ist unklar. Jemand fragt, wie die Kinder, die hier wohnen, zur Schule kommen. "School? Come on!", da ist es wieder, das Pokergesicht das Captain. Gehen die Kinder hier wirklich nicht zur Schule?

Rückfahrt in die Stadt und Abendessen in einem Cajun-Restaurant. Poboy = Gulasch im Baguette mit Süßkartoffel-Fritten.

Hatte uns schon vor einer Woche als Teilnehmer für die Impro-Show im Brown Theater eingetragen. Die Kassiererin lässt uns gratis rein. Eine Bühne mit Zuschauerraum als in einer Bar, aus der auch während der Show noch laute Musik dringt. Die Show schlimmste ComedySportz-Grütze. Kommt klaum über schlecht gespielte Partygames hinaus. Die Zuschauer sind für die Spieler uninteressant. Die Party scheint während der Show im Backstage abzulaufen. Nach einer knappen Stunde ist der Spuk vorbei.
Spazieren zurück durchs French Quarter. Der Fahrer des Hostels hatte uns ja noch ein paar Blues Bars außerhalb des Zentrums empfohlen, aber wir sind zu müde, und treiben durchs ungesunde Party-Halligalli der Touristenströme heim.

*

BLINK

2. Kapitel: The Locked Door

Das zweite Kapitel behandelt unsere Unfähigkeit, hinter die verschlossene Tür unserer unwillkürlichen Reaktionen zu schauen.
– Vic Braden, ein internationaler Tennis-Coach, konnte mit extrem hoher Sicherheit nach einem Aus schon beim Ansetzen des Aufschlags erkennen, ob es ein Doppel-Aus gäbe,war aber unfähig, die Indizien dafür zu benennen.
– George Soros bekam beim Lesen von Wirtschafts-Nachrichten in bestimmten Fällen körperliche Krämpfe, die ihm signalisierten, eine Aktie abzustoßen. Auch er tendierte übermäßig oft zur richtigen Einschätzung.

Die Soros-Anekdote ist wissenschaftlich gesehen natürlich nur ein lockeres Indiz, denn es ist nicht nur denkbar, sondern sogar äußerst wahrscheinlich, dass Soros einfach der Typ ist, der verdammt viel Glück hatte.

– Teilnehmer von Speed-Dating wurden nach ihren Vorlieben bei Partnern befragt und passten diese später an den realen, glücklich gefundenen Partner an.
– In einem Psychotest (der natürlich etwas anderes zu testen vorgab), wurden die Teilnehmer mit Begriffen bombardiert, die mit Aggressivität verbunden waren. Tatsächlich waren diese Teilnehmer später wesentlich aggressiver als diejenigen in der Gegentest-Gruppe, denen man neutrale Begriffe vorlegte.

"Priming is not, it should be said, like brainwashing. (…) Nor can I program you to rob a bank for me."

Derren Brown tat aber genau das. http://www.youtube.com/watch?v=D9c2l4oD5AY

9. Juni 2011 – Eine Straßenbahn, die nicht Desiree heißt

9. Juni 2011
An der Wand unseres Frühstücks-Cafés Lil’ Dizzy ein Foto von George W. Bush, wie er hier isst. Ob das vor oder nach Katrina war? Kann gar nicht anders als ihm maliziöses Kalkül zu unterstellen: a) Vor Katrina hat er’s sich noch getraut. b) Nach Katrina kam er her, um den Unmut gegen die Behörden zu besänftigen.
Wir schlafen uns nach dem Frühstück endgültig unseren Jet Lag aus dem Leib.
Allein würde ich nicht ins Aquarium gehen, aber das ist, wie schon erwähnt, der Vorteil des Zu-Zweit-Reisens. In diesem Falle ist es allerdings eher etwas enttäuschend. Etwas konzeptlos, was selbst die tollsten Tiere dann eher deplatziert erscheinen lässt. Ist das nicht die Kunst der Zooistik – das Zoohafte verschwinden zu lassen? Während des Hurrikans sind die meisten Tiere wegen des Stromausfalls hier verendet. Geht man deshalb jetzt etwas sparsamer um? Kann mir aber nicht vorstellen, dass es dem riesigen Alligator vor zehn Jahren in dem kleinen Tümpel besser erging. Steffi, die sich sonst beim Auftreten eines kleinen Weberknechts in 3 Kilometer Entfernung bald nicht mehr einkriegt, ist fasziniert, wenn kopfgroße Geschöpfe, deren Beine nicht von ihren Tentakeln zu unterscheiden sind, hinter Glas durchs Wasser storkseln. Mir hat es ein heringartiger Fisch angetan, der wie von einem wahnsinnigen Lebensmittelchemie-Professor auf eine Länge von zweieinhalb Meter per Genmanipulation hochgepimpt wurde.

Eine Abteilung zur Lewis-Clarke-Expedition schließt eine Bildungslücke. Die frühere Größe von Louisiana, die Machtspielchen zwischen Jefferson, Napoleon, Spanien und England. Überhaupt, dass hinter Virginia im Grunde schon Schluss war, der Traum der Nordwestpassage, taucht in meine Geschichtsvorstellung zumindest nicht unmittelbar auf.
Noch einmal im Hostel pausieren. Das Hostel ist weniger dreckig als es die Wackligkeit der Installationen erscheinen lässt. Sie saugen und wischen täglich. Und dennoch hinterlässt es einen gewissen Widerwillen, wenn die Dusche halb aus der Wand heraushängt.
Diskutieren das Thema am Nachmittag weiter. Die tendenzielle Kaputtheit, das Provisorische der Leitungen, Straßen, Lüftungsrohre usw. lässt sich nicht nur mit Katrina erklären. Man sieht es schließlich auch in England, in New York, in Spanien, in San Francisco. Sollten es vielleicht doch die guten deutschen, Schweizer und skandinavischen Handwerker sein, die dafür sorgen, dass man das Gefühl hat, sich an eine Wand wirklich anlehnen zu können, eine Dusche benutzen zu können, ohne befürchten zu müssen, dass einen der Schlag trifft?
Katrinas Auswirkungen werden uns von Tag zu Tag stärker vor Augen geführt. Gerade das ärmlichere Viertel, in dem wir wohnen, ist voller verlassener Häuser, die mit Gras überwachsen oder deren Fenster und Türen vernagelt sind. Aus einigen scheint Hausmüll zu quellen. An anderen Stellen stehen nur noch Ruinen. Hier und da entdeckt man erst beim zweiten Hinsehen, dass da mal ein Haus gewesen sein muss.

Ausflug mit der Streetcar (nein, nicht "Desire" und auch nicht bis zur Endstation Sehnsucht) bis ins Gartenviertel. Üppige Villen, die anscheinend ebenfalls von den Überschwemmungen verschont geblieben sind oder rasch wieder aufgebaut wurden. Ursprung dieses Viertels sind die repräsentativen Villen der Plantagenbesitzer.

Die Straßenbahn braucht wesentlich länger als vermutet, so dass wir hungrig sind, als wir endlich angelangt sind, und wir finden weder einen Imbiss noch ein Restaurants. Also nach einem kurzen Spaziergang sofort wieder zurück. Der alten Straßenbahn nehme ich es nicht übel, dass sie vor sich hin quietscht – eine Nostalgiekutsche, die zu 50% Touristen befördert. Aber anscheinend haben viele Bahnen hier ein Effizienzproblem. Von den Autos ganz zu schweigen. Selbst die Öko-Toyotas müssen fett und repräsentativ aussehen. Stromlinienförmigkeit wird allenfalls angedeutet. Standard ist entweder 80er-Jahre-Volvo-Design oder Jeep-Anmutung. Und dann wegen der Spritpreise heulen.

*

Malcolm Gladwell: BLINK. The Power of Thinking without Thinking.

Für einen Improspieler natürlich genau das entscheidende Thema: Was geschieht in den Momenten, in denen wir instinktive Entscheidungen treffen? Ich würde es ins Deutsche übersetzen mit "Denken ohne Nachzudenken".

Intro

Die Geschichte der Kouros-Statue, die angeblich aus dem antiken Griechenland stammt, was von einem Wissenschaftler durch chemische Analyse bestätigt wird. Diverse Experten finden zunächst die typischen Merkmale jener Zeit und bestätigen die Echtheit. Bis schließlich die echten Spezialisten auf den Plan treten und innerhalb weniger Sekunden sagen, dass es sich um eine Fälschung handelt. Und der springende Punkt ist: Sie können es nicht wirklich begründen außer mit Vagheiten wie "Sie wirkt frisch." oder "Die Fingernägel wirken falsch." Und diese Aussagen erweisen sich bei näherer Prüfung als korrekt.

Könnte man bei dieser Art von Einführung noch vermuten, wir hätten es mit einem Muschebubu-Buch zu tun, so entfaltet er in den nächsten Seiten die ganze Komplexität des Moments

1 The Theory of Thin Slices: How a Little bit of Knowledge Goes a Long Way

Wir tendieren dazu, zu glauben, wir wüssten mehr, je mehr wir uns mit jemandem beschäftigen. Sollte man nicht glauben, jemanden besser zu kennen, wenn man mit ihm mehrere Stunden isst und redet als wenn man nur kurz einen Blick in sein Schlafzimmer wirft? Das Gegenteil ist der Fall. Gerade wenn es um die fünf Persönlichkeitsdimensionen Extrovertiertheit, Einverständnis, Bewusstheit, emotionale Stabilität und Offenheit für Neues geht, erzählt uns der Blick ins Schlafzimmer eines Menschen mehr als dieser Mensch uns darüber erzählen könnte.
Ein weiteres Beispiel: Ärzte werden in den USA recht häufig verklagt. Der springende Punkt ist, dass die Verklagten nicht häufiger Fehler machen als die Nicht-Verklagten. Sie widmen sich ihren Patienten aber weniger intensiv und sind unpersönlicher.

(wird fortgesetzt)

8. Juni 2011 „Mississippi Delta is shining like a national guitar“

8. Juni 2011
"Mississippi Delta is shining like a national guitar"
Wie spät ist es, als wir aufstehen? Die Uhr zeigt 7 an, das heißt, in Berlin ist es jetzt 14 Uhr. Das kann man schon mal als guten Versuch abhaken, den Jetlag zu überwinden.
Was also ist die Liste der Städte, von deren Flughäfen ich abflog oder auf denen ich landete? (Um nicht das Abholen des Freunds aus Tempelhof und das Rumlungern auf dem ungenutzten Flughafen in Sunyani mitzuzählen.)
Berlin, Minsk, Leningrad, Istanbul, Esfahan, Teheran, Amsterdam, New York City, Sofia, Lagos, Accra, Budapest, Sarajevo, Rom, London, Valetta, Paris, Wien, Chicago, München, Phuket, Antalya, Palma de Mallorca, Prag, Odessa, Zürich, Catania, Jekaterinburg, Krasnojarsk, Shanghai, Peking, Detroit, Philadelphia, Charlottesville, Seattle, New Orleans.
Mein erster Flug am 12. November 1989 nach Leningrad, drei Tage nach Mauerfall – an meinem Geburtstag – eine gebuchte Jugendtouristreise. Zwischen 1990 und 1996 bin ich nur ein einziges Mal geflogen – als ich in Moskau krank wurde und mir die Ärzte nicht helfen konnten.
Wir spazieren 500 Meter zu einem kleinen Frühstücks-Restaurant, dass sehr familiär wirkt. Die Angestellten (bis auf einen kleinen älteren Mann alle schwarz) verbreiten eine ungezwungene gute Laune. Ich überwinde mich, unbekanntes Essen auszuprobieren: "French Toast with Strawberries and Bacon". Es schwimmt in Fett und wenn man Honig drüber laufen ließe würde es nicht süßer werden. Aber ich bin zufrieden. Refill-Coffee gibt’s immer dann, wenn der Kaffee bestenfalls mittelmäßig ist.

Spazieren durchs French Quarter. Derselbe Eindruck wie damals 1997: Am Morgen danach riecht es nach Schmutzwasser und Reinigungsmittel. Wie eine mittags erwachende Stadt. Hutkauf am Hafen. Unsicher, ob der Preis angemessen oder Abzocke ist (schließlich befinden wir uns im Touri-Zentrum). Lasse mich dann von dem Gebot der Zweckmäßigkeit leiten.
Das Gute am Zu-Zweit-Reisen: Man lässt sich zu Dingen überreden, die einem sonst spontan nicht in den Sinn kämen. Aber die Dampferfahrt hätte ich wohl auch mitgenommen. Natchez Steamboat ist der älteste Original-Dampfer. Wir überqueren eine 70 Meter tiefe Stelle des Mississippi.

 

Zum ersten Mal fahren wir an Katrina-ruinierten Gebäuden vorbei. Das French Quarter war wegen seiner höheren Lage weitgehend verschont geblieben.
Spazieren durchs Zentrum. Eine üppige Frau geht an uns vorbei und trägt etwas vor sich her, das Steffi und ich unabhängig voneinander und ohne die Vokabel je in diesem Zusammenhang gebraucht zu haben, im Geiste als "Balkon" bezeichnen. Kurz danach schlendere ich allein weiter und höre, wie ein Straßenkünstler sie für ihre Brüste lobt: "Nice breasts!" In Berlin wäre das die Garantie für eine Ohrfeige oder eine rüde Erwiderung. Hier erntet er ein geschmeicheltes "Oh! Thank you!"

Der Narr: Verspieltheit

Ist das Entscheidende am Narren seine Verspieltheit? Er setzt die Elemente dessen, was ist, auf neue Art wieder zusammen. Das Ganze entsteht ohne jeden Masterplan, ohne große Absicht. Ob wir darin Weisheit oder nur die reine Tollheit sehen, liegt an uns. Im besten Fall, haben wir beides.
Im Improvisationstheater (und im Theater überhaupt?) brauchen wir die Narrheit. Die Weisheit zu erkennen, ist die Aufgabe des Zuschauers, die er freilich auch ignorieren kann. Der Spieler braucht sich jedenfalls nicht darum zu kümmern.

7. Juni 2011

Wie oft noch werde ich fliegen? Ich versuche, im Geist meine Flüge zu rekapitulieren. Und zwar inklusive Zwischenstopps. Seltsam, dass sie immer mehr zu einem Brei verschwimmen, je näher sie an die Gegenwart rücken; so wie es im Leben wohl immer so ist, dass der erste Happen, den man kostet, am eindringlichsten schmeckt. Und irgendwann bleiben die Kataströphchen anekdotenhaft im Gedächtnis kleben.
Unser Flug geht diesmal relativ spät. Die morgendliche Frische am S-Bahnhof Beusselstraße beim Warten auf den TXL-Bus verpassen wir.
Ich habe immer noch nicht verstanden, wozu das Online-Check-In oder Self-Check-In vor Ort gut sein soll. Spart es wirklich so viel Zeit? Fürs Boarding nehmen wir dann doch die Hilfe der polnischen Flughafen-Dame in Anspruch. Ja, die Sitze am Notausgang, auf die ich wie immer wegen meiner langen Stelzen spekuliere, können noch gebucht werden. "Aber", sie blickt auf Steffi, "Sie müssten ja beide in der Lage sein, die Tür zu öffnen." Sitzen also ganz hinten. Stelle mich auf Beinschmerzen ein, und versuche, mich nicht vorzeitig zu ärgern.
1. Vorzeitiges Ärgern bringt nie etwas, denn das Schlimme ist ja noch nicht eingetreten und vielleicht kommt ja doch alles anders.
2. Ärgern im Moment des Schlimmen bringt auch nichts. Entweder man ändert die Situation, dann ist der Grund für den Ärger hinfällig. Oder man muss sich mit ihr arrangieren, dann würde Ärger die Lage eher verschlimmern.
3. Ärgern hinterher bringt auch nichts. Denn das Schlimme ist vorbei.
Leichter gesagt als getan. Vor allem Punkt 2. Das Leben – ein Training.
Wir sitzen in den vorletzten Reihen, und der Clou: Das Flugzeug ist nicht ausgebucht. Ich nehme drei Sitze für mich in Anspruch, ohne dabei jemanden zu belästigen, lege mich zwischendurch sogar mal lang.

Das wäre vorn nicht möglich gewesen.
Lesen in Gladwells "Blink" und schaue in den Bollywood-Klassiker "Mother India" weiter bis zu 2:00 Stunden. Fasziniert von dem Willen zu Stilisierung, der manchmal an den Heroismus osteuropäischer Filme aus den 50ern erinnern. Leider meine Kopfhörer liegengelassen, und bin nun auf die Stöpsel von Delta angewiesen, die mir andauernd rausrutschen und einen furchtbaren Klang haben.

Nonstop nach New York. Die Immigrations-Befragung wird von Jahr zu Jahr entspannter. Auf der Vorderseite der Häuschen wird man darauf hingewiesen, dass die Beamten zu Höflichkeit verpflichtet sind, und dass man das Recht hat, mit deren Vorgesetzten zu sprechen.
Vom JFK-Flughafen nach La Guardia. Wir erhaschen einen Blick auf die Stadt, und es tut fast weh, nun weiterzureisen, aber uns bleibt ja noch eine Woche Ende Juni.
Ein Patrick aus Deutschland mit uns im Shuttle. Er muss seine Pflichtzeit in den USA verbringen, da er vor zwei Jahren eine Greencard gewonnen hatte. Sein Job in Brandenburg: Erben von Immobilien ausfindig machen. Und wie die meisten Menschen ziert auch er sich zunächst, als wir ihn nach seinem Beruf fragen. Dabei ist doch solche Detektivtätigkeit äußerst spannend. Nach der Ankunft verlieren wir uns. Für ihn geht’s weiter nach Florida.
Zeit totschlagen in La Guardia. 19:45 Uhr geht es weiter nach New Orleans. Also 1:45 Uhr Berliner Zeit.
Irgendein Ökonom hat sicherlich schon mal ausgerechnet, welchen volkswirtschaftlichen Schaden der "Schuh-Bomber" seit 2002 angerichtet hat, einfach durch den Zeitaufwand, den es bedeutet, sich am Flughafen andauernd die Schuhe an und auszuziehen. Oder würden die Keynesianer sagen, dass durch die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze an den Flughäfen das BIP eher gestiegen ist. Obwohl der Paradigmenwechsel 2009 überfällig war (wobei – hat es ihn überhaupt gegeben?), nerven die Keynesianer manchmal mit ihrem Fokus auf die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze durch den Staat – Autobahnen bauen, Kästchen falten.
Hinter dem Verbot des Transports von Flüssigkeiten steckt meines Erachtens jedoch die Kiosk-Mafia der Flughäfen, bei der wir die teuren Getränke bestellen müssen. Warum kann ich bitteschön nicht meinen halbausgetrunkenen Orangensaft mitnehmen, wenn ich vorm Officer daraus einen Schluck trinke?
Im Flugzeug pendeln wir im flugzeugtypischen Wechsel zwischen Dösen und Wachen. Ankunft 22:12 Uhr Ortszeit.

In Berlin und in unseren Knochen ist es jetzt 5 Uhr morgens. Die selbst für New Orleans ungewöhnliche Hitze haut uns um, als wir den durchaus schönen, aber frostig klimatisierten Flughafen verlassen. Der Fahrer des Hostels lässt auf sich warten. Oder sehen wir ihn bloß nicht? Die E-Mail-Kommunikation mit dem Hostel war eine Katastrophe. Soll man einen der Fahrer ansprechen? Habe ich mich geirrt? Ich rufe im Hostel an. Wie war das noch mal mit den Vorwahlen? Und funktioniert das mit dem neuen Handy überhaupt. Verstehe nur jedes zweite Wort des Mannes am anderen Ende: Meine Müdigkeit, sein Südstaatenakzent, sein an BVG-Arbeiter erinnernder Unwille, sich auf einen Ausländer einzulassen, der Lärm um uns herum und die typische Quäkigkeit amerikanischer Telefonverbindungen treibt mich in einen Kurz-vorm-Ausflippen-Zustand. Die Gereiztheit zwischen uns gleichen wir durch Lächeln aus. Es dauert über eine Stunde, bis der Fahrer endlich da ist. Schlecht gelaunt öffnet er uns den Kofferraum. Unsere Frage, ob er denn der Hostelfahrer sei, hält er kaum für eine Antwort wert. Er brettert über den Highway, ohne ein Wort zu sagen. Hält dann nach zwanzig Minuten irgendwo und steigt aus. Sind wir schon da? Auch auf diese Frage reagiert er genervt. Wir betreten die Herberge, und in dem Moment, als wir die Schwelle überschreiten, scheint es, als hätten wir nun mit seinem netten Zwillingsbruder zu tun. Zuvorkommend und hilfsbereit. Er nimmt sich sogar noch die Zeit, uns die coolsten Musikkneipen – abseits der Tourifallen – auf dem Stadtplan zu zeigen. Er merkt nicht, dass wir dabei gleich umfallen vor Müdigkeit. Es ist 7:30 Uhr Berliner Zeit, als wir das Licht löschen.… Weiterlesen

Namen

Gute Namen befeuern oft die Qualität der Szenen. Ich vermute, es hat damit zu tun, dass sich unsere Kreativitätsventile öffnen, wenn wir unserem Gegenüber einen Namen verpassen, der über „Müller“ oder „Peter“ hinausgeht.
Gestern in der Show mit den Crumbs, ein paar schicke Namen:
Ein Polizist namens Barbarino
Ein Astronaut namens Captain Sicko
Ein Gangster namens Lemony
Ein Chorleiter namens Karsakov.

Akzeptieren auf zwei Ebenen

Oft bleiben zwei Ebenen des Akzeptierens nicht klar voneinander unterschieden, so dass eben immer wieder Diskussionen darüber auftauchen, ob akzeptiert wurde oder nicht. (Auch Johnstone unterscheidet hier nicht immer klar.)
1. Akzeptieren der szenischen und spielerischen Wirklichkeit: Dies ist sozusagen die Grundlage aller Improvisation. Wenn ich als „Papa“ angesprochen werde, dann bin ich eben der Papa, egal, was für brillante Ideen ich sonst noch im Kopf hatte. Ein Satz wie „Ich bin nicht Ihr Papa“, würde die etablierte Wirklichkeit zerstören.
2. Akzeptieren einer szenischen bzw. narrativen Bewegung: Wenn mir angeboten wird: „Schatz, wir haben eine Reise nach Korsika gewonnen!“, dann nehme ich natürlich den Schwung auf; das Angebot ist voller Energie, es bietet eine Fallhöhe und szenische Entwicklung. Wenn meine Figur jedoch ablehnt, mit nach Korsika zu reisen, nehme ich zwar den Schwung aus der Szene, die Wirklichkeit bleibt aber erhalten. Angenommen also, die Szene findet mitten im Stück statt, könnte es durchaus sinnvoll sein, wenn der Angesprochene antwortet: „Sie haben mir den Urlaub gestrichen, Angelika!“
Oder als typisches Beispiel: Wenn mich szenisch ein Gangster bedroht und ich ihm freudig die Geldbörse überreiche, wäre das ein Akzeptieren der Bewegung, würde aber mit der szenischen Wirklichkeit brechen.

Im Grunde läuft es darauf hinaus: Akzeptiere stets die szenische Wirklichkeit! Akzeptiere stets das Spiel! Akzeptiere so viel wie möglich szenisch vorwärts treibende Bewegung. Erkenne, wann Widerstand nötig ist und setze ihn sparsam und gezielt ein.

327. Nacht

Mangelnde Belege für früheste literarische Kindheitserinnerungen: Die früheste Bildergeschichte aus "Bummi", an die ich mich erinnere, ist die Geschichte vom Esel Schnabelschnut, dessen unspannende Abenteuer darin bestanden, dass jeder Gegenstand, den er beleckte, an ihm kleben blieb. In jeder Folge vier Bilder, vier Gegenstände. Vermutlich ein pädagogischer Comic für die Jüngsten. Die zweite Erinnerung ist überlagert von Sekundär-Erinnerungen: Da es eine oft wiederholte Story in meiner Familie ist, kann ich nichts zur Genauigkeit sagen. Es geht um das Buch "Annegret", das mit drei Jahren mein Lieblingsbuch gewesen sein muss. Worum es ging, weiß ich nicht mehr. Aber auf dem letzten Bild sagte ein Schwein: "Ich als Schwein komme zum Schluss, weil ich als Schwein allein bleiben muss." Das Buch kam irgendwie abhanden, vermutlich gestohlen. Angeblich schrie ich noch lange Zeit: "Meine Annegret!!"
Viel habe ich – Ebay sei Dank – aus der Versenkung wieder hervorholen können: Der starke Pit, Der lahme Büffel, und sogar Bürsteltupf aus dem Bummi. Aber bei "Annegret" – ein Buch, das wahrscheinlich nur familienintern so genannt wurde – bin ich aufgeschmissen. Für Hilfe bin ich dankbar, denn ich bin mir sicher, dass aus der Betrachtung noch andere Erinnerungen erwachsen.

*

Alî Schâr wagt, vorsichtig zu widersprechen, als der angebliche König, der in Wahrheit seine Frau und Sklavin Zumurrud ist, ihm die Schenkel weiter oben zu kneten, willigt dann aber ein. Doch damit nicht genug:

"O größter König unserer Zeit", fragte Alî Schâr, "worin soll ich dir gehorchen?" Und als sie antwortete: "Löse deine Hose und leg dich auf dein Gesicht!", rief er: "Das ist etwas, das ich noch nie in meinem Leben gemacht habe! Wenn du mich dazu zwingst, so werde ich dich dessen vor Allah am Auferstehungstage anklagen."

Aber es bleibt ihm nichts übrig.

Da tat er es, und sie stieg ihm auf den Rücken; und er fühlte, was weicher war als Seide und zarter als Sahne. Da sagte er sich: "Dieser König ist mehr wert als alle Frauen. […} Nun rief Alî Schâr: Gott sei Dank, es scheint, dass sein Glied sich nicht aufrichtet." Sie aber sprach: "Alî, mein Glied hat die Gewohnheit, dass es sich nur aufrichtet, wenn es mit der Hand gerieben wird." […] Dann legte sie sich auf den Rücken, nahm seine Hand und führte sie zu ihrem Schoß´. Den fand er weicher als Seide, weiß, rund und ragend, heiß.

Mit Abstand die heißeste "Stelle" bisher in den 1001 Nächten.

Sie gibt sich ihm zu erkennen, und sie feiern ihre Wiedervereinigung:

Er barg seinen Stab in ihrer Tasche und ward zum Pförtner ihrer Tür und zum Vorsteher ihrer Nische.

Am nächsten Tag lässt sie zur Reise rüsten und das Volk einen Stellvertreter bestellen, nimmt einen ordentlichen Batzen aus der Schatzkammer mit und reist mit Alî nach Hause.

Ihm wurden Kinder durch sie geschenkt, und beide lebten in höchster Zufriedenheit, bis Der zu ihnen kam, der die Freuden schweigen lässt und die Freundesbande zerreißt.

***

Die Geschichte von Dschubair ibn Umair und der Herrin Budûr

Wieder einmal kann der Beherrscher der Gläubigen (m.a.W. Harûn er-Raschîd) nicht einschlafen und bestellt Masrûr zu sich, der ihm einen Rat geben soll, wie er von der Schlaflosigkeit erlöst würde. Dieser empfiehlt ihm:
– Die Besichtigung des Gartens inklusive Blumen, Mond, Sterne, Wasser
– Die heimliche Besichtigung der dreihundert Odalisken
– Weise Männer miteinander disputieren zu lassen
– Junge Männer und Zechgenossen mit lustigen Einfällen kommen zu lassen.

Natur, Sex, Wissenschaft, Komödie

Als der Kalif alles ablehnt, antwortet Masrûr trocken:

"Mein Gebieter, dann lass mir den Kopf abschlagen!"

Langsamkeit vs. Lahmheit

Manchmal ist es nur ein schmaler Grat zwischen Langsamkeit und Lahmheit. Man kann eine Szene fünf Minuten spielen, ohne dass ein Wort fällt, und es ist dennoch spannend. Manchmal aber wirkt eine Pause von drei Sekunden schon unglaublich zäh – nämlich wenn man sieht, dass der Spieler nachdenkt und abwägt.

326. Nacht

Denkt man heute an Zivilcourage, rücken meistens besonders heroische Taten ins Visier: Sich brutalen Schlägern entgegenzustellen etwa.
Wieviel häufiger fehlt es aber an Mut im Kleinen? Vor allem in der Großstadt. Ein Mann liegt hilflos auf der Treppe, ruft nach Hilfe. Je mehr Menschen anwesen sind, umso unwahrscheinlicher ist es, dass ihm geholfen wird.

 

In der Psychologie wird dies als Bystander-Effekt bezeichnet.

Als soziale Wesen haben wir einen gewissen Hang zum Übereinstimmen. Es fühlt sich für die meisten unangenehm an, Außenseiter zu sein.

 

In seiner extremen Form führt der Mitläufer-Effekt zu Auswüchsen wie in Abu Ghraib (um ein Beispiel nach 1945 zu nennen). Vorweggenommen vom Milgram Experiment und dem Stanford Prison Experiment von Philip Zimbardo, der später einem der Angeklagten von Abu Ghraib als psychologischer Berater zur Seite stand.

Wenn wir nicht erkennen, dass das Böse in uns allen steckt, wird es uns schwer fallen, die Situationen zu erkennen, die es hervorbringen. Dann fahren wir fort, es zu essentialisieren, zu hospitalisieren, zu externalisieren.

Gut sein muss trainiert werden. Zimbardo plädiert dafür, Zivilcourage schon bei Kindern zu trainieren und ihr Heldenbild zu verändern: Weg von Superhelden, hin zu Helden des Alltags. Wir müssen den Fokus weglenken von den traditionellen Helden, die ihr Leben um ihr Heldentum herum organisiert haben, so wie Gandhi, Mandela, Martin Luther King. Wir brauchen Helden auf Abruf. Menschen, die bereit sind, abzuweichen, wenn es darauf ankommt. Menschen, die auf die Gemeinschaft statt auf ihr Ego fokussieren.

 

***

Man führt Alî Schâr zu Zumurrud, der sie natürlich nicht erkennt (sie ihn schon). Er berichtet seine Geschichte und sie führt wieder den Hokuspokus mit geomantischer Tafel und Messingstift auf, wobei sie zu dem Ergebnis kommt, er sage die Wahrheit.

Man könnte die Passagen der geschummelten Nutzung der geomantischen Tafel auch als ironischen Seitenhieb auf derartige Praktiken verstehen.

Sie lässt ihn fürstlich ein kleiden, worüber das Volk erstaunt ist. Am Abend lässt sie ihn ihr Schlafgemach, in dem außer ihr nur zwei kleine Eunuchen sind, führen und stellt sich schlafend.

Wie die Leute hörten, dass sie nach ihm gesandt hatten, wunderten sie sich darüber.

Woher erfuhren "die Leute" davon?

Alî erkennt seine Frau immer noch nicht. Und sie denkt bei sich:

"Ich muss doch noch eine Weile Scherz mit ihm treiben, ohne dass ich mich zu erkennen gebe."

Sie teilt das Essen mit ihm und befiehlt ihm dann:

"Komm zu mir auf das Lager und knete mich!" Er begann, ihr die Füße und Schenkel zu kneten und fand, dass sie weicher als Seide waren. Nun befahl sie: "Geh höher hinauf mit dem Kneten"

325. Nacht

Ich bin der Auserwählte. Oder einer der Auserwählten. Gehöre zu den 3% Berlinern, die für den Zensus interviewt werden. Instinktiv fühle ich mich ja immer noch mit der Volkszählungs-Boykott-Bewegung von 1983 verbunden, obwohl ich nicht einmal volljährig oder auch nur Bundesbürger war. Womöglich faszinierte mich schon allein der Ungehorsam gegen den Staat. Immerhin hörte man ja viel von jenem 1948 geschriebenen Roman 1984, der auch prompt 1983 verfilmt wurde und von dem man nur Schnipsel zu sehen bekam – immerhin in einem Video meiner damaligen Lieblingsband.

Nun kann ich schon verstehen, dass geplant werden muss: Wieviele sind wir eigentlich? Oder muss man das wirklich? Was wird nach der Volkszählung besser? Sachsen-Anhalt würde dann weniger aus dem Länderfinanzausgleich bekommen. Na, da freuen die sich wohl jetzt schon drauf.

Man ist ja gesetzlich dazu verpflichtet, die Fragen zu beantworten. Aber steht irgendwo geschrieben, in welcher Zeit? Vielleicht sollte ich die Dame einfach sitzen lassen, nebenbei kochen und telefonieren. Und wenn sie nachhakt, darauf beharren, über die Antwort nachdenken zu müssen. Aber vielleicht wird sie ja nicht pro Interview, sondern nach Zeit bezahlt, und es wäre ihr egal. In diesem Fall könnte ich während des Interviews ohrenbetäubenden Death Metal auflegen. Ist ja nicht mein Problem, wenn sie die Antworten nicht versteht. Oder mit Gegenfragen antworten. Stephan Serin wird wohl in den nächsten Wochen noch ein paar Optionen zur Zensus-Beantwortung bei der Chaussee der Enthusiasten präsentieren.

*

Alî Schâr ist vom Trennungsschmerz so ergriffen, dass er von der Alten ein Jahr lang gepflegt werden muss. Als er sich jedoch anschickt, ein zweites Jahr zu trauern, ordnet sie an, er möge sich zusammenreißen und die Geliebte suchen Sie gibt ihm

Wein zu trinken und Küken zu essen.

Hühnerbrühe am Tag und Wick Medinait für die Nacht.

Und tatsächlich gelangt er bei seiner Suche in die Stadt Zumurruds, wo er sich prompt an die Stelle des Tischs mit der Reisschüssel setzt und davon isst. Zumurrud lässt ihn zunächst gewähren und ihn dann vor sich führen.

Könnte eine solche Geschichte nicht auch mal tragisch enden und sie lässt ihren eigenen Lover kreuzigen? Wir werden sehen.

Jazz ist Kommunikation

taz: Wie erklären Sie sich den schweren Stand, den Jazz in Deutschland gehabt hat?

Doldinger: Wir müssen uns doch klarmachen: Es geht letztlich auch um Unterhaltung. Der Jazz animiert aber dazu, nicht fürs Publikum zu spielen, sondern eher intellektuellen Inhalten zu folgen. Und es ist nicht jedem vom Naturell her gegeben, Menschen unterhalten zu wollen. Ich habe das innere Bedürfnis, wenn schon Menschen da unten sitzen, die Eintritt gezahlt haben, denen etwas zu geben, das sie mit einem guten Gefühl nach Hause gehen lässt. Ich beklage immer, dass bei den vielen Jazzseminaren, die es in Deutschland gibt, das Thema Bühnenpräsenz so gut wie gar nicht vorkommt. Man könnte den jungen Leuten in den Seminaren mal ein bisschen vermitteln, dass sie eine Verpflichtung haben, ihrem Publikum etwas zu geben, mit vollem Körpereinsatz und allem drum und dran.
Interview in der taz vom 12.5.2011