Rechtfertigen im Improtheater (5) – Wie rechtfertigen wir? Taktik 1 – Nachfragen

Nachfragen ist eigentlich kein Rechtfertigen im engeren Sinne. Es ist eher eine Taktik, um für sich selbst soweit Klarheit in die Szene zu bekommen, dass man weiterspielen kann. Von Puristen wird diese Taktik bisweilen als zu holperig, negativ, zaghaft und unelegant abgelehnt. Das hat damit zu tun, dass die meisten Improspieler ihre Nachfragen negativ oder zaghaft hervorbringen.

„Was machen Sie denn da? Das geht aber nicht!“
oder
„Ähm, ich verstehe nicht. Wo fahren wir jetzt hin?“

Das Problem ist nicht nur, dass die Unsicherheit und Angst des Spielers hier zu sehr durchscheint. Ein Spieler, der nicht den Mut hat, selbst zu definieren, und stattdessen alles seinen Partnern überlässt, oder jemand, der mit seiner Angst jeglicher Tätigkeit Einhalt gebietet, ist nicht schön anzuschauen (und verschließt auch nach und nach den eigenen Geist).
Um Nachfragen einigermaßen elegant zu gestalten, sollten sie die Szene nicht allzu sehr aufhalten, sondern höchstens kurz pausieren bzw. zu ihrem emotionalen Gehalt beitragen („ausbreiten“). Wie könnte in unserem Vogelzähler-Beispiel die Evi-Spielerin ihre Unklarheit beseitigen, ohne ihren Partner zu doof aussehen zu lassen?

Er: Du bist nun lange genug dabei. Blaumeise! Blaumeise! Sperling!
Sie: Ich habe nicht dein Talent und deinen Blick.
Er: Das Einzige, was dir fehlt, ist Selbstvertrauen. Blaumeise! Eichelhäher!
Sie (immer noch auf dem Schlauch stehend): Ach Bertram, manchmal frage ich mich, was wir hier eigentlich machen.

Der Satz funktioniert sowohl szenisch als auch spielerisch. Szenisch, weil er die emotionale Beziehung der beiden verstärkt. Und spielerisch, weil das Signal an den Mitspieler („Sag mir bitte, was dein Angebot bedeuten soll!“) deutlich genug ist.
Oder denken wir an unsere Mutter-Sohn-mit-schwerer-Tür-Szene.

Er zeigt ihr Bilder in einem Buch, das sie von seiner Mission überzeugen soll.
Mutter: Na schön, Sören. Wenn du es denn unbedingt willst.
Sohn: Danke dir Mama. Dann lass uns jetzt gehen.
Sohn öffnet eine schwere große Tür. Sie folgt ihm. Er zieht sich aus und beginnt zu duschen.
Mutter (die als Spielerin nicht kapiert): Sören, du weißt, ich liebe dich und ich vertraue dir. Aber manchmal werde ich aus dir einfach nicht schlau.

Auch hier funktioniert ihr Angebot auf szenischer und spielerischer Ebene. Wenn du selbst eine subtile Nachfrage hörst, gehe ohne Umschweife darauf ein und hilf der Partnerin aus der Patsche, auch wenn die Sache für alle anderen, inklusive Publikum, schon längst klar ist. Sei klar und frei heraus, statt ihr nur kleine Hinweise zu geben und sie weiter rätseln zu lassen.

Beim Waschen der Füße nach langer Reise

Nun hab ich euch, Füße, in fremden und
bisweilen recht fernen Ländern probiert,
mal mühelos, geschmeidig, vertraut fast,
als wäre ich längst schon dort heimisch.

Doch birgt die Scheinvertrautheit Tücke,
und bald hielt Einsamkeit mich gefangen,
schlimmer als an jenen Gestaden,
wo ich nie Tritt zu fassen vermochte.

So wasch von euch ich den Staub der Fremde,
die ihr mich trugt, oft unbeachtet.
Fremd oder daheim, ihr fragt nicht.
Ihr tragt mich.

Rechtfertigen im Improtheater (4) – Wann rechtfertigen wir?

In Rechtfertigungs-Games rechtfertigen wir logischerweise sofort und ohne Umstände.
Ansonsten hängt der Zeitpunkt des Rechtfertigens davon ab, mit wieviel Unsicherheit die Spieler und die Zuschauer leben können. Schauen wir uns diese kleine Szene an.

Frau und Mann. Beide schauen Richtung Publikum.
Sie: Bist du dir sicher, Bertram, dass du kündigen willst?
Er: Ja, Evi. Es ist Zeit für eine Veränderung. Amsel!
Sie: Du würdest mir die gesamte Verantwortung aufhalsen.
Er: Du bist nun lange genug dabei. Blaumeise! Blaumeise! Sperling!
Sie: Ich habe nicht dein Talent und deinen Blick.
Er: Das Einzige, was dir fehlt, ist Selbstvertrauen. Blaumeise! Eichelhäher!

Wie lange halten die beiden diesen Dialog durch, ohne aufzulösen, warum Bertram am Ende jedes Satzes Vogelarten nennt? Als Zuschauer können wir mit der zunächst etwas bizarren Situation durchaus eine Weile leben (vielleicht sogar länger als die Spieler auf der Bühne). Wenn allerdings die Szene vorbei ginge, ohne dass das seltsame Verhalten Bertrams aufgelöst würde, wären wir irritiert.  Das heißt, beiden dürfte klar sein, dass eine solche Verhaltensweise einer Auflösung bzw. Rechtfertigung bedarf. Aber wann? Das hängt letztlich vom Vertrauen der Spieler und dem Verlauf der Szene ab.
Ein gut eingespieltes Paar oder sehr erfahrene Spieler können die Sache erst einmal laufen lassen, bis sich ein organischer Moment findet. Wenn wir uns aber unsicher sind und außerdem zusätzliche unbekannte Variablen hinzukommen, die das Ganze unübersichtlich werden lassen, rechtfertigen wir lieber schnell.
In dem genannten Beispiel wäre anzunehmen, dass der Spieler des Bertram zumindest eine Vorstellung davon im Kopf hat, was sein Angebot bedeuten könnte. Als Mitspielerin kann ich in diesem Fall etwas entspannen und schauen, ob er es nicht selbst auflöst. Umgekehrt sollte der Bertram-Spieler aufmerksam sein und darauf achten, ob sein doch recht seltsames Angebot verstanden und aufgenommen wird. Falls die Mitspielerin nicht weiter darauf eingeht, könnte es sein, dass das Angebot nicht angekommen ist oder sie einfach auf einen Zug von ihm wartet.


Sie: Ich habe nicht dein Talent und deinen Blick.
Er: Das Einzige, was dir fehlt, ist Selbstvertrauen. Blaumeise! Eichelhäher!
Sie: Du bist es, der mir fehlen wird, Bertram.
Er: Evi, ich bin verheiratet. Sperling! Amsel! Ich korrigiere: Sperling! Star! Vierter Mai, Tegeler See, 12:10 Uhr. Ende der Vogelzählung. (Drückt auf den Knopf seines Diktiergeräts.)

(Wird fortgesetzt.)

Ehegelöbnis

In unserem Zusammenleben
soll Fairness unsre Regel sein.
Man halte nicht den andern klein,
so dass wir zwei zum Glücke streben.
Und sollten wir einander stressen,
so schenken wir uns Raum und Zeit,
dass Friede kommt nach jedem Streit,
Wir wolln das Spielen nicht vergessen.
Die Zärtlichkeit sei unser Netz.
Und Liebe unser Grundgesetz.

Rechtfertigen im Improtheater (3) – Aber sollen wir auch fürs Publikum rechtfertigen?

Über diese Frage werden immer wieder heftige Debatten geführt. Gegner des ostentativen Rechtfertigens meinen, dass das Publikum das zu Rechtfertigende wahrscheinlich ohnehin verstehen würde, wenn die beiden Spieler es verstehen. Mithin sei eine verbale Rechtfertigung nicht nötig. Befürworter führen ins Feld, dass Dutzende Impro-Games genau darauf hinauslaufen: Das Irritierende sofort zu rechtfertigen und in die Szene ein-zubauen. Ein großer Teil der Impro-Komik ziehe ihre Kraft aus dieser sichtbar gemachten Fähigkeit der Improspieler.
Beide Seiten haben auf ihre Weise Recht. Ich denke, es hängt von der spezifischen Impro-Situation ab, in der man sich befindet. In einem Impro-Spiel, das auf verbales Rechtfertigung fokussiert, wäre es idiotisch, genau das nicht zu tun. Und tatsächlich freuen wir uns als Zuschauer, einem Improspieler, der durch ein Angebot kalt erwischt wurde, dabei zuzuschauen, wie er seine gesamte kreative Energie darauf legt, die Irritation kreativ zu verwenden. Wir lachen, wenn wir sehen, wie sich der Improspieler abmüht. Er leidet für uns.
Das Problem ist nur, dass das Lachen des Publikums über diese Irritationen viele Improspieler süchtig macht. Sie vergrößern absichtlich ihre Irritation, thematisieren Fehler und wollen vom Publikum für ihre ach so tolle Situationskomik bewundert werden. Wenn wir jede kleine Irritation auf diese Weise überhöhen, selbst wenn man darauf vertrauen kann, dass sich das Ganze schon bald von selbst ergeben wird, dann bleibt unsere Improvisation eitel und kommt auch zeitlich nicht von der Stelle, weil wir damit beschäftigt sind, jeden einzelnen Schritt zu thematisieren. Wir landen dann in einer Rechtfertigungs-Orgie. Zu viel explizites Rechtfertigen hemmt den Fluss der Szene. Um es kurz zu sagen:

Explizites Rechtfertigen – so viel wie nötig und so wenig wie möglich.

Noblesse oblige

Zwanghaft wolln sie alten Glanz bewahrn.
Dinosaurier der modernen Zeiten.
Zähln sich immer noch zu edlen Leuten.
Doch es ist vorbei seit hundert Jahrn.

Während Privilegien entgleiten,
muss man doch in altem Stil verharrn,
darf sich stets nur miteinander paarn
und am Ende übers Erbe streiten.

Dass sich bitte keiner hier beschwere!
Hältst du dich brav an die Etablierten –
Netzwerkarbeit, feine Weine trinken –
können Geld und Macht und Ruhm dir winken,
eine glänzende Finanzkarriere
und ein Foto in der Illustrierten.

Rechtfertigen im Improtheater (2) – Für sich selbst und den Mitspieler rechtfertigen

Hier zur Erinnerung die Ausgangsszene:
Etabliert sind Mutter und Sohn
Sie diskutieren, ob er einen Job im Amazonas-Dschungel annehmen soll. Dabei zeigt er ihr Bilder in einem Buch, das sie von seiner Mission überzeugen soll.
Mutter: Na schön. Wenn du es denn unbedingt willst.
Sohn: Danke dir Mama. Dann lass uns jetzt gehen.
Sohn öffnet eine schwere große Tür.

Wenn ich für mich selbst das Angebot große, schwere Tür positiv aufgenommen, das heißt innerlich gerechtfertigt habe, gibt es eigentlich keinen besonderen Zwang, die Existenz der großen, schweren Tür irgendwie zu begründen. Sie ist eben da. Fertig. Sie kann die Tür zum Bank-Safe sein, ein Fabriktor, die Tür des Rathauses, höchstwahrscheinlich aber nicht die Tür zum privaten Badezimmer. Vielleicht gibt mir mein Partner in den nächsten Momenten (oder auch erst in fünf Minuten) verbal oder pantomimisch zu erkennen, wo wir uns befinden.

  • „Der brasilianische Botschafter freut sich schon darauf, dich kennenzulernen.“ (Wahrscheinlich sind wir im Botschaftsgebäude.)
  • Sicherheitsschleusen werden passiert und weitere schwere Türen geöffnet. (Gefängnis, Tresorraum oder etwas Ähnliches.)
  • Mutter kniet nieder bekreuzigt sich, erhebt sich und sagt: „Pfarrer Tschernawski wird uns sicherlich einen guten Rat geben.“ (Ah, wir sind in einer Kirche.)

Wenn mein Partner und ich mit dem Flow gehen, wird sich der Ort bald von selbst ganz natürlich herausstellen. Wenn ich aber merke, dass wir beide unsicher sind und vorm Definieren zurückschrecken, dann ist es besser, ein paar Pflöcke füreinander in den Boden zu rammen. Ich sagte eben, dass ich es unwahrscheinlich empfinden würde, dass das Szenario Schwere Tür in einem Badezimmer spielt. Wie aber soll ich dann reagieren, wenn er plötzlich mimt, sich auszuziehen und zu duschen?
Wenn sie ein Angebot nicht einordnen können, gehen die meisten Spieler davon aus, ihr Partner habe noch eine Idee in petto, die das alles erklären wird. Sie beginnen dann, vorsichtig zu spielen, werden langsamer und weniger engagiert, da ihr Geist nur damit beschäftigt ist, ihren Partner zu lesen, um herauszufinden, was zum Teufel er ausheckt. In der Folge kommt die Szene ins Stocken. Vielleicht hat ja der Partner auch gar nichts weiter in petto, sondern will die Szene nur ein bisschen mit einem irritierenden blinden Angebot aufpeppen. Oder seine Pantomime war einfach ein bisschen schludrig und die Tür in seinen Augen gar nicht so schwer, wie es auf mich gewirkt hat. Das Problem ist nun: Wenn mein Kopf die ganze Zeit mit diesen Optionen beschäftigt ist, verliere ich den Moment des Zusammenspiels. Deshalb rate ich dazu, in Situationen wie diesen, in denen die Irritation überhand zu nehmen droht, das Seltsame zu rechtfertigen, auch wenn es unbeholfen oder holprig erscheinen mag:

„René, denkst du bitte dran, nach dem Duschen die Tür des Badesaals zu ölen? Du merkst ja selbst, wie schwer sie inzwischen geht.“

Ob mein Partner „Badesaal“ im Kopf hatte oder nicht, ist egal. Was in meinem oder deinem Kopf vorgeht, ist für die Szene irrelevant. Entscheidend ist, was etabliert wird.
Selbst wenn mein Partner mit seinem vagen Angebot etwas anderes im Sinn gehabt hatte, dürfte er nun froh darüber sein, dass wir beide wieder festen Boden unter den Füßen haben.

Morgendliche Lektion

Meines Spiegels scharfe Reflexionen
lehrn mich unbarmherzige Lektionen.
Ins Gesicht des frühren glatten Jungen
ist die äußre Welt scharf eingedrungen.
„All das ist Erfahrung“, könnt ich mich belügen.
Doch das Alter würd’ die Haut auch so besiegen.
Und so pflügt die Zeit des Antlitz’ Falten.
Lach gequält ich: Alles bleibt beim Alten.
Aber durch des Lächelns heitres Spiel
lern ich: Schenk dir selber Mitgefühl.

Rechtfertigen im Improtheater (1) – Was ist Rechtfertigen?

(Dies ist der erste Teil einer Serie zum Thema Rechtfertigen.)

Um meine Angebote und deine Angebote miteinander zu verzahnen, müssen wir

  • diese Angebote überhaupt erst einmal akzeptieren, 
  • etwas zu den Angeboten hinzufügen
  • Zug um Zug spielen, damit Akzeptieren und Hinzufügen überhaupt möglich werden.

Das Problem ist natürlich, dass wir als Improspieler permanent mit Unerwartetem konfrontiert werden. Das heißt, wir sind praktisch gezwungen, Inhalte einzubauen,

  • mit denen wir nicht rechnen,
  • die mit unserer Konzeption der Szene nicht übereinstimmen
  • die beim ersten Betrachten gar „unpassend“ erscheinen.

Diese Fähigkeit, das Unerwartete szenisch sinnvoll einzubauen, nennen wir Rechtfertigen.
Viele Zuschauer empfinden gerade diese Fähigkeit bei Impro-Schauspielern als genial. Sie vermuten ein geradezu übernatürliches Talent und außerordentliche kreative Begabung dahinter. In Wirklichkeit ist diese scheinbar geniale Fähigkeit vor allem eine Geisteshaltung: Wir müssen auf der Bühne den skeptischen, prüfenden Verstand hinter uns lassen und freudig das Unbekannte mit einem kräftigen „Au ja!“ umarmen.
Das ist natürlich leichter geschrieben als getan. Ich bin der festen Überzeugung, dass auch dieser geistigen Haltung eine körperliche Haltung entspricht: Wenn ich auf ein unerwartetes Angebot hin den Kopf zurückziehe, die Stirne krausziehe und womöglich auch noch den Kopf schüttle, erscheint mir das „seltsame Angebot“ einfach immer dümmer, abseitiger, sinnloser. Wenn ich hingegen freudestrahlend auf es zugehe, nicke, mich auch körperlich für es öffne, feuern die Nervenbahnen im Gehirn und die Wahrscheinlichkeit erhöht sich ungemein, dass sich mir ein Sinn des Angebots auf irgendeine Weise erschließt. Ich schreibe „ein“ Sinn, nicht „der“ Sinn, da ein Angebot nie nur einen Sinn hat. Das heißt, es geht nicht so sehr darum, zu erraten, was mein Mitspieler mit dem Angebot bezweckt, sondern dem Angebot selbst einen Sinn zu verleihen.
Stellen wir uns folgende Szene vor:

Etabliert sind Mutter und SohnSie diskutieren, ob er einen Job im Amazonas-Dschungel annehmen soll. Dabei zeigt er ihr Bilder in einem Buch, das sie von seiner Mission überzeugen soll.Mutter: Na schön. Wenn du es denn unbedingt willst.Sohn: Danke dir Mama. Dann lass uns jetzt gehen.Sohn öffnet eine schwere große Tür.

Wenn ich als Spielerin der Mutter jetzt erwartet habe, dass die beiden sich gerade im Wohnzimmer befinden, dann dürfte ich von dem Angebot öffnet eine schwere große Tür ziemlich überrascht sein. Die Frage ist, wie ich innerlich mit der Irritation umgehe: Wenn ich der Irritation Nahrung gebe oder gar meinen Mitspieler infrage stelle, werde ich nur schwer eine Möglichkeit finden, dieses Angebot zu rechtfertigen, denn dann habe ich mich ja schon längst aus dem Spielmodus verabschiedet.
Um rechtfertigen zu können, muss ich den Fluss des Spielens aufrechterhalten. Ich muss mich von den vorgefassten Vorstellungen und Plänen verabschieden. Meine Aufgabe als Improvisierer ist es nicht, großartige Ideen zu produzieren, sondern aus den Angeboten der Mitspieler etwas Großartiges zu bauen.
Für den Spieler des Sohnes könnte die schwere große Tür etwas völlig Offensichtliches sein oder auch ein blindes Angebot an dich. Wie auch immer – du musst es zunächst für dich innerlich rechtfertigen.
Aber wer im Improtheater von Rechtfertigen spricht, meint meist weniger die innere Rechtfertigung, sondern die äußere. Unter der äußeren Rechtfertigung verstehen wir das explizite Verdeutlichen und Klären des irritierenden Angebots.
Es stellen sich nun drei Fragen: Für wen, wann und wie rechtfertigen wir?
(Wird fortgesetzt.)

Unglaube

Im Lebenswirrwarr dieser Postmoderne
kann man sich leicht im Nirgendwo verlieren.
Wenn wenig gilt, so schaut man in die Ferne.
Ein Glaube hilft, sich klar zu orientieren.

Doch was der Glaube nicht verändern kann,
ist, dass in ander’n auch ein Glaube ruht.
So kommt’s zum Glaubensüberbietungswahn.
Wer wenig glaubt, erzeugt in euch die Wut.

Und wer nicht glaubt, den schlagt ihr einfach tot,
als wüsche fremdes Blut die eignen Sünden rein.
Wenn nicht zu glauben euren Gott bedroht,
wie wacklig muss dann euer Glaube sein.

Die Improvisation nicht thematisieren

Eine kleine Falle, in die auch Profis immer wieder tappen, ist, die Improvisation als solche zu thematisieren oder indirekt auf sie zu verweisen.

„Herr Schimmelmayer, was werden Sie tun, wenn Sie in drei Wochen in Rente gehen?“
„Ich weiß nicht, was ich tun werde. Ich weiß nicht einmal jetzt, was ich in einer Minute tun werde. Ich bin eher so ein spontaner Typ.“

Im Grunde ist es eine Form das Gagging: Der Spieler nimmt sich aus der Figur und aus Szene heraus und kokettiert mit dem Publikum. Wie so oft beim Gagging ist ihm auch ein Lacher sicher, und wahrscheinlich wird er von einzelnen Zuschauern auch noch für besonders smart gehalten. Das Problem ist nur, dass sich der Spieler hier vom Mitspieler und von der Szene löst und beider wahrscheinlich wieder eine Weile brauchen, um die Tiefe zurückzuerobern.
Eine andere Variante, in der die Improvisation thematisiert wird, ist der Verweis auf die Fehler, sei es die eigenen oder die der Mitspieler. Das nimmt meistens die Form des Über-Rechtfertigens an:

Spieler A läuft durch die Stelle, an der ein paar Minuten zuvor ein Tisch etabliert wurde.
Spieler B: Na, ein Glück haben wir den Tisch vorhin auf die andere Seite des Zimmers geschoben, sonst wärst du ja gerade mitten durch unser Mobiliar gelaufen.
Spieler A: Ja, das passiert mir immer wieder, dass ich durch Möbel und geschlossene Türen gehe. (läuft demonstrativ durch eine Wand.)

Der erste Halbsatz von Spieler B hätte völlig ausgereicht, um den kleinen Fehler geradezurücken. Der Nachsatz „sonst wärst du ja gerade mitten durch unser Mobiliar gelaufen“ eröffnet aber das neue Gagging-Spiel für den Mitspieler, und schon verlieren wir den Kern der Szene.
Geht also sparsam mit euren Rechtfertigungen um. Die Zuschauer wissen, dass ihr improvisiert. Man muss ihnen nicht noch extra zeigen, dass man mit ihnen auf einer Seite steht.

Sympathie

War’s ein flüchtig Lächeln, das ich glaubt’ zu haschen?
Hallte ihre Stimme in mir nach?
Kurz blieb ich stehen, doch mit raschen
Schritten folgt ich ihr. Und in mir sprach
die Stimme meines Sehnens, meiner Lüste.
Wie töricht diese Stimme ich auch achte –
ich hör ihr zu, obwohl ich’s besser wüsste.
Das Herz schlägt seinen Beat zu irren Tänzen
der Sympathie ganz ohne Konsequenzen.

Einander glänzen lassen

Improspieler sind nie perfekt. Selbst den erfahrenen, professionellen Spielern unterlaufen grundlegende Fehler: Angebote werden übersehen oder ignoriert, es wird zu unspezifisch gespielt, Figuren werden unsauber angelegt usw. Das heißt aber umgekehrt auch, dass jeder Improspieler nicht nur mit seiner eigenen Imperfektion klarkommen muss, sondern auch mit der Imperfektion des Gegenübers. Zusätzlich zu den Fehlern und Schlampereien unserer Mitspieler müssen wir auch ihre Angebote annehmen, die wir nicht verstehen, die uns sinnlos erscheinen, weil wir den Subtext nicht kapiert haben. Und bei all dem müssen wir den Ball im Spiel lassen.
Wie reagieren wir technisch darauf? Wir nehmen das Angebot an und reagieren groß darauf.

„Es ist fünfzehn Uhr, Lennart. Bist du nicht ein bisschen spät?“„Tut mir leid, Herr Timmermann.“„Und die Degen hast du offenbar auch vergessen!“(Die Degen? Was für Degen?, mag sich der arme Improspieler fragen, der vielleicht eine Mathematikstunde oder die Beichte imaginiert hat. „Degen“ scheint nun wirklich ein etwas wildes Angebot.)„Oh nein! Oh nein! Ich hab die Degen in der U-Bahn liegengelassen! Herr Timmermann, bitte sagen Sie nichts meinen Eltern!“

Durch die große Reaktion wird das Degen-Angebot erst groß und wirkt wie ein genialer Zug im Storytelling. Schauen wir uns das Gegenteil an.

„Es ist fünfzehn Uhr, Lennart. Bist du nicht ein bisschen spät?“
„Tut mir leid, Herr Timmermann.“
„Und die Degen hast du offenbar auch vergessen!“
„Was? Ja. Aber dafür habe ich Ihnen ein paar neue Bibeln für den Kon-firmationsunterricht mitgebracht.“

Der Spieler hängt hier so sehr an seiner Idee, dass er das Angebot des Mitspielers zwar nicht völlig blockiert, aber doch so sehr in die Bedeutungslosigkeit schiebt, dass die Impro-Arbeit des Mitspielers fast nutzlos erscheint.
Unsere große Reaktion auf das Angebot unseres Mitspielers hat auch den Effekt, dass nicht nur das Angebot genial erscheint, sondern auch unser Mitspieler selbst. Und nun stelle man sich eine Show vor, in der sich sämtliche Improspieler permanent gegenseitig wie Genies behandeln. Eine solche Show und eine solche Gruppe wirken wie eine Sensation. Grundlage dafür ist natürlich, dass wir uns unserer Eitelkeiten entledigen müssen. Es geht nicht um die Anerkennung, die ich auf der Bühne bekomme, sondern es geht um die gesamte Show.
Unsere große Reaktion auf das Angebot unseres Mitspielers hat auch den Effekt, dass nicht nur das Angebot genial erscheint, sondern auch unser Mitspieler selbst. Und nun stelle man sich eine Show vor, in der sich sämtliche Improspieler permanent gegenseitig wie Genies behandeln. Eine solche Show und eine solche Gruppe wirken wie eine Sensation. Grundlage dafür ist natürlich, dass wir uns unserer Eitelkeiten entledigen müssen. Es geht nicht um die Anerkennung, die ich auf der Bühne bekomme, sondern es geht um die gesamte Show.
Und so sehen wir, dass die Technik, groß zu reagieren, nur eine Seite der Medaille ist. Wir brauchen auch eine mentale Haltung zu unseren Mitspielern, die sie befreit von der permanenten Selbstkontrolle. Es ist als gehe man mit dem Mantra „Mein Mitspieler ist ein Genie“ auf die Bühne. Eine Show, die mit dieser Kraft gespielt wird, wächst über sich hinaus.

Kein Wunder

Handaufleger, Homöopathen,
Wunderheiler aller Arten.
Tibet-Salze, Wasser-Schwingung.
Nur der Glaube ist Bedingung.

Schicksals-Lenkung durch die Sterne.
Böse Pharmazie-Konzerne.
Lieber Zuckerkugeln schlucken
als denen Geld in’ Rachen spucken.

Wi-Wa-Wunder bitte sehr.
Ick wunder mir über jar nischt mehr.
Quacksalbern das Ohr geliehn,
die aus der Tasche Geld dir ziehn.

Nobles Schweigen

Es geht auf Neun. Die Sangha schweigt.
Die Stille wird zum edlen Band.
Gemeinschaft sich verbunden zeigt
mit jedem einzelnen Verstand.

Die Glocke ruft uns aus dem Schlaf.
Bis nach dem Frühstück bleibt man still,
teils weil man nicht sprechen darf,
teils weil man nicht sprechen will.

Begegnung am Bahnhof Zoo

Zum Bahnsteig hoch! Mir schmerzten schon die Beine,
so rannte ich. Die Türen gingen zu.
Der Zug fuhr fort, doch ich war nicht alleine.
Am andern Ende dieses Bahnsteigs: Du.

Ein Lächeln, so als kennte man sich ewig.
Drei Stunden, und dann kommt die nächste Bahn.
Spaziern im Zoo. Und vor dem Puma-Käfig
hast du den Tau gewischt aus meinen Haarn.

Du schautest auf den Grund von meinem Wesen.
Ich weiß, ich sah auch deine Seele klar.
So wie verbotnes Tagebücherlesen,
so nackt, so tief und ungeheuer wahr.

Die Zeit! Der Zug! Vorbei am lila Flieder.
Den Bahnsteig hoch! Zum Abschied schnell umarmen.
„Am Sonntag hier!“ Ich sah dich nie mehr wieder.
Und ach, ich kannte nicht mal deinen Namen.

Auf der Suche nach dem Glück

Klar: Wir können unser Glück nicht halten.
Glücklich werden können wir versuchen.
Glück ist flüchtig. Und bald ist’s beim Alten:
Dass wir jedem unsrer Tage fluchen.

Weiser scheint’s, mit Glücklichsein zu starten.
Denn das Werden ist im Sein bereits verborgen.
Vorteil: Ich muss gar nicht lange warten,
ob das Glück kommt vielleicht übermorgen.
Jeder Tag ist meines Glückes Garten,
find mein Glück ich selbst in meinen Sorgen.

Benefiz-Shows

Es mag hart klingen, aber Benefiz-Shows sind in den allermeisten Fällen eine Katastrophe. Das hat folgenden Grund: Bei Benefiz-Veranstaltungen versuchen die Veranstalter meistens eine riesige Menge an Künstlern zu gewinnen. Am besten viel, am besten alles, am besten zugleich. Oder sie sind so sehr mit ihrem politischen oder sozialen Anliegen beschäftigt, dass ihr nur noch eine kleine Rolle spielt. Die Folge ist häufig ein organisatorisches und technisches Chaos. Da das Geld als Druckmittel fehlt, sehen sich manche Veranstalter nicht mehr an Vereinbarungen gebunden.

„Ihr müsst jetzt doch parallel zur Band spielen. Aber das stört euch doch nicht, oder? Improvisiert doch einfach, höhöhö.
Es gibt zum Essen doch nur noch kaltes Chili con carne.
Ich weiß, wir hatten Headsets vereinbart, aber ich kann jetzt den Olli nicht erreichen.“

Macht Ausnahmen nur dann, wenn es sich um professionelle Veranstalter handelt, die solche Shows mehrfach organisiert haben und wenn es nicht parallele (musikalische) Veranstaltungen gibt.
Und wer eine Benefiz-Show obendrein Open Air spielt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit ein hohes Lehrgeld zahlen.

Richtig popichtig

Fein geblasen die Oboe!
Stolz neigt sich der Oboist.
Kein Verriss ihm heute drohe,
weil’s so hübsch geraten ist.

Und der Kritiker nückt wüchtig:
„Sein Spiel war heute ziemlich gut.
Jeder Ton präzis und richtig,
wie man’s mit Oboen tut.“

Doch war Richtigkeit im Grunde
nie des Oboisten Ziel.
Spiel’n wir frei wie junge Hunde,
finden wir den eignen Stil.