Öffentlicher Raum in der Stadt (Amanda Burden) – 453., 454., 455., 456. Nacht

Worum geht es in einer Stadt überhaupt? Was ist das Entscheidende, wenn man Stadtplanung betreibt?
Ich war fünf Mal in New York City: 1997, 2003, 2009, 2010 und 2011. Der Unterschied, den die Stadt zwischen 2009 und 2011 gemacht hat, war selbst für meine ungeschulten Augen gewaltig: Im Süden Manhattans kann man nun bequem aufs Wasser sehen. Es gibt den neuen legendären Park auf der Highline – einer stillgelegten Bahnstrecke. Das Beeindruckendste aber war, dass in der engen Innenstadt von Manhattan, wo sich die Autos hindurchquälten, man das Autoproblem löste, indem man den Autos Spuren wegnahm! Fußgängerzonen mit Stühlen, Sandkästen, Bäumchen. Auf den Avenues gab es Radspuren! Radspuren!! Und das in einer Stadt, wo die einzigen Radfahrer lebensmüde Fahrradkuriere waren. Mit anderen Worten: Die Radspuren wurden geschaffen, als es für sie noch gar keinen Bedarf gab. Man hat den Bedarf für Fahrräder erzeugt.
Hinter all dem steckt eine Stadtplanerin namens Amanda Burden, deren erstes großes Projekt der Battery Park war. Es geht, so Burden, wenn man eine Stadt plant, nicht um die geometrisch-hübschen Ideen der Designer, sondern um die Perspektive der Menschen, die sich in den geschaffenen Räumen aufhalten. Oder in ihren Worten: „[As a city designer] you don’t tap into your design expertise, you tap into your humanity.“
Man schaue sich die riesigen Freiflächen vor den modernen Bürotürmen an. Wer sitzt da schon gern, selbst wenn eine barmherzige Seele ein paar Bänke hingestellt hat?
Parks errichten, die man nutzen kann, Fahrradspuren für künftige Radfahrer, die Wasserseiten für die Bewohner zugänglich machen, Fußgängerzonen erschaffen, die nicht nur Freiluft-Einkaufszentren sind – für all das braucht man einen langen Atem und Mut. Mut, Investoren auch mal Nein zu sagen. Mut, es sich mit Wählergruppen (wie etwa Autofahrern) kurzfristig zu verscherzen.
Im Vergleich zu New York City ist Berlin gesegnet mit vielen Parks und Freiflächen. Aber man sollte diese nicht als gegeben hinnehmen. Was hätte man z.B. aus dem Regierungsviertel machen können! Die Verkehrspolitik lässt sich in Berlin seit über 50 Jahren von der Autofahrerlobby diktieren. Ich erinnere daran, dass einmal die Straßenbahn durch die gesamte Stadt fuhr. Die Oberbaumbrücke wurde damals nach ihrer Rekonstruktion eröffnet mit der Option, die Straßenbahn mindestens bis zum Schlesischen Tor zu verlängern. Die Gleis-Ansätze sind letzte Zeugen dieses Plans. Die A100 ist zum Prestige-Projekt des Regierenden Bürgermeisters geworden. Die gesamte Debatte über dieses Projekt ist derart ideologisch kontaminiert, dass eine rationale Debatte kaum mehr möglich ist. Jeder will schnell von A nach B kommen und Ruhe vor der eigenen Haustür. Aber beides ist eben nicht gleichzeitig zu haben. Fragt man aber die Stadtbewohner nach Prioritäten, so bevorzugen doch die meisten das ruhigere Wohnen. Die durchschnittliche Geschwindigkeit eines Autos im Stadtverkehr beträgt ohnehin meist nur um die 30 km/h. Schadete es da, gleich in allen Wohngebieten Tempo-30-Zonen einzurichten? Das Ganze natürlich gekoppelt an einen Ausbau des Nahverkehrsnetzes. Wenige werden ihren Auto-Kaufwunsch revidieren, wenn sie außerhalb des S-Bahn-Rings mehr als 15 Minuten auf den Bus warten müssen und dieser dann auch noch mit 15 km/h durch die Gegend zuckelt. (Viel schneller als 20 geht ja auch nicht, da die stehenden Passagiere sonst gefährdet sind.)
Ein weiteres Beispiel für die ideologische Verkrustung der Berliner Debatten ist die Diskussion um das Tempelhofer Feld. Der Senat will Wohnungen bauen. Das ist an sich keine üble Sache. Das Feld ist tatsächlich so groß, dass es Wohnungsbau vertragen könnte, und Wohnungen braucht Berlin, gerade in der Innenstadt, zu der man Nord-Tempelhof, wenn man großzügig ist, ja noch zählen kann. Aber was sonst? Abgesehen vom Problem des sozialen (oder eben nicht-sozialen) Wohnungsbaus bleibt die Frage völlig unbeantwortet, was mit dem Tempelhofer Feld passieren soll. Die Hauptstadtbibliothek? Ach mein Gottchen! Das soll ein Konzept sein?
Aber auch die Bebauungsgegner haben sich bisher nicht besonders von der kreativen Seite gezeigt. Am Besten alles so lassen wie es ist? Wer diese Betonfläche behalten will, muss ein eingefleischter Kite-Roller sein. Ansonsten gibt es doch keine Beschäftigung, die nicht ein bisschen Grün vertragen könnte.
Vor allem müssen groß-kommerzielle Interessen draußengelassen werden. Ein, zwei lizenzierte Cafés, keine Ketten, keine Konzerne, kein Trash.
 
***
453. Nacht

Auf die Frage nach der „Gemeinschaft von Mann und Weib“ antwortet die keusche Tawaddud erst, nachdem sie der Kalif dazu auffordert.

„Sie erleichtert den Körper, der voll schwarzer Galle ist, sie beruhigt die Liebesglut, führt zu herzlicher Neigung, weitet das Herz und verscheucht die Trauer der Einsamkeit. Ausschweifung im Liebesgenusse ist in den Tagen des Sommers und der Herbstes schädlicher als zur Zeit des Winters und des Frühjahrs. (…) sie verbannt Sorge und Unruhe, beruhigt das heiße Verlangen und den Zorn und ist gut gegen Geschwüre. (…) Man hüte sich vor der Gemeinschaft mit einem alten Weibe, denn die führt zum Tode.“ (…) „Und welches ist die beste Liebesgemeinschaft?“ „Wenn die Frau noch jung an Jahren ist, von Wuchse zierlich, von Antlitz lieblich, mit schwellender Brust und sich einer edlen Absicht bewusst.“

Das beste Gemüse seien Endivien, die trefflichsten Früchte Granatäpfel und Limonen, die am lieblichsten duftenden Blumen Rosen und Veilchen.
„Wie entsteht der Same des Mannes?“
Die abenteuerliche Antwort ist ein Zitat wert:
„Es gibt im Manne eine Ader, die alle anderen Adern speist. Nun wird der Saft aus den dreihundertsechzig Adern gesammelt, dann tritt er als Blut in den linken Hoden ein; dort wird er durch die Hitze des angeborenen menschlichen Temperamentes zu einer dicken, weißen Flüssigkeit abgekocht, deren Geruch gleich der Palmenblüte ist.“
Gut, dass man nun weiß, wie die Palmenblüte riecht. Unklar bleibt, wozu in dieser Lehre der rechte Hoden dient.
Der Arzt ist erschöpft und Tawaddud besteht wieder darauf, auch ihm eine Frage zu stellen.
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454. Nacht

Sie stellt ihm ein seitenlanges Rätsel, dessen Lösung „Knopf und Knopfloch“ lautet.
Danach muss sie sich einem Astronomen stellen. Dieser fragt sie nach den Hemisphären und den achtundzwanzig Stationen des Mondes.

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455. Nacht

Nach den Planeten befragt nennt Tawaddud:

„Sonne, Mond, Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn.“
Urans, Neptun und Pluto fehlen, da sie erst im 18., 19. und 20. Jahrhundert u.Z. entdeckt wurden.
Weiter schreibt sie den „Planeten“ Häuser und Aszendenzen zu. Der Astronom fragt sie außerdem, ob es morgen Regen gebe. Tawaddud schweigt, und als der Kalif auf einer Antwort besteht, antwortet sie:
„Ich wünsche, dass du mir ein Schwert gibst, mit dem ich ihm den Kopf abschlage; denn er ist ein Ketzer.“
Sie begründet das damit, dass die Wettervorhersage eines der fünf Dinge ist, deren Wissen Allah vorbehalten ist. Der Astronom zieht sich darauf zurück, er hätte sie „auf die Probe stellen wollen.“
Weiter fährt sie fort, astrologische Vorhersagen zu treffen, abhängig davon, an welchem Wochentag das Jahr beginnt, beginnend mit dem Sonntag.
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456. Nacht

Sie fährt fort mit ihren vom ersten Tag des Jahres abhängigen Vorhersagen, die unter anderem

  • den Gedeih von Früchten und Korn
  • die Herrschaft der Könige
  • die Zufriedenheit des Volkes
  • die Rechtschaffenheit der Verwalter
  • die Gesundheit der Tiere und Menschen
  • den Preis bestimmter Lebensmittel
  • die Bevorzugung bestimmter Bevölkerungsgruppen
betreffen.

436. und 437. Nacht – Fragen zum Dealerproblem, die ich mir selber nicht beantworten kann

Fragen zum Dealerproblem, die ich mir selber nicht beantworten kann

Erst waren sie weit weg, die Dealer. Hasenheide, Neukölln. Ihre Existenz berührte mich nicht wesentlich mehr als die der Dealer von der 125. Straße in New York City. Hab sie schon mal gesehen. Berührt mich nicht. Und jetzt, seit ein paar Jahren nun also auch im Görlitzer Park. Ich gehe dort joggen, ich fahre dort oft mit dem Fahrrad entlang, und ab und zu fahre ich meinen sprechen- und laufenlernenden Sohn Django dort spazieren. Um die Herren zu ignorieren, sind sie zu präsent. Also bin ich gezwungen, meine widerstreitenden Bedenken und Gefühle unter einen Hut zu kriegen.

  1. Ich kiffe nicht. Insofern kann mir die Anwesenheit der Dealer eigentlich so egal sein wie die eines Nagelstudios. Immerhin – ich habe zwar schon gekifft, mich aber noch nie professionell maniküren lassen. Die akustische Werbung der Dealer „Ss-sss! Some Dope?“ ist zwar aufdringlich, aber auch nicht schlimmer als die ästhetische Beleidigung, die Schaufenster und Ladenschild eines Nagelstudios darstellen. Andererseits:

  2. Nicht nur kiffe ich nicht. Ich halte das Kraut auch größtenteils für schädlich. Man merkt Kiffern an, dass sie kiffen. Gewohnheitsmäßige Kiffer klagen, dass sie nichts gebacken kriegen und bringen ihr Nichts-Gebacken-Kriegen nie in Zusammenhang mit ihrer regelmäßigen Kifferei. Andererseits:
  3. Kiffen sollte legalisiert werden. Gesundheit ist zwar ein schönes soziales Ziel, aber wer sich physisch zerstören will, muss es tun dürfen. Man muss nicht den an dieser Stelle obligatorischen Vergleich mit Alkohol ins Spiel bringen, aber es schadet auch nicht; schließlich zeigt es die Irrsinnigkeit des Hanf-Verbots. Wer den Konsum von Schnaps toleriert und dadurch Sucht, Krankheiten und vorzeitigen Tod von Millionen billigend in Kauf nimmt, kann nicht das zwar ebenfalls krankmachende aber vergleichsweise harmlose Kiffen kriminalisieren. Und man kriminalisiert es auch dann, wenn man den Besitz von Mini-Päckchen toleriert, den kommerziellen Verkauf aber verbietet.
    In Relation zur Gesundheitsfrage erscheint es fast nebensächlich, aber natürlich scheint auch die psycho-soziale Wirkung des Stoffs verträglicher. Zumindest wäre es mir lieber, wenn die acht Hertha-Fans, mit denen ich mir nach einem verlorenen Spiel ihres Vereins den U-Bahn-Wagen teilen muss, gemeinsam eine Riesen-Bong inhaliert hätten als sich pegelsaufend ins Level zwischen Aggressiv Brüllen, Zuschlagen und Kotzen zu manövrieren. Aber:
  4. Die rechtliche Situation ist aber so wie sie ist. Und so stehen die Dealer zu großer Zahl im Görlitzer Park. Jedes Mal, wenn ich denke: ,Ach, das sind jetzt vielleicht doch nur ein paar Leute, die sich sonnen wollen‘, genügt es, den Blickkontakt zu halten. Und prompt werde ich angesprochen, ob ich Dope bräuchte. Wenn ich sage, „zu großer Zahl“, so ist das nicht übertrieben. Es gibt im Görlitzer Park kaum mehr eine Bank, die nicht von dealenden oder sich vom Dealen ausruhenden Afrikanern besetzt wäre.
    Benutzen eigentlich die Grammatik-Feministinnen hier auch ein großes I? Also Dea-lerInnen? Oder ist der in diesen Kreisen übliche Sprech jetzt „Dealende“? Völlig un-nötig. Es sind einfach keine Frauen dabei. Warum, weiß ich nicht. Ebenso wenig wie die geschlechtliche verstehe ich die ethnische Aufteilung prekärer Jobs. Steht irgend-wo geschrieben, dass nur diejenigen Punks, die in katholischen Ländern wie Spanien, Polen und Italien aufgewachsen sind, an Kreuzungen Autoscheiben putzen dürfen? Welcher soziale Mechanismus führt dazu, dass ausgerechnet Pakistani das Rosenverkaufs-Monopol innehaben? Warum sollte Marihuana eine afrikanische Spezialität sein? Anscheinend gibt es einen gewissen Sozial-Magnetismus: Du landest als Afrikaner in Berlin und irgendwann hörst du, dass sich Afrikaner im Görlitzer Park rumtreiben. Also gehst du zu ihnen, und fühlst dich bei ihnen wohler als bei den Verkäufern von Straßen-Magazinen. Und Akkordeon, Trompete und Saxofon hast du auch nicht dabei, um wie die Rumänen als Trash-Folk-Band durch die Öffentlichkeit zu ziehen. Aber:
  5. Fast alle Dealer, so war zu lesen, sind Asylbewerber, stehen also bei ihrer Tätigkeit schon mit einem Bein im Abschiebeknast, sicherlich nicht gerade das, was man sich gewünscht hat, als man sich von Togo aus auf den Weg gemacht hat. Die Gruppen von 10-15 Männern – wieviel mögen sie am Tag verkaufen? Was bleibt an Gewinn übrig? Sind es die größeren Ladungen, die das Geld bringen? Ist es der härtere Stoff, der das Geld bringt? Inzwischen wird ja auch Koks, Heroin und Chrystal Meth ge-dealt, die Depots sind überall – zwischen Schwimmbad, Kuhle, Kinderbauernhof und dem Damm, der bis nach Treptow führt. Dieses Problem wird ein Coffee-Shop jedenfalls nicht lösen. Und über die Legalisierung dieser Substanzen wechsle ich meine Meinung je nachdem, mit wem ich spreche. Außerdem:
  6. Neulich war ein Graffito im Görlitzer Park zu lesen: „Bullen raus! Keine Spießer-überwachung im Görli!“ Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass der Schriftzug von einem der afrikanischen Dealer kam. Im Vergleich zu anderen Orten ist die Polizei im Görlitzer Park ja recht milde zugange. Mal ganz abgesehen davon, dass sie die Depots sowieso fast nie findet. Aber man kommt unweigerlich zur Frage: Wer definiert, was an einem Ort OK ist? Ist es OK, wenn im Görlitzer Park der Grilldreck jede Freifläche bedeckt? Ist es in Ordnung, wenn Hunde in der Größenordnung von Miniponys kleine Kinder anspringen? Ist es in Ordnung, wenn sämtliche Sitzbänke von Dealern besetzt sind? Es ist wie in WG-Debatten – Wen es stört, dass die Socken in der Küche rumliegen, hat schlechte Karten, wenn das allesschlagende Sozial-Gebot Toleranz heißt und durch keine Kompromisse relativiert wird. Und dann das hier:
  7. Gehe mit Django in der Nähe des Spielplatzes spazieren, in dessen Nähe sich eine Dealertruppe sonnt. Warum zum Teufel in der Nähe des Spielplatzes! Hätte ich we-niger Probleme damit, wenn in der Nähe ein Spätverkauf mit Spirituosen stünde? Ich weiß es nicht. Und von allen Richtungen, in die der zweijährige Django laufen kann, wählt er die Richtung Dealertruppe. Die sind anscheinend selber über die unerwartete bewertungslose Neugierde verwirrt. Man schüttelt sich die Hände, stellt einander vor, geht auseinander. Und irgendwie bin ich froh über diese Begegnung. Und dann kurze Zeit später:
  8. Nach langer Zeit gehe ich mal wieder joggen. Nicht durch Kreuzberg. Bleibe bei meiner alten Route durch den Treptower Park und den Plänterwald. Beim Sowjeti-schen Ehrenmal lehnt einer der Afrikaner mit legeren Adidasklamotten an einem Geländer. Geht das jetzt nicht doch zu weit? Meine Empörung über das Dealen in meinem Heimatpark lässt sich moralisch gut befeuern durch die Tatsache, dass wir uns hier in unmittelbarer Nähe eines Friedhofs mit über 2.000 Gefallenen der Roten Armee befinden. Ist das nicht doch recht pietätlos? Soll man was sagen oder nicht? Als ich auf seiner Höhe bin, hat sich die Frage erübrigt: Der Afrikaner legt ein Bein übers Geländer und dehnt sich ausgiebig. Dann joggt er mir hinterher. Kein Dealer, ein Jogger! Joggen in der Nähe des Friedhofs. Auch pietätlos irgendwie?

436. Nacht

Die Alte fährt fort mit einer Anekdote über el-Haddschâdsch ibn Jûsuf, an den eine Petition erging:

"Fürchte Allah und übe keinerlei Bedrückung gegen die Diener Allahs!"

El-Haddschâdsch ibn Jûsuf rechtfertigt sich nun damit, dass ihn Allah über das Volk gesetzt habe wegen dessen (böser) Taten.

"Wenn ich es nicht bin, so ist es einer, der noch schlimmer ist als ich, der noch härter bedrückt und noch grausamer herrscht."

Der arme Tyrann als Schlimmeres-Verhinderer. Ähnliches kennt man heute von Militärdiktaturen. In Wirklichkeit hat er mit seinem Herrschaftsstil so viele gegen sich aufgebracht, dass es immer wieder zu Aufständen kam. Nach seinem Tod wurden 80.000 Menschen aus den Gefängnissen entlassen.

 

***

 

Die Geschichte von der Sklavin Tawaddud

Ein reicher Kaufmann wird alt und gebrechlich, ohne einen Nachkommen zu haben. Nachdem er bei Allah um einen solchen fleht, empfängt eine seiner Frauen von ihm.

Und in der Nacht zum siebenten Tage nach der Geburt des Knaben gab er ihm den Namen Abu el-Husn; die Ammen nährten ihn, die Pflegerinnen hegten ihn, und die Mamluken und Eunuchen trugen ihn, so dass er wuchs und spross und in die Höhe schoss.

Auch für seine Bildung wird gesorgt.

So ward er zur Perle seiner Zeit und zum schönsten Jüngling weit und breit, mit einem Antlitz der Lieblichkeit, einer Zunge der Beredsamkeit, der sich wiegte und neigte im Ebenmaß seiner Gestalt und selbstgefällig dahinschritt in seines Stolzes Gewalt.

Doch dann liegt sein Vater im Sterben, nicht ohne vorher allerlei Mahnungen seinem Sohn auf den Weg zu geben,

bei denen man schon ahnt, dass er sich nicht an sie halten wird.

Nachdem Abu el-Husn eine lange Zeit getrauert hat, reden ihm seine Freunde zu:

"Was dahin ist, ist dahin. Trauer kann nur Mädchen und Frauen gebühren, die im Harem ein abgeschlossenes Leben führen." In dieser Weise redeten sie immer weiter zu ihm, bis er ins Badehaus ging; und auch sie gingen dorthin und machten seiner Trauer ein Ende.

***

437. Nacht

Die bösen Freunde sind es also, die ihn dazu überreden, sein Geld auszugeben. Er fängt an, Wein zu trinken und sein Geld zu verprassen, bis ihm nichts mehr geblieben ist außer einer schönen Sklavin.

Ihr Wuchs betrug fünf Spannen der Hand, und sie war des Glückes Unterpfand.

Ob sich der Übersetzer Littmann hier von dem "Lied der Deutschen" hat beeinflussen lassen?

Ihre Stirn war wie der Neumond im verehrten Monate Scha’bân anzuschauen; sie hatte Gazellenaugen und schön gewölbte Brauen. Ihre Nase war wie des Schwertes Schneide; und ihre Wangen prangten im Anemonenkleide. Ihr Mund schien das Siegel Salomons zu sein; ihre Zähne waren wie Perlenreihn. Ihr Nabel konnte eine Unze Behennussöl fassen; ihr Rumpf war schlanker als der Leib dessen, den die Liebe verzehrt und heimliche Sehnsucht hatte dahinsiechen lassen; und ihre Hüften waren wie der Sandhügel Massen.

Die Tiefe des Nabels als Schönheitskriterium!

Dem Vollmond ist sie gleich, da sich
Zu Fünf und Vier die Vier gesellt.
Ich bin nicht schuld, bin ich durch dich
Ihm gleich, wenn er die Nacht erhellt.

Littmann merkt dazu an: "Das Mädchen ist vierzehn Jahre, der Vollmond vierzehn Tage alt. Der Dichter wird um der Liebe zu dem Mädchen blass wie der Mond."

Nachdem sich Abu el-Husn drei Tage lang seinem Leid hingegeben hat, verlangt sie von ihm, zu Harûn er-Raschîd geführt zu werden.

Rezension „Untergetaucht“ von Marie Jalowicz Simon

Im Jahre 1941 wird die knapp 18jährige Berlinerin Marie Jalowicz zur Zwangsarbeit verpflichtet, weil sie Jüdin ist. Seit ein paar Wochen ist sie Waise und muss sich nun alleine durchschlagen. Als die Gerüchte, die nach Osten Deportierten würden dort ermordet, sich zur Gewissheit verdichten, taucht sie unter. Vier Jahre lang von einer zur anderen Unterkunft – zwanzig Stationen. Einmal nutzt sie sogar die Liebesbeziehung zu einem Bulgaren, um mit ihm nach Sofia zu fahren, in der Hoffnung, in die Türkei zu fliehen, nur um dann wieder zurückkehren zu müssen. Sie kommt unter bei jüdischen Freunden und Freunden von Freunden; bei kommunistischen Arbeiterfamilien; bei Lumpenproletariern, die ein verwanztes Zimmer vermieten wollen; bei einer exaltierten Künstlerin; bei Leuten, die aus purem Anstand Nazigegner sind; und sogar unter Vorwand bei einem eingefleischten Nazi. Es helfen ihr Anpassungsfähigkeit, Chuzpe, Charme und vor allem – das wird sie nicht müde zu betonen – immer wieder Glück.
Sie beendet ihre Zwangsarbeit, indem sie sich mehrmals krankschreiben lässt; und als später ein Brief vom Arbeitsamt kommt, sagt sie dem Briefträger, die Jalowicz sei in den Osten deportiert worden.
Kurioserweise kommt ihr auch die in den Berliner Arbeiter-Wohngebieten verbreitete Schoddrigkeit zugute – Säufer und Prostituierte und Arbeiter pflaumen Nazis an. Als ihr Zweck-Verlobter sie mit dem Stiefel verprügelt und sie ein blaues Auge davonträgt, ist sie regelrecht froh; denn erst jetzt sei ihr der Übergang zum Proletariat auch äußerlich anzusehen.
Und in jeder neuen Situation macht sie sich klar: Was auch immer geschieht, sie wird nicht mitgehen, wenn die Gestapo kommt. Und dann klingelt es tatsächlich eines morgens an der Tür. Sie spielt die Halbblöde, die sich für die lange Zeit der Vernehmung noch von der Nachbarin „’n Stücke Brot borgen will. Dürf ick mir det holn? So in Unterrock …. Naja, mir sieht ja keena früh um sechse, und … na, wegloofen kann ick Ihn’ ja so bestimmt nich.“ Und währen die Vermieterin lenkt den Gestapo-Mann mit weitschweifenden Gesprächen ablenkt, veralbert Jalowicz den unten wartenden Gestapo-Mann auf ähnliche Art und flieht in Unterwäsche in den frühen Berliner Morgen, wo ihr glücklicherweise ein Arbeiter hilft.
Die Odyssee ist spannend und interessant, aber leider doch irgendwie unspannend geschrieben, und es wirkt nicht, als sei es Absicht. Dem Buch liegen 77 von Jalowicz in einem sanft geführten Gespräch besprochene Tonbandkassetten zugrunde. Hätte man es nicht ein wenig straffen können?
Anscheinend begann Marie Jalowicz Simon erst in den 80ern über ihre Erfahrungen ausführlich zu sprechen. Das hat einen seltsamen Effekt: Die Perspektive bleibt die der naiven Zwanzigjährigen. Nicht nur bei ihren Feinden, sondern auch bei fast jedem ihrer Helfer und Freunde lässt sie sich despektierlich über die Äußerlichkeiten aus. Das blonde dicklich e Kind der Freundin einer Helferin wird als „der kleine Germane“ bezeichnet. Eine ebenfalls untergetauchte ungarische Familie kommt in die Wohnung und macht sich „unerträglich in der Küche breit.“ Sie übernimmt die Berliner Schnauze von damals. Nur selten relativiert sie ihre Angriffe. Die Familienfreundin Hannah Koch organisiert ihr über Jahre hinweg Lebensmittel und Geld und lässt sie gegen Kriegsende auch bei sich wohnen. Und doch unterstellt Jalowicz ihr vor allem Eigensucht. „Erst nach und nach begriff ich, dass Hannchen Koch noch etwas anderes belastete: Mit dem Krieg würde auch meine Abhängigkeit von ihr zu Ende gehen. Die grandiose Rolle der Widerstandsheldin, die diese schüchterne Frau aus armen Verhältnissen jahrelang gespielt hatte, war damit vorbei.“ Koch habe Jalowicz gebraucht, um ihre Sucht zu helfen zu auszuleben. Nicht dass man als junger Mensch – vor allem als Mensch in Not – nicht so denken kann, aber als Greisin, die auf ihr Leben zurückblickt, könnte man doch auch versuchen, die Perspektive dieser Menschen zu verstehen. Nach dem Krieg sei ihre Gefühlsverhärtung aufgebrochen. Davon merkt man wenig.
Zwischendurch viel Phrasenhaftes: Jemand „schimpft wie ein Rohrspatz“ usw.
Soziologisch interessant ist denn das Buch auch vor allem, wo es die Berliner Milieus beleuchtet: Da wird gestritten und geschlagen. Frauen müssen arbeiten, werden verprügelt. Nachbarn belauschen einander, tratschen im Hausflur. Pöbelei ist allgegenwärtig. So wirken selbst heutige Schulhofgespräche in Neukölln zivilisierter.
Das Eingesperrtsein in der DDR erwähnt das spätere SED-Mitglied überhaupt nicht.

  • Der jüdische Gynäkologe Benno Heller überredet Dutzende, wenn nicht Hunderte jüdische Frauen, unterzutauchen, bis ihn schließlich eine Jüdin, die das nur widerwillig tut und bei einer furchtbaren Vermieterin landet, verrät, weil sie meint, viel schlimmer als bei dieser Vermieterin könne es im Lager auch nicht sein. Als ihn die Gestapo abholt, ist die ganze Wohnung voller Juden, um die sich aber niemand kümmert.
  • Die in der DDR hochgelobten Kurierdienste der Bästlein-Gruppe waren Kartoffeltransporte von Marie Jalowicz. Überhaupt zweifelt sie am kommunistischen Widerstand, der wenig bewirkte als gegenseitige Selbstvergewisserung.
  • Strategie: Niemals Kontakt zu jüdischen Gruppen suchen. Die äußeren Merkmale der einzelnen Juden würden sie addieren zu einer Stürmer-Karikatur, so dass schließlich alle als Juden erkennbar wären.
  • Nach Konzerten oder Theater warteten jüdische „Greifer“ am Ausgang und verrieten die bürgerlichen untergetauchten Juden.
  • In Magdeburg fällt sie durch ihr Äußeres auf – nicht als Jüdin, sondern als Berlinerin.
  • Eine kommunistische Helferin erwirbt billig „Judenmöbel“. „Wenn ich sie nicht kaufe, nimmt sie ein anderer.“
  • Zwischendurch feiert sie irgendwann Pessach, „indem ich immer wieder den Refrain Dajenu sang.“
  • Ein Trick: Behaupten, man sei lange Koch gewesen. So kommt man an Lebensmittel.
  • Es gab eine „Markthalle“ in der Rigaer Straße. Wo?
  • In einem Haus schlägt ein Nachbar ungefragt Durchbrüche auf den Dachböden, um ihr eine Fluchtmöglichkeit zu geben, falls die Gestapo kommt.
  • Der Holländer schlägt sie, weil sie nicht seine Vorliebe für mit Kaffee-Ersatz und Zucker bestreutes Schwarzbrot teilt.
  • Sie erträgt diverse Vergewaltigungen oder Nötigungen –vorm Untertauchen, währenddessen und auch danach. Einer ihrer Helfer rächt sich so posthum an ihrem Vater, der ein Verhältnis mit seiner Frau gehabt hat.
  • Eine alte schwerhörige Helferin meint, dass 1945 die jungen Männer zum „Volks-Turm“ sollen, wo jeder eine „Panzerfrau“ bekäme.
  • Man halte sich fern von Ämtern und dergleichen: „Gehe nicht zu deinem Fürscht, wenn du nicht gerufen wirscht.“
  • Eine einfache Frau ist so beschränkt, dass sie ihre beiden Töchter Veronika nennt.
  • In den letzten Kriegstagen fährt noch eine S-Bahn nach Kaulsdorf.

269. Nacht c) – Berlin Marathon 2008

Eine gute Woche ist nun nach dem Berlin Marathon vergangen. Ich bin völlig erholt. Aber auch der Lauf selber ging so gut wie noch nie. Keine Blasen während des Laufs, kein Mann mit dem Hammer, keine Gelenkprobleme, keine Krämpfe, keine ausgedehnten Gehpausen. Von Anfang an, lief alles perfekt.

Ich hatte vorher die etwas seltsame Idee, meine während des Laufs zunehmenden physischen Probleme zu dokumentieren, indem ich an jedem Kilometer einen Stopp einlegte. Aber das Leid hielt sich in Grenzen, vielleichtgerade wegen der kurzen Pausen. Schon bei km 9 habe ich die erste kleine Stretchingpause eingelegt. Ab der Hälfte widmete ich jeden weiteren Kilometer einigen Personen, die mir gerade wichtig sind.

Den kompletten Lauf habe ich hier dokumentiert

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Es mutet schon etwas seltsam an, dass der Maure so schnell aufgibt, da er ja immerhin mehrere Jahre gebraucht haben muss, bis er nach China gelangt ist.

Nachdem Alâ ed-Dîn mit Weinen und Klagen fertig ist, besinnt er sich des Rings, den ihm der Zauberer gegeben hat. Er fleht weiter zu Allah und ringt dabei wie ein Trauernder mit den Händen, so

dass seine Hand an dem Ringe rieb.

Aber warum musste er sich da des Ringes besinnen?

Es erscheint ein Dämon, der bekennt, er sei der Sklave des Ringträgers. Alâ ed-Dîn befiehlt ihm, ihn zu befreien, was auch höchste Zeit wird, da er schon seit drei Tagen in der Höhle festsitzt. Er geht den Weg zurück, den er gekommen ist und

dankte Allah dem Erhabenen, der ihn zur Oberfläche der Erde herausgeführt und ihn vom Tode errettet hatte.

Allah? Oder nicht doch der Dämon?

Alâ ed-Dîn kehrt ins Haus seiner Mutter zurück und berichtet ihr alles ausführlich,

was wir dann auch noch in aller Ausführlichkeit lesen müssen, Galland scheint Zeilen schinden zu wollen. An anderen Stellen in "1001 Nacht" heißt es immer: "Doppelt erklärt ist nichts wert."

Nachdem sich der Sohn ausgeruht hat, will die Mutter zum Basar gehen, um vom Erlös des gesponnenen Garns Essen zu kaufen. Alâ ed-Dîn rät ihr, lieber die Lampe zu verkaufen, die brächte sicherlich mehr Geld. Doch wie Mütter so sind, sie meint, man müsse die Lampe vorher putzen, dann brächte sie einen höheren Erlös. Ein Dämon erscheint. Sie fällt in Ohnmacht, Alâ ed-Dîn jedoch befiehlt dem Geist, gutes Essen zu besorgen, dies bringt er augenblicklich herbei. Ausdrücklich erwähnt wird darunter nur:

Brot, weißer als Schnee.

Sie essen sich satt, aber anschließend bittet die Mutter ihren Sohn Alâ ed-Dîn darum, Ring und Lampe fortzuwerfen:

"denn sie verursachen uns große Furcht; (…) Auch wäre es eine Sünde für uns, mit ihnen zu verkehren; denn der Prophet – Allah segne ihn und gebe ihm Heil – warnt uns vor ihnen."… Weiterlesen

268. Nacht – Eigenwilliges Naschwerk und Leopardenschlüpper für österreichische Experimental-Oboistinnen

Helge Schneider: "Ich bin kein Kirchist."

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Im April 2007 durfte ich mit Jochen Schmidt nach Sibirien reisen. Den Bericht darüber habe ich bisher bei der Chaussee der Enthusiasten vorgelesen, aber sonst noch nicht veröffentlicht. Es ist an der Zeit.

Сибирь занимает большую территорию I
Eigenwilliges Naschwerk und Leopardenschlüpper für österreichische Experimental-Oboistinnen

 

Man hatte die Hoffnung ja schon längst aufgegeben, dass sich ein Goethe-Institut-Knecht finden würde, der die Chaussee der Enthusiasten auf eine Lese-Tour nach Russland einladen würde. Dabei lag es ja auf der Hand: Kurze, leicht übersetzbare, aber anspruchsvolle Geschichten, vorgetragen von anmutigen Autoren, die aus ihrem Russland-Faible nie einen Hehl gemacht hatten, sondern ihn wie einen Pionierwimpel vor sich hertrugen. Was hatte ich nicht alles getan: Ich hatte dem Institut ein Chaussee-der-Enthusiasten-Buch und einen ganzen Stapel unserer Hefte geschickt, auf unsere erfolgreichen Auftritte in Amsterdam und Lille verwiesen, meine Scham überwunden und schlechten Gewissens eine von mir einmal verlassene Freundin wieder angerufen, von der ich wusste, dass sie jemanden kannte, der jemanden kannte, der im russischen Goethe-Institut arbeitete, wir hatten uns sogar nach einer Moskauer Straße benannt. Stattdessen setzte man in Moskau lieber darauf, Dichterinnen, die vor 10 Jahren mal bei einem Provinz-Poetry-Slam den dritten Platz belegt hatten, oder gar österreichische Experimental-Oboistinnen wieder und wieder ins Russenreich zu karren, weil das ja die anderen Goethe-Institute auch so praktizierten. Und so kam die E-Mail mit der Einladung nach Sibirien etwas unerwartet. Sie hatten den Zeitpunkt gut abgepasst. Ich war knapp unter Vierzig, und so konnten sie mich noch unter der Kategorie „Junger Schriftsteller“ ankündigen, aber dieses Etikett gilt in Deutschland vielleicht für jeden, bei dem man sich noch keine Gedanken machen muss, mit welchen Vorrichtungen man den Rollstuhl auf die Bühne gehievt kriegt.
Ich arbeitete an einer Übersetzung, trat viermal pro Woche auf, unterrichtete 2 Improvisationsheaterklassen, ermunterte meine an Frühschwangerschaftskotzerei leidende Schwester, und vertröstete meine Gefährtin Woche für Woche, Regale, Lampen, Lichtschalter, Vorhänge und Bilderrahmen anzubringen, die seit unserem Einzug vor 3 Monaten immer noch vorwurfsvoll im Korridor standen. Kein günstiger Zeitpunkt, um sich nach Sibirien zu verpissen. Aber Russland war ein Magnet für mich, es zog mich an und stieß mich ab. Ich hatte mich Anfang der 90er mit jungen Moskauer Punkbands befreundet, wir waren viermal auf die Krim gereist, ich hatte 1991 den Putsch gegen Gorbatschow live vom Fenster eines Freundes miterleben dürfen, und ebenso die Beschießung des Parlaments zwei Jahre später, ich hatte eine russische Patentochter, die ich fast nie sah, meine Mutter war in russischer Kriegsgefangenschaft entstanden, ich liebte russische Musik und das raue russische Essen, und ich verabscheute die „russische Seele“, die die russischen Rohlinge immer dann aus dem Sack ließen, wenn sie ihre Grobheit in Wodka ertränkt hatten, dann aber nicht etwa zärtlich wurden, sondern schlicht zur allergröbsten Grobheit nicht mehr in der Lage waren. Kurz gesagt: Ich musste nach Sibirien.
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Als ich in der Abreisenacht rucksackbeladen und wegen eines Auftritts leicht verspätet, um 23.30 Uhr vom Bahnhof Treptower Park meinen Reise- und Lesebegleiter Jochen Schmidt auf dem Handy anrufe, damit er die Damen auf dem Flughafen davon abhalten möge, das Check In zu früh zu beenden, ich würde mich schon beeilen, wundere ich mich über die fehlenden Flughafen-Hall-Geräusche am anderen Ende der Leitung. Schmidt ist noch nicht einmal aus seiner Wohnung gegangen, und so bleibt es mir überlassen, die Damen auf dem Flughafen zur Verlängerung des Check In zu Jochens Gunsten überreden.
Wir sind die letzten Passagiere, bei der Sicherheits-Überprüfung nimmt man uns schon nicht mehr ernst und schäkert untereinander, nicht wissend, dass aufmerksame Schriftstellerohren die Metalldetektorpforte durchqueren. Der Dialog in diesem Setting zwischen der einen Politesse an der Durchleuchtmaschine und der anderen mit der ulkigen Detektorlupe könnte der Beginn eines Tarantino-Films sein:
„Wat willste denn da nach Thailand extra nô Hemden mitnehmen?“
„Na, een T-Shirt dô wenigstens!“
„Nö, da loofen wa dô alle nackee rum! Ne Zahnbürschte und ’n Leoparden-Schlüppa, dit muss reichen.“
„’n Leoparden-Schlüppa? Du hast ’n Leoparden-Schlüppa! Ick fasset nich!“
Wir müssen weiter, dürfen nicht mehr mitlauschen, aber im Geiste drehe ich den Film weiter: Nach uns letzten beiden Passagieren kommt noch der Sky-Marshall angehetzt, bei dem (wie immer) der Alarm piept. Er lässt (wie immer) einen flotten Spruch fallen, man kichert. Im Flugzeug stellt er sich heraus, dass der Sky-Marhall selber ein Entführer ist. Cut! Zeitsprung. Er wurde von seinem sadistischen SM-Partner dazu gezwungen. Cut! Der Pilot vertuscht seit Jahren seine starke Sehbehinderung, aber er hängt an dem Job wegen der nymphomanischen Stewardessen. Als der kriminelle Sky-Marshal droht, dem Piloten die Augen auszustechen, lacht der nur, da das für ihn ja keinen Unterschied mehr macht. Das Flugzeug landet nun immer wieder auf verschiedenen Flughäfen in aller Welt, kein Land fühlt sich zuständig, und kein Innenminister nirgends will die Befreiung der Geiseln unternehmen, da das Risiko zu klein ist, und man sich somit keine Lorbeeren als harter Bulle verdienen kann. Inzwischen ist der sadistische Partner des Sky-Marshalls in Thailand angekommen, wo er sich zu seiner eigenen Überraschung, nicht mit einer Thai-Prostituierten, sondern einer deutschen Touristin vergnügt, in die er sich verliebt hat. Sie belustigen sich im Swimmingpool des Hotels, doch als er sie dort für seine Sado-Spielchen ausnutzen will, wehrt sie sich. Am nächsten Morgen findet das Personal seine Leiche auf dem Grund des Swimmingpools. Sie stellen fest, dass er mit einem Leoparden-Schlüppa erwürgt wurde.
***
Wir heben ab, Jochen setzt sich seine Schlafmaske auf und klemmt sich Ohropax in die beiden dafür vorgesehenen Körperöffnungen. Mit diesen Utensilien, die für ihn so wichtig sind wie für Asthmatiker ihr Spray, eliminiert er zwei wichtige Wahrnehmungsformen, und glaubt irrigerweise, ihre Benutzung garantierten ihm Schlaf.
Um drei Uhr nachts wird das Frühstück serviert. Und während ich wieder einmal meine Knie abwechselnd in den Gang, in Jochens Magengrube und gegen die Rückenlehne meines Vordermanns platziere, frage ich mich, ob diese Nahrungsersatzverabreichung auf kurzen Flügen nicht lediglich dazu dient, die Fahrgäste bei Laune zu halten, da sie sich sonst wie Kinder benehmen: Ich muss mal, ich will was zu trinken, mir ist warm, ich muss mal, wann sind wir endlich da, nein der da hat angefangen, wieso darf ich mir denn keine Mütze aus dem Security-Prospekt basteln?
 

***

Die Prinzessin spricht zu einer Begleiterin

"Du hast mich aufgeheitert, Zubaida!"

Und so erkennt Alâ ed-Dîn, dass diese Zubaida seine Gattin ist, die doch eigentlich tot sein müsste.
Die Prinzessin fährt fort, Zubaida zu trösten, Alâ ed-Dîn sei

in dieser Kammer dort und hört, was wir reden."

Sie rennen auf einander zu und sinken ohnmächtig zu Boden. Es stellt sich heraus, dass eine im Dienst der Prinzessin stehende Dämonin in den Körper von Zubaida gefahren war und Zubaida auf diese Weise zur Prinzessin gelangte.

Deus ex machina.

Dieser Prinzessin war durch ihre Großmutter geweissagt worden, sie würde eines Tages Alâ ed-Dîn heiraten.
Alâ ed-Dîn geht auf das Angebot ein, vorausgesetzt, sie ist Muslimin. Das ist sie tatsächlich, denn sie

las die vier Bücher, die Tora, das Evangelium, die Psalmen und den Koran.

Das hat sie bekehrt. Zubaida nimmt das neuerliche Eheversprechen ihres Gatten klaglos hin.
Außerdem klärt ihn die Prinzessin über die Vorgänge in Bagdad seit seiner Abreise auf. Den fünfeckigen Zauberstein habe sie übrigens von ihrer Großmutter, und sie hatte ihn Alâ ed-Dîn zukommen lassen Der Kapitän war einer ihrer Verehrer, den sie losschickte, um Alâ ed-Dîn nach Genua zu holen. Ihr Vater wiederum hat eine große Angst vor Alexandriern, die er alle hinrichten lässt, da ihm durch seine Mutter geweissagt wurde, er würde durch einen Mann aus Alexandrien getötet.

Man ahnt schon, wer ihres Vaters Mörder sein wird.

Am Abend betäuben sie den König mit Wein und Bendsch, fesseln ihn und geben ihm

das Gegenmittel gegen Bendsch.

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232. Nacht – Cuba sí, Cuba nó!

Ein seltsames Phänomen, dass der Hype um bestimmte öffentliche Personen bei vielen eine abschreckende Wirkung hat, eben weil es ein Hype ist. Diese Abschreckung überträgt sich dann auf die Person. So bin ich vorgestern gleich zweimal innerhalb von einer halben Stunde darauf hingewiesen worden, wie verschlagen und tückisch doch Barack Obama sei. Außerdem sei der Dalai Lama nur eine nützliche Figur des Westens. So aufgesetzt und stellenweise auch ekelhaft der Rummel um solche Leute sein mag, so vergisst man vielleicht auch manchmal, welchen Wandel gerade diese beiden schon durch ihr mutiges Auftreten bewirkt haben:

  • Obama, der in den USA den Mut hat, die internationale Gemeinschaft wieder wahrzunehmen, der sich für die Menschenrechte einsetzt, der seine eigene Fehlbarkeit unterstreicht usw. usf. Fast jede seiner Reden sind bemerkenswert (die Berliner Rede stellt, wie hier bereits erwähnt, eine Ausnahme dar).

  • Den Dalai Lama zu bashen ist gerade seit dem Aufstand in Tibet offenbar ein Modesport unter den Linken geworden. Gerade als wolle man sich des Funktionierens der alten Reflexe versichern.

So wie am Sonnabend  beim Joggen im Stadtpark in der Parkaue. Ein Fest der Arbeitsgemeinschaft "Cuba sí", die zur Linken gehört. Als ich ankomme, wird wie üblich die Freilassung des Amerikaners Abu Mumia-Jamal gefordert. Gleich danach sitzen kubanische Funktionäre auf dem Podium, sprechen von pueblo, patria und Fidel – zu deutsch: Führer, Volk und Vaterland. Dass es die Todesstrafe auch auf Kuba gibt, dass dort hunderte politische Gefangene einsitzen, nur weil sie "socialismo o muerte" nicht als zwingende Alternative empfinden, wird hübsch ausgeblendet. Verehrt werden der Mörder Che Guevara, der Stalinist Thälmann, der altersstarrsinnige Diktator Castro, schöne Familienstimmung.

**

Bahâdur, der Eigentümer des Hauses, blickt um die Ecke und sieht el-Amdschad bleich vor Schreck, während die Dame nichts mitbekommt. Er gibt ihm ein Zeichen, zu ihm zu kommen. El-Amdschad entschuldigt sich bei der Dame,

dass er Wasser lassen wolle

und berichtet Bahâdur die Geschichte. Dieser tröstet ihn und verspricht ihm, das Spiel mitzuspielen.

"Wenn ich zu dir komme, so schilt mich und sprich: ‚Warum bis du so lange ausgeblieben?’"

Außerdem möge el-Amdschad ihn ruhig schlagen und keine Ausreden akzeptieren. El-Amdschad geht nun zur Dame zurück, die beiden trinken und scherzen. Tatsächlich tritt Bahâdur mit einer schlechten Ausrede ein, und

el-Amdschad schlug ihn leicht. Aber nun sprang die Dame auf, riss ihm den Stock aus der Hand und fiel mit so heftigen Schlägen über Bahâdur her, dass ihm vor Schmerzen Tränen über die Augen rannen und dass er um Hilfe rief und mit den Zähnen knirschte.

Vor Schmerz mit den Zähnen knirschen?

Bahâdur fällt in Ohnmacht, und der Dame ist es noch nicht genug, sie will ihn tot sehen.

Da riss er ihr das Schwert aus der Hand und hieb auf den Nacken der Dame, so dass ihr der Kopf vom Rumpfe flog und auf den Hausherrn niederfiel.

Dieser staunt nicht schlecht, als er erwacht. Um el-Amdschad zu schützen, wickelt er die Leiche in einen Mantel und legt sie in einen Korb, um sie im Meer zu versenken, doch am Ufer wird er von der Wache des Königs gestellt. Der König revidiert daraufhin sein Urteil über den freigelassenen Sklaven:

"Wehe dir! Du tust immer dergleichen (…)! Wie viele Morde magst du schon vor diesem begangen haben!"

225. Nacht – Obama in Berlin

Besuch Obamas in Berlin.

16.10 Uhr

16:20 Uhr
17.30 Uhr
18.00 Uhr

20 Uhr

Die vielgelobte Rede hielt ich dann doch für enttäuschend, da erwartbar. Wenig, was man nicht auch vorher schon gehört hätte. Anders als sonst ging er wenig auf die Situation ein. Eine sich scheinbar ewig hinziehende Passage über die Luftbrücke, ein Thema, das eher in die verschnarchte Sonntagsausgabe der „Berliner Morgenpost“ passt. Statt eines markigen Satzes (Kennedy: „Ich bin ein Berliner“; Reagan: „Tear down this wall“) blieb er vorsichtig und zitierte sicherheitshalber Ernst Reuter: „Schaut auf diese Stadt!“, ohne das Risiko auf sich zu nehmen, in peinliches Deutsch zu rutschen.

Zweimal kam er auf das Heroin-Problem in Berlin zu sprechen. Nicht dass es das nicht gäbe, aber für eine westliche 3,5-Millionen-Stadt ist die Rate der Opfer nicht wesentlich höher als anderswo (173 „Drogentote“ zählte man 2006 in Berlin, Alkohol-Opfer wie immer nicht einberechnet). Er erwähnt die in der Innenstadt noch sichtbaren Einschusslöcher an den Gebäuden aus dem 2. Weltkrieg. Unwahrscheinlich, dass er selbst welche gesehen hat.


Er bedankt sich bei Merkel und ist offensichtlich von den daraus resultierenden Buhs irritiert.
Seine Allgemeinplätze scheinen sich nach Hillary Clintons Rückzug zu häufen. Er taktiert eher und verliert an Charme. (Ich kurz bei 1:18 im Bild)
Oder bin ich einfach nur enttäuscht, weil ich dreieinhalb Stunden gewartet habe und ein Meter Entfernung vom Zaun dann doch zu groß ist, um ihm die Hand zu schütteln?

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Am Abend Trost bei meinem ersten Chaussee-der-Enthusiasten-Open-Air-Auftritt

20:55 Uhr

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In den Kleidern seiner Söhne findet Kamar ez-Zamân die Liebesbriefe seiner Gattinnen, und sieht nun, dass er el-As’ad und el-Amdschad unschuldig zum Tode verurteilt hat. Er lässt ein Haus bauen

das nannte er das „Haus der Trauer“

Ironie: Auch für ihn selbst gibt es ein „Haus der Trauer“ in Chalidân.

Er improvisiert Trauerverse.

In dem für el-As’ad gelingt dann doch stellenweise hübsche Poesie.

Ach, gern wollt ich das Urteil mit dir teilen;
Doch anders wollte Gott, als ich gedacht!
Schwarz machte ich die Welt vor meinem Blicke;
Des Auges Schwärze hab ich weiß gemacht.
Die Tränen, die ich wein‘, versiegen nimmer;
Mein wundes Herze ist an Schwären reich.
Wie schwer ist es für mich, dich dort zu wissen,
Wo Knecht und Edelmann einander gleich!

Die Brüder el-Amdschad und el-As’ad wandern indessen erschöpft durchs Gebirge.