Wer anfängt Improvisationstheater zu lernen, wird man meistens mit ein paar Regeln konfrontiert, die in ihrer Funktionsweise faszinierend sind, wenn man sie beachtet.
- „Sag einfach Ja.“ Wir beachten die Regel, und plötzlich brechen die Dämme der innehaltenden Vernunft, die Improvisation scheint einfach zu fließen.
- „Akzeptiere die Angebote.“ Wir beachten die Regel, und es gibt keine Irritation mehr, kein Fragen nach dem Warum, es läuft einfach wie von allein vorwärts.
- „Starte positiv!“ Wir beachten die Regel, und schon interessiert sich das Publikum für unsere Figuren.
Das Frappierende ist dabei, dass jede Regel im Grunde eine Handlungseinschränkung darstellt. Jede Aufforderung, etwas zu tun, beinhaltet die implizite Aufforderung etwas anderes nicht zu tun. Also zum Beispiel: Starte positiv, aber nicht negativ. Die Handlungseinschränkungen wirken aber nicht einschränkend, sondern befreiend! Das hat damit zu tun, dass die meisten Impro-Grundregeln unsere Angst attackieren. Wenn wir etwa Angebote akzeptieren und fortführen, werden wir dadurch positiv belohnt, dass wir erleben, wie eine Szene erblüht. Oder anders gesagt: Der Charme der Impro-Regeln besteht darin, dass sie funktionieren.
Problematisch wird es, wenn die Regeln zu einer Art Kanon festgeschrieben werden. Schuld ist hier oft ein statisches Lehr- und Lern-Verständnis in Workshops. Das betrifft sowohl Lehrer als auch Schüler.
In einem Workshop spielten Carolina und Markus eine Szene in einem Krankenhaus.
Markus: „Frau Doktor, Wird mir das Bein amputiert?“
Carolina: „Ähm, äh, ja, genau. Das Bein.“ (…)
Nach der Szene fragte ich Carolina, warum sie an der einen Stelle so stammelte.
Carolina: „In einem früheren Improkurs haben wir gelernt, dass man keine Fragen stellen soll. Deshalb hat mich Markus so irritiert mit seiner Frage. Das ist doch verboten.“
Nun ist der Impuls des Lehrers, der diese Regel aufstellte, zwar klar: Die Schüler sollen selbst behaupten, statt die Definitions-Arbeit anderen zu überlassen, aber dies in die Form einer solch dogmatischen Regel zu gießen, ist natürlich Schwachsinn. Aber ebenso muss sich die Schülerin fragen, ob sie da nicht selbst einen Hinweis zu einem Dogma aufgebaut hat. Ich erlebte zum Beispiel folgendes:
In einem anderen Workshop bat ich Ellen und Nina auf die Bühne: „Ihr seid vor einer Blockhütte in einem kanadischen Wald.“
Nina mimte Holz zu hacken und Ellen setzte sich auf den Hocker und mimte einen brummenden Bären.
Da sich Ellen schon in anderen Szenen immer wieder davor gedrückt hatte, verbale Angebote zu machen, sagte ich: „Ich würde es gern sehen, dass du diesmal einen Menschen spielst, der der anderen Person etwas Dringendes zu sagen hat.“
Monate später saßen Ellen und andere Improvisierer in einem Café und Ellen dozierte: „Von Dan haben wir gelernt, dass man keine Tiere improvisieren darf.“
Eine solche Regel wäre natürlich völlig hirnrissig. Was aber, wenn wir die Grund-Regeln nicht beachten – positiv starten, nicht verneinen usw.? Was, wenn wir sie gezielt brechen? Kunst entsteht schließlich oft dort, wo Regeln gebrochen werden.
Kann man sich nicht gute Szenen vorstellen, die mit einer Trauerfeier beginnen? (Nicht positiv.) Oder eine Szene, in der ein Angestellter es ablehnt, befördert zu werden? Oder gar eine Szene, die mit dem klassischen Impro-Vermeidungs-Satz „Was machen Sie denn da?“ beginnt? Natürlich geht das. Wenn wir kurz überlegen, ist es sogar möglich, eine Szene zu konstruieren, die alle drei genannten Beispiele in den Anfang inkorporiert.
Anfänger erklären oft ihre Mitspieler für geistesgestört, wenn sie mit deren Angeboten nichts anfangen können, oder sich selbst für ahnungslos, wenn sie Angst haben zu definieren. Infolgedessen wimmeln Anfänger-Szenen nur so von Verrückten, Betrunkenen und Minder¬be¬mittelten. Fortgeschrittene Spieler versuchen, solche Figuren eher zu vermeiden. Soll das aber heißen, dass es im Improvisationstheater keine Betrunkenen geben darf? Und was, wenn die Story einen Verrückten braucht?
Die Impro-Regeln sind also im Grunde Richtlinien oder Hilfsmittel, um unsere Angst zu besiegen, uns zum Miteinander zu bewegen und unsere Kreativität anzufachen. Je erfahrener wir sind und je leichter es uns gelingt, aus jeder Szene etwas Interessantes zu kreieren, umso eher können wir die meisten dieser Regeln hinter uns lassen.
Allerdings lohnt es sich auch für Profis, immer wieder auf sie zurückzukommen, denn unsere Impro-Flausen kehren auf die eine oder andere Art immer wieder zu uns zurück. Ein Beispiel: Langjährigen Impro-Spielern gelingt es durch die Erfahrung des Spielens und des geübten Zuschauens immer besser, hinter die Funktionsweise einer improvisierten Show und die Impro-Techniken zu blicken. Das führt quasi unweigerlich dazu, dass sie die Ansprüche an die eigenen Shows anheben, woraus sich wiederum leicht eine Anspruchshaltung gegenüber den Mitspielern entwickeln kann, die sich dann beim Spielen selbst in wählerischem Angebots-Blockieren äußert. (Und ein fortgeschrittener Spieler verfügt natürlich über ein verfeinertes Vokabular, sein Blockieren hinterher gegenüber anderen zu rechtfertigen.)
Als würden wir, wie in einer Spirale immer weitere Kreise ziehen, treffen wir auf unsere Impro-Sünden immer wieder, aber auf höherem Niveau. Und daher halte ich es für sinnvoll, die Grundlagen immer wieder zu trainieren.
Gibt es nun nach all dem Gesagten nicht doch ein Set eiserner Regeln, die nicht gebrochen werden sollten, wenn man Improtheater spielt? Ich denke, dass sich die Antwort bereits im Nebensatz „wenn man Improtheater spielt“ befindet.
- Theater
Um im Theater überhaupt irgendetwas zu erreichen, brauchen wir ein Minimum an schauspielerischem Handwerkszeug. Wir müssen zum Beispiel laut genug sprechen, damit man uns versteht, wir müssen unseren Körper gezielt einsetzen. Wir müssen bereit sein, in andere Figuren zu schlüpfen. usw.
- Improvisieren
Improvisieren bedeutet, kreativ mit dem umzugehen, was bereits da ist. In unserem Falle sind das unsere Mitspieler und unsere Assoziationen. Und das führt uns zur Grundregel des Zuhörens
- Spielen
Was auch immer beim Improvisieren geschieht – solange wir unsere spielerische Haltung nicht verlieren, sind wir selber nicht verloren. Egal, ob unser Mitspieler blockiert und negativ ist. Egal, ob wir sogar beide blockieren. Egal, ob unsere schauspielerischen Fähigkeiten begrenzt sind, egal ob uns Lang- oder Kurzformen liegen – das Spielerische entscheidet. Und so wird man bei genauerer Betrachtung auch sehen, dass viele Elemente, die ich hier als Grundlage bezeichne, Facetten des freien Spiels sind: Wenn wir wirklich ins Spiel eintauchen, sind wir Im Moment, dann sind wir im Flow, dann sind wir achtsam und suchen das Unbekannte und Neue.
Die einzige Regel also, wenn man Improvisationstheater spielen will, lautet: Spiele Improvisationstheater!