401. Nacht – Wissen und Leben I

Klar war die Meisterung des dialektischen Materialismus eine vordringliche Aufgabe. Aber noch vordringlicher war für Achim Hustmann, den Heimleiter der FDJ-Gruppe auf dem Volksgut Hagelberg, herauszufinden, wer ihm den Zettel mit der Aufschrift „Achims Pseudo-Retro-Schnurrbart müffelt nach Ei!“ auf den Rücken geklebt hatte. Er war dermaßen in Rage, dass er nicht sah, wie Almut sich vorbeugte und die Zähne zusammenbiss, um ihr Lachen zu unterdrücken: „Ich weiß es, hihi, ich weiß es.“
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Klar hätte sich Jessica Schnick über ein iPod noch mehr gefreut. Und selbst für einen klassischen Walkman war das Gerät doch etwas klobig geraten. Und ja, der Sound war ein wenig gewöhnungsbedürftig. Und ja, „Die größten Hits von Roberto Blanco auf singender Säge“ waren jetzt auch nicht das Album, das man ewig rauf und runter hören würde. Aber sie musste gute Miene zum bösen Spiel machen, damit Rüdiger wenigstens heute, an ihrem Geburtstag mal das Maschendrahtgitter von ihrem Fenster im Frauengefängnis Lichtenberg öffnen würde.
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Nach zwei Wochen stellte Jessica Schnick fest: Wenn man nebenbei die Beta-Version von „Unreal Tournament“ ballerte, waren „Die größten Hits von Roberto Blanco auf singender Säge“ eigentlich genau der passende Soundtrack.

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Dass die Ossis nicht nur faul und gefräßig, sondern vor allem auch in technischen Fragen sich wie die letzten Hinterwäldler benahmen, war in der Regel nur jenen Westdeutschen bekannt, die ab und zu ihre Verwandten in der DDR besuchten.
Oft genügte es, den „DDR-Bürgern“ mit einfachen Aufzieh-Armbanduhren vor der Nase herumzuwedeln, um das berüchtigte ungläubige Ossi-Staunen auszulösen. Vor diesem Hintergrund muss das in der DDR grassierende FKK-Unwesen als Technikflucht verstanden werden.
 
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401. Nacht
Da lachte der Kalif über die beiden und wies einem jeden tausend Dinare an. Und nun gingen beide, erfreut über das Geschenk des Kalifen, ihrer Wege.
Ferner wird erzählt
Die Geschichte vom frommen Prinzen
Harûn er Raschîd hat einen überaus frommen Sohn, der der Welt entsagt und als Asket lebt. Seine Ratgeber weisen ihn darauf hin, dass der Sohn ihn in seinem härenen Aufzug und mit seinem asketischen Lebenswandel zum Gespött machen könnte. Harûn wendet sich an seinen Sohn mit der entsprechenden Bitte. Dieser
blickte nach einem Vogel, der auf einer der Zinnen des Palastes saß und rief ihm zu: „Du Vogel, bei Dem, der dich erschaffen hat, lass dich auf meiner Hand nieder.“
Der Vogel tut dies. Aber auf der Hand des Kalifen lässt er sich nicht nieder.
Da sagte der Jüngling zu seinem Vater: „Du bist es, der mich durch seine Liebe zur Welt unter den Heiligen entehrt…“
Und so verlässt er seinen Vater und zieht nach Basra, um dort als Erdarbeiter für einen Dirhem und einen Dânik pro Tag zu arbeiten.
(1 Dânik = 1/6 Dirhem)
Ein Basraer berichtet später, dass der Jüngling seine Mauer nur unter der Bedingung reparieren wollte, dass er dafür nur diese Bezahlung bekäme und pünktlich zum Gebetsruf Waschung und Gebet durchführen dürfe.
„Er löste sich den Gürtel und vollzog die religiöse Waschung so schön, wie ich es noch nie gesehen hatte.“
Wie mag das ausgesehen haben?
Der Basraer beobachtet ihn schließlich bei der Arbeit.
„Er nahm eine Handvoll Mörtel und legte sie auf die Mauer; und siehe da, die Steine reihten sich von selbst übereinander. Ich sagte mir: ‚So sind die Heiligen Allahs.'“
Am letzten Tag erscheint der Jüngling nicht zur Arbeit, und der Basraer vernimmt, dass er krank sei. Als er ihn findet, sagt der Jüngling, er würde sterben. Der Basraer möge am nächsten Morgen, wenn er tot sei, die Taschen durchsuchen und das, was er darin fände, dem Kalifen bringen.
Dann sprach er das Glaubensbekenntnis, sandte in beredtesten Worten Dank zu seinem Herren empor und trug diese Verse vor:
„Bring du das Pfand des Mannes, dessen Stündlein naht,
Zu er-Raschîd; der Lohn liegt in der guten Tat.
Und sprich: Ein Wandersmann, der lange inniglich,
So fern, sich sehnte dich zu sehn, begrüßet dich.
Kein Hass und kein Verdruss, fürwahr hielt ihn dir fern:
Der Kuss auf deine Rechte nahte in dem Herrn.
Doch trennte ihn von dir die Seele voll Verlangen.
An Freuden deiner Welt, o Vater, nicht zu hangen.“
Da bemerkte Schehrezâd, dass der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an.

Arbeitsroutinen von Künstlern VII – Zeitlöcher

Fortsetzung der Lektüre Daily Rituals. How Great Minds Make Time, Find Inspiration, and Get To Work

Im gestrigen Eintrag zu Margaret Mead tauchte die Frage auf, wie man mit Zeitlöchern umgeht. Zeit, die man nicht mit dem Schaffen nutzen kann, vor allem Wartezeit. Die rote Ampel, der Bus, auf den man wartet, die Schlange in der Kaufhalle. Während ich Zuspätkommen bei Shows, Proben und anderen Kollektiv-Verabredungen als zumindest zu rechtfertigende Zumutung empfinde, bin ich im Laufe der Zeit großzügiger geworden, wenn ich einfach nur warten muss. Ich erinnere mich nicht, wann ich mich das letzte Mal wirklich gelangweilt habe. Denn gerade Situationen, in denen es nichts zu tun gibt, kann man so interessant auffüllen. Für uns Schauspieler zum Beispiel mit (ggf. für andere unsichtbaren) Körper- und Atem-Übungen. Lesen geht fast überall, für mich allerdings tatsächlich mit der Einschränkung, dass ich sitzen kann und einen Bleistift zum Anstreichen dabei habe. (Eine Macke von mir: Ich könnte nie Bücher mit Kugelschreiber oder Text-Marker anstreichen, auch wenn ich mir sicher bin, dass die Anstreichungen nie wieder entfernt werden. Soweit geht meine anerzogene Ehrfurcht vor dem Buch.) Wenn ich in vollen Bahnen stehen muss, schließe ich manchmal die Augen und trainiere mein Gedächtnis, indem ich versuche, mir die anwesenden Passagiere bildlich vorzustellen. Oder ich entwerfe Impro-Übungen mit geschlossenen Augen. Die besten Ideen kommen einem tatsächlich in „bus, bed, bath“ (verschiedene Quellen. Vermute, dass mit „bath“ der bathroom, also das Klo gemeint ist.) Auch die Reifung der Gedanken hat ihren Ort und ihre Zeit.
Im Übrigen ist das tatsächlich ein Grund, dass ich mich scheue, den Führerschein zu machen. Ich wäre wahrscheinlich viel zu sehr mit meinen Gedanken woanders, was nicht nur mein Leben gefährdete. Lesen könnte ich beim Fahren auch nicht. Hörbücher (das darf ich als aktiver der Branche eigentlich nicht sagen) kann ich nicht ausstehen.

Samuel Johnson (1709-1784)
Schrieb offenbar nachts nach 2 Uhr bei Kerzenlicht.
Vormittags im Bett, wo er auch Besuch empfing.
16-2 Uhr außerhalb des Hauses – Bars, Restaurants usw.

James Boswell (1740-1795)
Bemühte sich stets, morgens aufzustehen und an die Arbeit zu gehen, „als ob ein schönes Mädchen auf ihn wartete“. Dabei ging es darum, seine doch recht starke Neigung zu Faulheit und Schlendrian zu überlisten. In guten Zeiten gelang es ihm. In schlechten fühlte er sich „dreary as a dromedary“.

Immanuel Kant (1724-1804)
Von dem, was wir wissen, muss Kants Leben in äußerst geregelten Bahnen verlaufen sein. Immer dieselben Uni-Kurse lehren. Keine Reisen (außer ans nicht weit entfernte Meer). Regelmäßige Nachmittagsspaziergänge. Von Heinrich Heine stammt das Bild, die Königsberger würden ihre Uhren nach seinem Spaziergang stellen. (Wieviel von unserem Kant-Bild stammt eigentlich von Heine?)
Der strikte gesundheitsorientierte Tagesablauf  ist Kants schwacher körperlicher Grundkonstitution geschuldet. Man beachte: Er wurde fast 82 Jahre alt!
Aufstehen 5 Uhr. 2 Tassen schwacher Tee, eine Pfeife. Vorbereitung seiner Vorlesungen, die von 7-11 Uhr dauerten. Danach Mittagessen, die einzige wirkliche Mahlzeit des Tages, oft mit Freunden und Bekannten aus verschiedenen Lebensbereichen. Ab 15 Uhr Spaziergang und Freunde besuchen. Zwischen 19 und 21 Uhr nach Hause, wo er noch schrieb. 22 Uhr Licht aus.
Man beachte diese kurze, späte Schreibphase.

William James (1842-1910)
Mit 28 schrieb er sich die Warnung ins Tagebuch: „Erinnere dich, dass wir nur dann, wenn Gewohnheiten der Ordnung geformt werden, in die wirklich interessanten Tätigkeits-Gebiete voranschreiten können und schließlich wie ein Geizkragen Korn für Korn der willentlichen Entscheidungen ansammeln können; denn wenn auch nur eine Verbindung fehlt, bricht eine unendlich große Anzahl zusammen.“
Der größte Horror war für ihn Entscheidungsunfähigkeit, woran er selber litt.
Moderater Alkoholkonsum. Zigaretten und Kaffee gab er mit Mitte Dreißig auf.
Schlaflosigkeit mit Chloroform (!) bekämpft.

Henry James (1843-1916)
Schrieb zwischen Frühstück und Mittag. Im Alter diktierte er seine Texte, da er an Handgelenkschmerzen litt.
Nachmittags: Tee, Spaziergänge, Lesen.
Sofort nach Beendigung eines Buches begann er ein neues. Die Inspirationen verfolgten ihn.

Franz Kafka (1883-1924)
Lebenslanger Brotberuf. Meiste Zeit bei der „Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt“ von 8-14 Uhr.
Da er mit seiner Familie in beengten Verhältnissen lebte, musste er seine Konzentration auf die Nacht legen, wenn alle anderen schliefen.

Arbeitsroutinen von Künstlern VI – Leiden als Notwendigkeit tiefen künstlerischen Empfindens?

Fortsetzung Daily Rituals. How Great Minds Make Time, Find Inspiration, and Get To Work
Muss man wirklich tiefes Leiden empfinden und womöglich ein auf Leiden gerichtetes Leben führen, um künstlerisch anspruchsvolle Werke zu schaffen? Die Phasen einiger Künstler mögen dies belegen. Nehmen wir Beethoven. Die fünfte Sinfonie („Schicksals-Sinfonie“ ist nur eine Erfindung des Biografen Schindler) wird oft gelesen im Zusammenhang mit der zunehmenden Ertaubung des Musikers und der Überwindung dieses Leidens. Aber man kann auch anders herum fragen: Welche Werke hätte Beethoven wohl geschrieben, wenn er nicht erkrankt wäre? Welche Wege hätte er noch beschreiten können? Wäre Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“ schlechter gewesen, wenn er nicht an Asthma gelitten hätte?
Für einen guten Künstler ist jede Erfahrung eine wertvolle Erfahrung. Leiden kann als plötzliche negative Wahrnehmung ihn wachrütteln. Aber er muss sich nicht mutwillig hineinbegeben. Er braucht aber emotionale Tiefe, Beobachtungsgabe und Empathie.

Steve Reich (geb. 1936)
95 Prozent seiner Werke, so Reich, seien zwischen Mittag und Mitternacht entstanden.
Vorm Mittag: Sport, Beten (davon war bisher bei den anderen Künstlern noch keine Rede), Telefonate.
Besteht auf kontinuierlichem Arbeiten. Inspiration komme nicht vom Himmel herab. Vielmehr seien einige Stücke inspirierter als andere. Beide müsse man schreiben.

Nicholson Baker (geb. 1957)
Hält Routinen für wichtig, die sich aber jedes Mal neu anfühlen. Das könne recht willkürlich sein. Z.B. könne man einfach den neuen Roman in Flip-Flops schreiben.
Beim Schreiben seines ersten Romans machte er in der Mittagspause Notizen. Später beim Autofahren zu einem anderen Job sprach er ins Diktiergerät. Einige Monate später kündigte er und fertigte aus den Notizen seinen Roman.

B.F. Skinner (1904-1990)
Stellte sich den Wecker auf zwei Zeiten: Einmal morgens zum Schreibbeginn. Dann zum Schreib-Ende. Dann notierte er sich statistikversessen die Zahl der geschriebenen Wörter und bastelte daraus eine Grafik. (Gibt es Frauen mit solchen Statistik-Ticks?)
Am späten Vormittag ins Büro: Post. Nachmittags: Schwimmen, Gartenarbeit. Abendbrot. Spätestens 22 Uhr im Bett.
Mindestens einmal nachts Aufwachen. Dann Notizen auf einem Klemmbrett mit Taschenlampe.

Margaret Mead (1901-1978)
Ständiges Arbeiten. Fünf Uhr morgens Aufstehen. Dann sofort 1.000 Wörter vorm Frühstück schreiben. Verspätungen bei Verabredungen hasste sie als Diebstahl an ihrer wertvollen Zeit. Konsequenterweise verabredete sie sich mit jüngeren Kollegen zum Frühstück um 5 Uhr morgens.

Jonathan Edwards (1703-1758)
4 Uhr morgens Aufstehen. Dreizehn Stunden im Arbeitszimmer, unterbrochen von körperlichen Aktivitäten wie Holzhacken, Reiten. Notizen beim Spazieren mit Papier und Tinte. Beim Reiten Gedächtnis-Trick: Zettel an Teilen der Kleidung befestigen, die er mit einem bestimmten Gedanken assoziierte.

Arbeitsroutinen von Künstlern V – Wer abends auftritt

Die bisherigen „Great Minds“ aus dem Buch Daily Rituals. How Great Minds Make Time, Find Inspiration, and Get To Work sind eigentlich alles Künstler oder Wissenschaftler, die schreibend, malend, komponierend, aber auf jeden Fall allein arbeiten. Wieviel schwieriger ist es für uns Impro-Schauspieler, sich den Tag so zu organisieren, dass man nicht in für Körper, Geist und Kunst ungesunde Rituale verfällt. Vor allem, ich erwähnte es schon, kann der Alkohol dem Auftretenden verführerischer vor die Linse geraten als dem stillen Arbeiter. Eine gelungene Aufführung (Show, Konzert usw.) ist eben oft auch eine kleine Party wert. Dem zu entgehen ist schwerer, wenn man vormittags keine wichtigen Termine hat aber auch keinen Roman, kein Gemälde, das auf einen wartet. Schwierig auch, weil die Gewohnheiten sich oft in jungen Jahren ausbilden, wenn man körperlich wesentlich mehr verkraften kann. Das Problem ist aber, dass nicht nur der Körper, sondern auch die Kunst bald darunter leidet. Wer sich nächtens verschleißt, wird den Zufluss zum künstlerischen Geist reduzieren. Schließlich muss auch ein Schauspieler oder ein Musiker lesen und üben, will er nicht stagnieren.
Aktive Schauspieler suchen sich oft morgens Tanz- oder Yoga-Kurse, lesen nachmittags. Ähnliches gilt für Musiker.
Und natürlich gibt es die unwahrscheinlichen Gegenbeispiele. (Warum, so fragt man sich, lebt Keith Richards eigentlich noch?) Doch die Schar derer, die sich unnötigerweise aufgeben, ist groß.

Louis Armstrong (1901-1971)
Den weiter hinten im Buch auftauchenden Armstrong ziehe ich mal wegen des vorangestellten Themas vor.
Praktisch sein gesamtes erwachsenes Leben verbrachte er mit Auftritten und Reisen. Er traf pünktlich 2 Stunden vorm Auftritt am Ort ein – gebadet und eingekleidet, um sich dann in der Garderobe Glycerin mit Honig einzupfeifen. Weitere Drogen: Maalox gegen Magenbeschwerden, eine Spezialsalbe gegen Lippenprobleme, Haschisch, Swiss Kriss.
Lebenslange Einschlafschwierigkeiten. Versuchte sich, mit Musik in den Schlaf zu schaukeln (was mich daran erinnert, wie ich das erste Mal Viktor T. besuchte und dort übernachtete. Zum Einschlafen legte er eine Punk-Kassette ein und ich hielt es für unhöflich, ihn zu bitten, sie irgendwann auszuschalten, also wartete ich 45 Minuten, da sich dann die Kassette wohl abschalten müsste. Tat sie aber nicht, der Rekorder war auf Dauer-Umlauf gestellt.) Irgendwann drückte ich auf „Pause“ und der schnarchende Viktor zuckte schreckhaft zusammen.)
Louis Armstrong starb zwar nicht gerade jung, erreichte aber, wie die meisten Trompeter, kein besonders hohes Alter.

Ann Beattie (geb. 1947)
Schreibt (so sagte sie 1980! im Alter von 30 Jahren) am liebsten von 0 bis 3 Uhr nachts. Das aber auch nicht regelmäßig. Kreative Phasen anfallsartig. Von Schreibblockaden verfolgt. „Ich bin sicherlich launisch und kein besonders glücklicher Mensch.“

Günter Grass (geb. 1927)
Lehnt nächtliches Schreiben ab, da es zu einfach sei. Frühstück zwischen 9 und 10 mit Lesen und Musik. Danach Schreiben, dann Kaffeepause, danach weiter Schreiben bis 19 Uhr.
(Keine Angaben darüber, wann sein doch recht aktives soziales Leben stattfindet/stattfand.)

Tom Stoppard (geb. 1937)
Unorganisiert und prokrastinierend. Kettenraucher. Musste sich an den Schreibtisch zwingen, was ihm in letzter Konsequenz erst in den 80er Jahren gelang. Später wieder Rückfall in alte Gewohnheiten. „Ich arbeite nie morgens, es sei denn, ich bin in großen Schwierigkeiten.“

Haruki Murakami (geb. 1949)
Aufstehen 4 Uhr morgens! 5-6 Stunden durcharbeiten. Nachmittags Laufen, Schwimmen, Post, Lesen, Musik. Schlafen ab 21 Uhr.
„Körperliche Kraft ist genau so wichtig wie künstlerische Sensibilität.“
Einladungen zu Freunden und sozialen Events schlägt er regelmäßig aus, zur Enttäuschung anderer. „Meinen Lesern ist mein Lebensstil egal, solange mein neues Werk besser als das vorherige ist. Und sollte das nicht meine Pflicht und oberste Priorität sein, wenn ich Romanautor bin?

Toni Morrisson (geb. 1931)
Hat immer einen Tages-Job gehabt. Abends Schreiben, dann aber mit höchster Konzentration. Ideen werden tagsüber ausgebrütet. Nicht am Schreibtisch.
In den 90ern ging sie zu morgendlichem Schreiben über.

Joyce Carol Oates (geb 1938)
Schreiben von 8 bis 13 Uhr. Dann Mittagessen, Pause. Weiterarbeiten von 16-19 Uhr, manchmal in der Zeit auch lesen.
Eine der Autorinnen mit dem höchsten Output. Bisher über 60 Romane, 36 Kurzgeschichtenbände, über ein Dutzend Bände Dramen, Lyrik und Essays.
Sie hält sich nicht für besonders produktiv oder effizient, aber für hart arbeitend.

Chuck Close (geb. 1940)
Früher schrieb er nachts. Jetzt im Idealfall drei Stunden vormittags, drei Stunden nachmittags. Telefonate und Meetings möglichst nach 16 Uhr.

Francine Prose (geb. 1947)
Als unbekannte Autorin schrieb sie, während ihre Kinder in der Schule waren. Inzwischen findet sie die vielen sozialen Verpflichtungen unerträglich. „Es scheint, als würde mich die Welt dafür bezahlen, alles mögliche zu machen, AUSSER zu schreiben.
Versucht, sich zum Schreiben aufs Land davonzustehlen und an einem Computer ohne Internet-Verbindung zu schreiben. (Finde mal heute noch so ein Ding.)

John Adams (geb. 1947)
Früh aufstehen. Langer Spaziergang mit Hund. Dann von 9 bis 16 oder gar 17 Uhr arbeiten – mit häufigen Teepausen.
E-Mail-Unterbrechungen.
Setzt sich zufällige Freizeitpunkte, um sich Möglichkeiten für Inspirationen zu geben.

Arbeitsroutinen von Künstlern IV – Orte der Kreativität

Fortsetzung Daily Rituals. How Great Minds Make Time, Find Inspiration, and Get To Work.
Fast alle Schreibenden brauchen „Ein eigenes Zimmer“, wie Virginia Woolf bemerkt, die aus der Perspektive der bürgerlichen Frau des beginnenden 20. Jahrhunderts schreibt. Wie bereits gestern hier schon bemerkt, gehörte Jane Austen zu den Ausnahmen, die so multitaskingfähig waren, einerseits zu schreiben und dabei die offene Tür im Blick zu behalten, um etwaige Störer rechtzeitig zu erspähen. Ähnlich ist die Situation beim Schreiben in der Bahn und in Cafés. Ein Kollege berichtete, er würde sogar beim Fernsehen schreiben (ob er dann mehr als nur Tagebuchnotizen schrieb, weiß ich allerdings nicht).
Für mich ist es schwierig zu schreiben, wenn ich menschliche oder maschinelle Geräusche höre. Cafés kommen insofern für mich nur dann infrage, wenn keine Musik läuft und das Gebrabbel der anderen Gäste und des Personals so leise ist, dass ich sie durch Ohrstöpsel ausblenden kann. Im Moment z.B. sitze ich in einem kleinen Kaufhallen-Café, das vom Rest des Markts separiert ist, aber während ich diesen Satz schreibe, kommt ein älterer jovialer Typ herein, der sich nur rufend zu verständigen vermag. Die Konzentration leidet. Allerdings hält sich die künstlerische Kreativität, die dieser Text benötigt, auch in Grenzen. Prosa, Drama oder Lyrik wären in der Situation kaum möglich. Zuhause kann ich schreiben, wenn das Kind schläft oder nicht da ist. Selbst wenn die Gattin sich um es kümmert, ist mein Gedanke dann doch bei ihm, vor allem wenn es jammert oder weint.
Im Park oder Wald zu schreiben, ist mir im Sommer manchmal möglich, wenn es irgendeine Art von Tisch gibt. Auf Knien bringe ich nur Notizen zustande.

Joan Miró (1893-1983)
Um sich vor Depressionen zu bewahren, trieb Miró exzessiv Sport: Boxen, Seilspringen, Schwedische Gymnastik, Laufen, Schwimmen. Im Sommer floh er die Stadt.
6 Uhr aufstehen und frühstücken. Von 7-12 Arbeiten. Leichtes Mittag. Sport. „Mediterranes Yoga“. 5 Minuten Nickerchen. 14 Uhr Freunde, Briefe, 15-20 Uhr Arbeiten.
Er hasste soziale Ereignisse. „Scheiße! Ich verabscheue diese Eröffnungen und Parties total! Sie sind kommerziell, politisch, und alle reden viel zu viel. Sie gehen mir auf die Titten!“

(Können Maler länger als Schriftsteller? Oder anders gefragt: Erfordert das Schreiben eine höhere Konzentration?)

Gertrude Stein (1874-1946)
Aufstehen gegen 10 Uhr. Schreiben oft im Freien. Kaum mehr als eine halbe Stunde pro Tag.

Ernest Hemingway (1899-1961)
Aufstehen zwischen 5:30 und 6 Uhr, auch nach starkem Trinken. Danach gleich Schreiben bis mittags. Danach sei man „leer und wird wieder gefüllt“.
Hemingway führte eine Liste über seinen Wörter-Output.
Die Geschichte mit den 20 gespitzten Stiften ist eine Legende. „Ich glaube nicht, dass ich je zwanzig Stifte besessen habe.“

Henry Miller (1891-1980)
Als junger Mann schrieb er von Mitternacht bis zum Morgen. Das änderte er in den 30ern in Paris.
Später meinte er, alles, was am Nachmittag geschrieben würde, sei unnötig und kontraproduktiv.
„Ich denke, man sollte von der Schreibmaschine aufstehen und immer noch was zu sagen haben.“

F.Scott Fitzgerald (1896-1940)
Ähnlich wie Austen versteckte Fitzgerald sein Schreiben während seiner Armeezeit hinter einem Buch „Small Problems for Infantry„. Als das aufflog, schrieb er an Wochenenden. Danach schrieb er eher undizipliniert, auf Inspirationen wartend. Romane produzierte er in Schreibanfällen.
Droge: Gin, die ihn letztlich zerstörte.

William Faulkner (1897-1962)
Unterschiedliche Tagespläne. Meist morgens. Aber während seiner Zeit als Nachtschicht-Kraftwerksaufseher an der Uni, schrieb er nachmittags.
Er schrieb gern in der Bibliothek und da diese keinen Schlüssel hatte, entfernte er jedes Mal den Türknauf und nahm ihn mit sich.
Droge: Whiskey am Abend. Widersprüchliche Angaben, ob er beim Schreiben trank.

Arthur Miller (1915-2005)
Meistens morgens, aber ohne echte Routine. Das Geschriebene wird hinterher zerrissen. Es sei denn, es bleibt wirklich etwas hängen. Er sah sich wie ein Mann, der mit einem Eisenstab durch einen Sturm voller Blitze spaziert. (Die Blitze sollen wohl die Eingebungen sein, nicht die Zerreiß-Prozeduren.)

Benjamin Britten (1913-1976)
Arbeitsbeginn 9 Uhr bis Mittag. Nachmittags Briefe oder Spaziergänge, dabei Pläne machen, was als nächstes gearbeitet werden soll.
Morgens kaltes Bad, abends warmes Bad.

Arbeitsroutinen von Künstlern III – Ruhe und Drogen

Fortsetzung der Lektüre von  Daily Rituals. How Great Minds Make Time, Find Inspiration, and Get To Work.
Eine interessante Frage ist, wieviel und wann sich Künstler Ruhe gönnen. Aus der bisherigen Lektüre lässt sich erahnen, dass Nachtschreiber eher in eine Art vormittäglichen Erschöpfungsschlaf sinken. Wir Improtheater-Spieler haben ja auch mit den allermeisten performativen Künstlern gemein, in den späten Abendstunden Kreativität abrufen zu müssen. Das Ignorieren des Tag-Nacht-Zyklus bzw. die Überwindung der biologischen Uhr fordert aber ihren Tribut. Um überhaupt leistungsfähig zu sein, muss man ausgeruht sein. Dies dürfte den Konsum von Drogen bei Bühnenkünstlern miterklären. Man gibt sich den Kick mit Koks bzw. Alkohol, um dann später mit Hasch oder gar Heroin wieder runterzukommen. Die Opfer dieses Lebenswandels sind bekannt. Ich traf mal einen heroin-drückenden jungen Saxofonisten, der meinte, jemand wie Charly Parker hätte ohne die Droge eine solche unglaubliche Musik gar nicht erschaffen können. Sein Weggefährte Gillespie ist der Gegenbeweis, und man fragt sich schon, welche Musik Parker noch hätte erschaffen können, wäre er nicht so jung gestorben.
Die Frage der Erholung betrifft natürlich auch freie Tage. Stephen Nachmanovitch schreibt in Free Play. Schöpferische Improvisation in Leben und Kunst: „Die vielleicht radikalste sozialpolitische Erfindung der letzten viertausend Jahre war der Sabbat. Die Praxis des Sabbat (…) erkennt an, dass wir Raum und Zeit benötigen, die von der Eile und den Belastungen des Alltags frei ist, die wir uns dafür bewahren, in uns zu gehen, für Ruhe, Rückblick und Offenbarung.“
Sich einen Tag in der Woche freizuhalten, kann schwerfallen, wenn Unerledigtes drückt, aber auch wenn man schöne Arbeit auf sich warten weiß. Aber warum soll ausgerechnet der Künstler ein asoziales unreflektiertes Monster sein? Seit dem Frühjahr gelingt es mir nun endlich, mir einen Tag in der Woche freizunehmen (na ja, fast immer). Der Tag dient der Reflexion, dem Besuch von Freunden und der Familie. Kurioserweise ist es – der Sonntag.

Anthony Trollope (1815-1882)
Der ungeheuer produktive Trollope (ich musste bei Wikipedia nachschauen, wer das ist), arbeitete lange Jahre in einem Postamt. Aufstehen: Jeden Morgen stand er um 5:30 Uhr und gewährte sich in diesem Ritual „keine Gnade“. Er war der Meinung, dass man als Schriftsteller nur drei Stunden arbeiten könne, in dieser Zeit aber alles zu leisten habe. Er schrieb mit einer Uhr vor seinen Augen und zwang sich zu 250 Wörtern pro Viertelstunde.
Bemerkenswert: Um überhaupt ins Schreiben einzusteigen, las er die Arbeit des Vortages, um den Klang und den Stil wieder ins Ohr zu bekommen. Wenn er einen Roman vor Ablauf der drei Stunden beendet hatte, begann er sofort wieder einen neuen.

Jane Austen (1775-1817)
Dies gehört zu meinen Lieblingskapiteln. Austen, die in ihrem Leben so gut wie nie alleine war (von Virginia Woolfs „eigenem Zimmer“ konnte sie nur träumen, musste sich ihre Freiräume erkämpfen. Zusätzlich erschwerend: Weder Freunde noch die Dienerschaft durfte wissen, dass sie schrieb. (Ihre Werke wurden anonym veröffentlicht – „by a Lady“.) Im stark frequentierten Gästezimmer verdeckte sie ihre Arbeit unter Löschpapier.
Sie stand früh morgens auf und spielte Klavier. Um 9 Uhr bereitete sie das Frühstück für die Familie vor – ihre einzige Hausarbeit. Abends las sie ihrer Familie aus dem entstehenden Werk vor.

Frédéric Chopin (1810-1849)
Chopin war am produktivsten, wenn er (eigentlich ein Stadtmensch) sich auf dem Lande befand, wo er sich langweilte. Dort stand er spät auf, aß im Schlafzimmer und verbrachte den Tag mit Komponieren, nur von kurzen täglichen Klavier-Unterrichtsstunden unterbrochen. Wenn ihn die Inspiration packte, spielte er die musikalische Idee an und rang mit ihr über Stunden und Tage, in denen er sich in sein Zimmer einschloss und weinte, schrieb, fluchte und auf und ab ging.

Gustave Flaubert (1821-1880)
Aufstehen um 10 Uhr. Wasser, Zeitung, Post, Gespräche mit der Mutter. 11 Uhr Brunch, danach Spaziergang. Geschichts- und Geografie-Unterricht für seine Nichte Caroline. Dann Lektüre. 19 Uhr Abendessen. 21 Uhr Gespräche mit der Mutter. 22 Uhr Schreiben in einem Wort-für-Wort-Kampf, da er unbedingt einen neuen Stil und „das richtige Wort“ finden wollte. Ausstoß: Zwei Seiten pro Woche.

Henri de Toulouse-Lautrec (1864-1901)
Arbeitete nachts: Skizzen in Kabaretts, Bordellen usw.
Hohe Mengen Alkohol. Schlafperioden morgens, früher Nachmittag. Früher Tod durch Alkoholismus und Syphillis.

Thomas Mann (1875-1955)
Aufstehen: 8 Uhr, Frühstück 8:30 Uhr. Arbeitsbeginn: 9 Uhr hinter streng verschlossener Tür. Kinder durften keinen Lärm machen, keine Post, keine Telefonate. Schreib-Ende: 12 Uhr. Was sich bis dahin nicht zu Papier bringen ließ, musste bis zum nächsten Vormittag warten.
Drogen: Zigaretten (max. 12), Zigarren (max. 2). Nach dem Mittagessen Lektüre. 16 Uhr Mittagsschlaf mit Ruhegebot für die Kinder. Dieses Gebot taucht in Beschreibungen seltsamerweise immer wieder auf, als sei es Ausdruck einer Künstlertyrannei. Dabei könnte man es auch umgekehrt sehen: Thomas Mann ließ die Kinder von 12 bis 16 Uhr und nach 17 Uhr Radau machen.

Karl Marx (1818-1883)
Von 9 bis 19 Uhr im Lesesaal des British Museum. Ein anderer Ort wäre als Studierzimmer auch kaum denkbar gewesen, in Anbetracht der ärmlichen Lebensumstände der Familie Marx. Lange Nachtarbeit. Dabei ununterbrochenes Rauchen.
Größte Reue: Geheiratet und seine Frau und Familie auf diese Weise ins Unglück gestürzt zu haben.

Sigmund Freud (1856-1939)
Aufstehen: 7 Uhr. Dann Frühstück und Rasur durch Haus-Barbier. Patienten von 8-12 Uhr. Mittag um 13 Uhr. Dabei oft versunken in Gedanken, auch wenn Freunde anwesend waren. Nachmittagsspaziergang. Abends lesen, schreiben, Lektorierung psychoanalytischer Zeitschriften.
Drogen: Bis zu zwanzig Zigarren täglich.
Jährlich drei Monate Sommerurlaub mit Familie in Kurorten oder Berghotels.

Carl Jung (1875-1961)
In Bollingen sehr spartanisches Leben, das sich vom intensiven Stadtleben mit seinen Therapiestunden, Vorlesungen und Seminaren unterschied: 7 Uhr aufstehen, dann zwei Stunden konzentriertes Schreiben. Denn Rest des Tages: Meditieren, Gäste empfangen, Briefe beantworten. 22 Uhr zu Bett.

Gustav Mahler (1860-1911)
Während seines Lebens war Mahler eher als Dirigent bekannt, das Komponieren für ihn nur eine Nebentätigkeit, der er in den Sommermonaten in einer Villa nachging.
Aufstehen: Vor 6:30 Uhr. Der Diener hatte ihm das Frühstück in die Kompositions-Laube zu bringen, und zwar ohne Mahler zu sprechen oder auch nur zu begegnen. Komponieren bis Mittag. Alma Mahler musste dafür sorgen, dass kein Geräusch an sein Ohr drang.
Lange Nachmittagsspaziergänge am Strand mit Notizbuch und Gattin.
Verbot Alma Mahler das Komponieren!

Richard Strauß (1864-1949)
In Ägypten beschrieb er folgenden Tagesablauf:
Aufstehen 8 Uhr, Bad und Frühstück. Anderthalb Stunden Spaziergang am Nil [unter den Künstlern scheint es nur wenige Frühspaziergänger zu geben). 11-13 Uhr Komponieren. Dann Mittagessen, Lektüre. 15-16 Uhr weiterarbeiten. Dann Tee und Spaziergang. 18 Uhr Briefe schreiben. 19 Uhr Abendessen. 21 Uhr Lesen. 22 Uhr Schlafen.
Drogen: 8-12 Zigaretten pro Tag.

Henri Matisse (1869-1954)
9-12 erste Mal-Sitzung. Dann Mittag, kleiner Mittagsschlaf, Weitermalen bis zum Abend.
Tägliches Arbeiten, auch an Sonntagen. Er erfindet Geschichten, um seine Modelle zu überreden, auch an Sonntagen für ihn zu sitzen. „Die armen Dinger verstehen nicht, dass ich nicht meinen Sonntag opfern kann, bloß weil sie Bräutigame haben.“

(Diesen Blog-Eintrag nach nur 5 Stunden Nachtruhe verfasst. Mit jagenden Gedanken 5 Uhr morgens erwacht, was mir höchstens 2-3 Mal pro Jahr widerfährt.)

Arbeitsroutinen von Künstlern II

Über einige Rituale ist man sich oft wohl gar nicht im Klaren, da man sie für selbstverständlich hält. Für die schlechten Gewohnheiten ist das Auge wahrscheinlich eher blind.
Nach dem Aufstehen muss so schnell wie möglich das Frühstück beginnen. (Eine Gewohnheit, die ich etwas schleifen lasse, seit ich zwei Mal pro Woche das Kind in den Kindergarten bringe.)
Pingelig bin ich hier bis in Fragen des Aufstrichs. Da aber Frühstück bei den meisten Menschen das konservativste Gericht ist, unterscheide ich mich hier in der Ritualisierung wohl wenig von anderen.
Schlechte Gewohnheit: E-Mails und Telefonate am Vormittag bearbeiten, da ich regelrecht spüre, wie die gesamte kreative Energie dann dort hineinfließt oder gar in der Facebook-Hölle verpufft.
Gute Gewohnheit: Nachmittägliches Joggen, Schwimmen gern vor Auftritten, Yoga an schreib-intensiven Tagen, Kraft-Training an freien Abenden.
Gute Gewohnheit: Kein Alkohol auf der Bühne. Seit 2003 keine Zigaretten.
Schlechte Gewohnheit: Überhaupt Alkohol zu trinken (auch wenn ich meine Grenzen zu kennen glaube).
Schlechte Gewohnheit: Eher anfallsmäßiges Schreiben. Zu oft am Nachmittag oder Abend. Nach der bisherigen Lektüre des Buchs sind die produktivsten Stunden aber der Vormittag, vor allem bei Schriftstellern. Mir scheint, dass eher jüngere Autoren dazu tendieren, bis in die Nacht hinein zu arbeiten.

Ingmar Bergmann (1918-2007)
In seinen Schreibphasen stand Bergmann um 8 Uhr auf, schrieb von 9-12. Mittag bis 13 Uhr. Weiter arbeiten von 13-15 Uhr. 1 Stunde Schlaf, dann Spazieren oder Boot fahren. Abends Filme oder fernsehen. „Dallas“ habe es ihm angetan. (Ähnlich arbeiteten seine Landsleute Benny und Björn von Abba, die sich auf dem Lande einschlossen und Dallas-Fans waren.)

Morton Feldman (1926-1987)
Arbeitete anfallsartig. Bei einem Arbeits-Urlaub morgens.
Übernahm einen Kreativitätstrick von John Cage: Einen Gedanken nicht nur notieren, sondern ihn danach gleich noch einmal kopieren, da man dann darüber nachdenke und sich Anschluss-Ideen fänden.

Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)
Um den kreativen Ausstoß Mozarts wirklich würdigen zu können, muss man sich seine enormen sozialen Verpflichtungen und Belastungen vor Augen halten: Klavierunterricht, Konzerte, Besuche. Komponieren war ihm in der Regel nur abends von 18-21 Uhr möglich, wenn er nicht auftreten musste.

Ludwig Van Beethoven (1770-1827)
Bei Sonnenaufgang aufstehen, Kaffee trinken, dann bis 14 oder 15 Uhr arbeiten, unterbrochen von kurzen Spaziergängen. Am späten Nachmittag, nach dem Dinner, ausgedehnte Spaziergänge, immer mit Stift und Notenpapier. Abends Theater, Kneipe, Freunde.
Sein Biograph und Sekretär Schindler berichtet, dass sich Beethoven andauernd mit Wasser abspritzte und so durch die Wohnung lief.

Sören Kierkegaard (1813-1855)
Morgenschreiber, dann ausgedehnte Spaziergänge durch Kopenhagen.
Schön seine spezielle Droge: Ein Tässchen mit Zucker füllen und dann Kaffee aufgießen. Es entsteht ein brauner Koffein-Sirup.

Voltaire (1694-1778)
Über seine späten Jahre wird berichtet, er habe den Morgen im Bett verbracht, wo er las und seinen Sekretären diktierte. Droge: Kaffee und Schokolade. Ausfahrt in der Kutsche zwischen 14 und 16 Uhr. Dann wieder Arbeit bis 20 Uhr. Unklar, wann er aß.

Benjamin Frankling (1706-1790)

Sein Plan zur Erreichung „moralischer Vollkommenheit“ bestand darin, sich jede Woche eine Tugend vorzunehmen (Mäßigung, Sauberkeit usw.) und dann seine Verstöße dagegen in einem Kalender zu notieren. Nach einer Woche würde die Tugend zur Gewohnheit. Dies gelang ihm wohl auch, bis auf die bemerkenswerte Ausnahme der Tugend Ordnung.
Droge: Kalte Luftbäder.

Anmerkung: Es scheint, dass vor allem die Frühaufsteher auch Nachmittags-Spaziergänger sind.

Arbeitsroutinen von Künstlern I

Obwohl ich unter den mir bekannten Künstlern nicht unbedingt zu den Faulpelzen zähle, fällt es mir doch immer wieder schwer, mir sinnvolle Kreativitäts-Ecken freizuräumen. Die schlimmsten Fallen sind derzeit:
Das Internet: Man schreibt einen Text und will nur „noch mal schnell“ einen Begriff recherchieren. Und schwupps liest man sich bei Wikipedia fest, und wenn man schon mal online ist, kann man ja gleich auch noch Mails abrufen, ins Facebook reinschauen, wo ein geachteter Kollege ein hochinteressantes Video auf Youtube verlinkt, usw. usf.
Momentan gehe ich dem Computer zumindest beim Anlegen eines Textes oft aus dem Weg. Stift und Heft sind genau das richtige Werkzeug. Und ich spiele ernsthaft mit dem Gedanken, mir wieder eine mechanische Schreibmaschine zuzulegen.
Gefangen im Administrativen: Ich muss gestehen, ich organisiere gern. Die Planung des Kantinenlesens etwa – ein Zeitfresser ohnegleichen – macht mir außerordentlich viel Spaß. Und ich gehöre außerdem zur seltenen Rasse, die ihre Steuererklärung gerne macht, die mir wie eine Art Jahresrückblick aus einer bestimmten Perspektive erscheint. Aber so gerne ich diese Dinge auch tue, so weiß ich doch, dass sie mir die Zeit des Wichtigsten – des Kreativseins – rauben. Und so versuche ich (mit mäßigem Erfolg), immer mehr Aufgaben zu delegieren.
Familien-Stress: Die tief verinnerlichte Verantwortung fürs Kind und die Frau können einen sehr leicht aus dem Kreativitätsprozess herausreißen. Der Poet versucht zu fliegen, die Realität holt ihn auf den harten Boden zurück. Wer kann dichten, wenn nebenan das Kind schreit.
Kurioserweise war es der Familienstress, der dazu führte, dass ich mich wieder stärker auf Tagespläne konzentrierte. Nicht immer erfolgreich. Im Dezember letzten Jahres schlief das damals 7 Monate alte Kind morgens und nachmittags jeweils zwei Stunden. Vor- und Nachmittag teilte ich mit der Mutter auf. Eine Woche, nachdem ich einen fast minutiösen Tagesplan aufgestellt hatte, fiel er in sich zusammen, da das Kind seine Schlafgewohnheiten änderte. Derzeit weiß ich den Segen des Kindergartens zu schätzen, aber es kann natürlich jederzeit sein, dass das Telefon klingelt und wir hören müssen: „Ihr Kind hat Fieber, holen Sie es bitte ab.“ (In drei Monaten bisher drei Mal.)
Im Moment versuche ich, vormittags die Gedanken zu sammeln, gehe spazieren, mache Notizen, schreibe Textanfänge. Der Nachmittag ist reserviert für Administratives. Donnerstag werden E-Mails und Telefonate auf ein Minimum reduziert. Abends 3-4 Auftritte und 1-2 Workshops pro Woche. Es bleiben 2-3 Abende, an denen ich zuhause sitze und lese, leider auch zu oft im Internet versinke.
Der Witz ist: Alles, was wir regelmäßig tun, bewusst oder unbewusst, verfestigt sich zum Ritual, zur Routine, über die wir nicht weiter nachdenken. Also müssen wir Künstler uns zeitliche und räumliche Zonen schaffen, in denen wir schreiben, singen, tanzen können, ohne vom „Du musst“ oder „Du könntest aber auch“ gefangen zu werden.
Um einen Überblick über das tatsächliche Arbeiten zu bekommen, führe ich seit Anfang Mai ein zeitlich recht genaues Arbeitsjournal. Das Journal ist in fünf Kategorien aufgeteilt, die in den letzten sechs Monaten folgenden Anteil an der Arbeit einnahmen:
Kreatives Schreiben: 20%
Administrative Arbeiten: 20%
Shows und Auftritte: 43 %
Training: 9%
Workshops: 8%
Um die Wischi-Waschi-Grenze zu Freizeit-Aktivitäten nicht noch mehr verschwimmen zu lassen, habe ich alles exkludiert, was zu sehr in den Freizeit- oder Alltagsbereich lappt: Lesen, Internet-Recherche, Rechnungen begleichen, Treffen mit Kollegen. In den Bereich „Training“ geht alles, was klar der künstlerischen Weiterentwicklung dient, auch wenn ein direkter Nutzen nicht erkennbar ist, wie z.B. Klavier-Üben (ich werde wahrscheinlich nie öffentlich Klavier spielen).
Die Quoten sind derzeit recht zufriedenstellend. Im Vergleich zu den vergangenen Jahren habe ich die Workshop-Aktivitäten (auch wenn das derzeit das Lukrativste ist) deutlich zurückgefahren. Die Liste zeigt natürlich leider nicht die vertane Zeit, in der ich viel lieber hätte üben oder schreiben können.
Eigentlich kann ich nicht jammern: Als Vater mit einem anderthalbjährigen Kind kann ich glücklich sein, in den letzten 18 Monaten nicht nur einigermaßen, sondern sogar recht gut weiterarbeiten zu können. Und auch wenn ich nur noch selten bis um 8 Uhr morgens schlafen kann, so komme ich doch meist auf meine sieben Stunden Nachtschlaf, und im Gegensatz zu den meisten Büro-Angestellten gibt es in meiner Umgebung niemanden, der mir einen ordentlichen Nachmittagsschlaf verübeln würde.

In seinem Buch „Daily Rituals. How Great Minds Make Time, Find Inspiration, and Get To Work“ beschreibt Mason Currey, wie 168 Künstler aus verschiedenen Zeiten und aus unterschiedlichen Kunstdisziplinen ihren Tag strukturieren (oder auch nicht), welche Gewohnheiten ihr Leben und ihre Arbeit kennzeichnen, wie sie Inspirationen finden und unter welchen Umständen sie arbeiteten oder arbeiten.

W.H. Auden (1907-1973)
Frühaufsteher. Arbeitete strikt nach der Uhr. Kreative Zeit 7-11 Uhr. „Nur die Hitlers dieser Welt arbeiten nachts, aber kein ehrlicher Künstler.“ Drogen: Regelmäßig Amphetamine und Wodka Martinis. Nie später als 23 Uhr zu Bett.

Francis Bacon (1909-1992)
Aufstehen bei Tagesanbruch. Malen bis mittags. Nach außen hin scheinbar chaotisches und unordentliches Leben. Malutensilien und Bücher überall auf dem Boden verstreut, regelmäßiger Party-Gänger, reichhaltige Mahlzeiten, exzessiver Alkoholkonsum. ABER: Malen kam vor allem anderem.

Simone de Beauvoir (1908-1986)
Schwierigkeiten mit dem Tagesanfang. 10-13 Uhr und 17-21 Uhr Hauptarbeitszeiten.Wenig Luxus. Beschränkung auf die wichtigsten Dinge im Leben (inklusive Schlaf und Sex) ermöglichen die Arbeit.


Kurios auch: Fotos schreibender Schriftsteller. Welcher Schriftsteller kann schon schreiben, wenn er dabei fotografiert wird? Simone de Beauvoir muss hier für den Fotografen wahrscheinlich auch noch stillhalten und ernst gucken.

Thomas Wolfe (1900-1938)
Hauptarbeitszeit: Ab Mitternacht. Drogen: Enorme Mengen an Kaffee und Tee, sowie Zigaretten. Kuriose Gewohnheiten: Im Stehen auf dem Kühlschrank schreiben; Vorm Schreiben als Inspiration an den Genitalien spielen.

Patricia Highsmith (1921-1995)
Täglich 3-4 Stunden Schreiben am Morgen. („I have ideas as frequently as rats have orgasms.“). Harter Drink vorm Schreiben, um das Energieniveau herunterzufahren. Kettenraucherin. Kurioses Hobby: Ihre Sammlung von Schnecken, die sie bei ihrem Umzug nach Paris illegal ins Land brachte.

(wird fortgesetzt)

400. Nacht – Lies keine Nachrichten

Einer von Rolf Dobellis Tips lautet überraschenderweise: Konsumiere keine Nachrichten! Sie würden einen ablenken, sowieso nur wenig Inspirierendes beisteuern. Kreative Menschen würden keine Nachrichten sehen, hören oder lesen. Was sein Urteil gerade noch durchgehen lässt, sind "Analysen", was immer auch damit gemeint sein mag.
Für mich klingt das im ersten Moment natürlich wie eine Beleidigung. Man ist doch schließlich auch ein politischer Mensch. Aber doch merkte ich in mir, dass Dobelli da etwas gekitzelt hatte, worauf ich ansprang. Am deutlichsten ist es, wenn man aus dem Urlaub kommt und die vom Nachbarn ordentlich gestapelten Zeitungen durchstöbert. Mit jeder weiteren Zeitung erhöht sich dann der Frust: Was kümmern einen die Spekulationen über den Ausgang der Wahlen in Schleswig-Holstein, wenn die Wahl schon seit zwei Wochen gelaufen ist. Und wenn das jetzt egal ist, war es dann nicht schon damals egal?
Meine Distanz zum realen Politikgeschehen hat sich ja ohnehin immer mehr vergrößert. 1984 konnte ich jeden Minister der Kohlregierung nennen und die Ministerpräsidenten der Bundesländer noch dazu. Heute weiß ich vielleicht gut die Hälfte der Minister unter der letzten Merkel-Regierung und könnte nicht mehr als vier Ministerpräsidenten nennen. Die Gründe sind schnell gefunden: Ich sehe kein fern, und so fällt es schwerer, sich Namen zu merken, wenn die Gesichter und Stimmen fehlen. Am Gesicht würde ich Westerwelle, Schäuble, Van der Leyen, Leutheuser-Schnarrenberger und Rösler erkennen. Länder-Politik überfliege ich in der taz bestenfalls (womit auch meine Abo-Zeitung genannt wäre).
Im Übrigen ist es nicht so, dass mich politische Fragen kalt lassen würden. Ja, der Kalte Krieg ist vorbei, aber nicht einmal die Frage der atomaren Vernichtung ist vom Tisch (Interessiert sich eigentlich noch jemand außer mir für die in Deutschland stationierten Atomraketen?). Ich könnte weiterreden von bedingungslosem Grundeinkommen, Verkehrspolitik, Entwicklungspolitik, ach, es gibt wohl kein Themenfeld, dass mich nicht irgendwie berührt. Aber muss ich dafür tickermäßig die Meldungen lesen, so als sei ich der Pressesprecher eines Politikers, der alle Details kennen und auf alle Fangfragen vorbereitet sein muss?
Was würde man wissen wollen, wenn man nur ein Mal im Jahr für 20 Minuten Nachrichten lesen dürfte? Ich wette, auch noch in fünf Jahren wird ein amerikanischer Außenminister nach Israel reisen, um dort Möglichkeiten für einen neuen Friedensvertrag mit den Palästinensern auszuloten.
Ich sehe also nicht mehr fern. Die Radio-Nachrichten auf Radio Eins geizen mit Informationen. Pro Nachrichtenteil ca. sechs Meldungen, und dabei oft so nebensächliches wie Amokläufe in den USA, so als hätten diese Horror-Nachrichten irgendeine Bedeutung hierzulande oder als seien sie wichtiger als, sagen wir, die Massaker im andauernden Krieg in Kongo, von denen ich bei diesem Sender noch nie etwas gehört habe.
Die taz habe ich seit 1993 abonniert (vielleicht auch seit 1992). Ich mochte und mag die Berichte und Analysen. Verkraften muss ich ein schwaches Feuilleton, einen mageren Lokalteil mit Hang zu Linksradikalismen bis hin zu Gewalt-Verniedlichung, in dem sich nur sehr selten mal ein Rosinchen findet. Wo wird man eigentlich einigermaßen stilvoll über Berlin informiert? Ich will doch nicht die Morgenpost lesen, um zu wissen, was in meinem Stadtbezirk geschieht.
Seit über 10 Jahren lese ich außerdem die "Gehirn und Geist", die ich obendrein archiviere, dabei kommt es höchstens ein Mal im Jahr vor, dass ich ein Exemplar wieder hervorziehe, weil ich mich erinnere, dass da irgendwo ein Artikel zum Thema Autismus, Lernen, Pubertät, Sozialverhalten bei Vögeln oder Hirndoping stand. Dies schreibend überlege ich, ob es nicht doch sinnvoller ist, sich die Zeitschrift runterzuladen (kann man als Abonnent gratis) und dann das Druck-Exemplar umgehend zu verkaufen. Immerhin könnte man in den Exemplaren dann per Suchfunktion stöbern.
Den Rolling Stone hatte ich von 2000 bis 2009 abonniert. Ich hatte die Popmusik der 90er so gut wie möglich ignoriert und dabei so manche Perle übersehen, mit den 00ern sollte mir das nicht noch einmal passieren. Am Ende des Jahrzehnts stellte ich fest, dass ich nun zwar etwas besser informiert war und Perlen entdeckt hatte, die mir sonst verborgen geblieben wären (hervorzuheben ganz besonders Fiona Apple und Laura Veirs), aber Herz und Ohr hingen nun doch viel stärker als zuvor an Klassik und Jazz. Da konnten auch so großartige, mehrseitige Reportagen wie die über die scheinbar wahre Schatzinsel Oak Island oder acht Seiten über die Geschichte des Songs The Lion Sleeps Tonight, was man in dieser Ausführlichkeit weder im Internet erfahren konnte noch in irgendeinem anderen Presse-Erzeugnis.
Als ich von der POS auf die EOS wechselte, war es Pflicht, die "junge welt" zu lesen, um die Propaganda nachhaltiger zu gestalten.
Anfang 1989 abonnierte ich das "Neues Deutschland", da man dort wenigstens sofort wusste, woran man war. Tatsächlich waren die Regionalen oft einen Tag zu spät. (Ein Abonnement wie das für die löbliche Wochenzeitung Wochenpost oder Das Magazin zu bekommen, war völlig illusorisch. So etwas wurde vererbt oder höchstens aus Versehen zugestanden.)
Seit 1990 kaufe ich auch noch regelmäßig die zitty. Im Februar 1990 kostete sie 9 Ostmark, das waren 2% meines Netto-Gehalts, aber sie hatte nicht nur die West, sondern auch die Ost-Kulturprogramme aufgelistet, die allein zu studieren eine Sensation waren. Und ich las sie eigentlich auch zur Hälfte als Comic-Heft. Die Cartoons von Phil, Wächter und Fickelscherer ließen mich vor Lachen unter den Tisch fallen. Heute kämpft die zitty. Holger Fickelscherer ist von der Bildfläche verschwunden, Fil hat sich in "Didi und Stulle" verrannt. Das Kinoprogramm ist mal selektiv, mal tauchen die Film-Infos nicht mehr auf. Ob eine Programm-Info via Monopolist Cinemarketing überhaupt aufgenommen wird, liegt im Ermessen der Redakteure. Man merkt, sie geben sich Mühe, aber wenn man auf den hinteren Teil – die Kleinanzeigen – schaut, dann ist klar, was hier geschehen ist. Kleinanzeigen in der Form haben an Bedeutung verloren (im Grunde auch die Programmhinweise der zitty selbst), aber mit den Kleinanzeigen bricht auch ein wichtiger finanzieller Sockel weg. 1990 kostete die zitty 3 Mark, heute mehr als doppelt so viel. Aber im Fall der zitty gibt es natürlich auch einen subjektiven Grund der Distanzierung: Wenn gerade die Mauer gefallen ist, erscheint einem 21jährigen Westberlin natürlich tausendmal interessanter als einem mittelalten Mann, der obendrein an höchstens einem Tag pro Woche ins Kino oder ins Theater gehen kann.
Als halbwegs frischgebackener Vater sieht man sich ja außerdem in der Pflicht, sich über Fragen der Aufzucht, Erziehung, vermeidbare Elterndramen usw. zu informieren. Die Zeitschrift, auf die sich die Gattin und ich recht schnell einigen konnten, heißt Nido. Im Vergleich zu anderen Eltern-Zeitschriften lächeln einen hier nicht fußballspielende lustig-verstrubbelte Kinder vom Titelbild an, sondern wir sehen auch das Heulen, das Kaputtmachen, die Verzweiflung. Nur den Lifestyle-Scheiß gilt es zügig zu überblättern. Ob Nido nach Auswechslung der Chefredaktion oder vielleicht sogar des halben Teams noch goutierbar sein wird, bleibt abzuwarten.
Das GEO-Abo bekamen wir geschenkt. So etwas lässt man nicht liegen. Aber wieviel Zeit will man in die Lektüre dieses schönen Hefts investieren. (Schönster Artikel des letzten Jahres für mich übrigens der über die Blutbrustpaviane.)
Auch bei selektiver Auswahl der Artikel komme ich derzeit auf eine knappe Stunde Zeitungs- und Zeitschriften-Lektüre. Und schließlich will man ja auch Bücher lesen, bei denen sich zurzeit Sachbücher und Belletristik gerade die Waage halten. Und dann gibt’s auch noch so schöne Blogs wie den von Maria Popova, dieser unglaublichen jungen Frau, der es anscheinend neben ihrem Vollzeit-Job gelingt, jeden Tag ein Buch zu lesen und drei extrem interessante Blog-Einträge zu verfassen, so dass ich schon regelrecht wütend auf sie bin, dass sie sich nicht mehr Zeit lässt.
Mein Entschluss, das taz-Abos zu kündigen steht also zu 90% fest. Aber was ist die Alternative? Man will ja auch nicht als politischer Analphabet durch die Welt wanken. Zwischenzeitlich dachte ich schon, jeden Tag eine andere Tageszeitung zu kaufen. Aber dann bliebe ja immer noch das Problem, dass man mit der Lektüre dieser elenden Zeitungen doch nur Zeit verschwendet. Testhalber bestellte sich die Gattin nun mal DIE ZEIT. Genau das Richtige, dachte ich bis letzte Woche, als ich mich dabei ertappte, einen elend langen Artikel über die Koalitionsverhandlungen zu lesen. Spannend geschrieben, ja sicherlich, aber letztlich doch nur politischer Boulevard, der schon nächsten Monat niemanden mehr interessiert, da wir dann wissen, was bei den Verhandlungen herausgekommen ist. Ich zwinge mich also zur Selektion bei der ZEIT-Lektüre, beginne bei "Wissen" oder "Feuilleton", blättere "Wirtschaft" langsam und "Politik" schnell durch, überlege mir genau, ob ich das "Dossier" lese, schmeiße fast immer "Reisen" weg und überlasse die letzte Seite der Gattin zum Weinen vor Rührung.
In einem Moment des kräftigen Durchatmens bestellte ich vor zwei Wochen ein Jahres-Abo des "Guardian Weekly", eine gute Investition, wie mir bisher scheint. Der Blick auf das politisch und gesellschaftlich Wichtige der Woche aus einer anderen nationalen Perspektive erweitert den Blick, fördert die Fremdsprachenkompetenz und lädt eher zum Denken ein als das ohnehin Bekannte.
Ich könnte die Le Monde Diplomatique der taz beibehalten, aber die lese ich schon lange nicht mehr. Nach der Lektüre dieser "Analysen" geht es mir wie nach dem Lesen französischer Soziologen: Was habe ich jetzt eigentlich gelernt? Die Autoren wabern fast immer im Ungefähren, die Analysen bleiben unscharf, die Fakten könnte man auf einer Viertelseite zusammenfassen.
Vorsichtig taste ich mich an die Neue Zürcher Zeitung heran, die ich mir manchmal dienstags kaufe. Dienstags, weil ich dann immer am Zeitungsstand am U-Bahnhof Frankfurter Tor vorbeikomme, wo sie das Blatt feilbieten. Die liberal-konservative NZZ bläst ein wenig frische Luft ins Hirn, weil man durch die kuriose Schweizer Perspektive sieht, wie Gesellschaft auch funktionieren kann, weil sie über die neue Velo-Verordnung debattieren und erfrischend klar Stellung beziehen.
Mit der neuen International New York Times, die den International Herald Tribune ablöst und eher an die New York Times angelehnt ist, werde ich nicht recht warm. Ein paar mehr New York Nachrichten wären nicht schlecht, weniger Fashion, mehr Analysen.
Das Time Magazine kommt nicht in Frage. Da könnte ich mir auch gleich den Spiegel kaufen.
Eher schon The Economist, von dem ich hier neulich schon verhalten schwärmte.
Eigentlich müsste ich auf die Süddeutsche umsteigen, aber bedenkend, wieviel Zeit ich mit ihr im Urlaub verbracht habe, lasse ich lieber die Finger von ihr.
Vielleicht gelegentlich noch FAZ, El País und eine jener seltsamen Philosophie-Zeitschriften, die sich neu am Markt etablieren.
Die Sonntaz bleibt mir aber erhalten. Man will sich ja auch nicht gemein machen mit den empörten "Ich kündige mein Abo"-Leserbrief-Schreibern, obwohl es mir in den Fingern juckt.

***

Doch als die vierhundertste Nacht anbrach, fuhr sie also fort: …

Masrûr antwortet auf des Kalifs Vorwurf, ihn verspotten zu wollen:

"Nein (…) bei deiner Verwandtschaft mit dem Fürsten der Apostel, ich habe das nicht aus freiem Willen getan…"

Unklar. Petrus kann ja hier wohl nicht gemeint sein. Eigentlich muss man davon ausgehen, dass Masrûr auf die von Harûn behauptete Verwandtschaft mit Mohammed anspielt (die es, wie hier schon erwähnt, nicht gab). Es fragt sich dann nur, in welchem Sinne Mohammed ein Apostel ist. Ein Apostel Allahs?

Masrûr fährt fort, er habe bei einem Spaziergang in der vergangenen Nacht einen Spaßmacher namens Ibn el-Kâribi getroffen,

der das Volk zum Lachen brachte.

Der Kalif befiehlt, ihm diesen Mann zu bringen. Masrûr holt ihn und verlangt aber von ihm insgeheim drei Viertel jenes Geschenks, das der Kalif ihm eventuell geben würde. Nach einigem Gefeilsche einigen sie sich auf zwei vs. ein Drittel.
Ibn el-Kâribi soll also Scherze vor dem Kalifen vortragen, doch der Kalif warnt ihn, er würde ihm Schläge mit einem Sack verabreichen.

Nun erzählte er so lustige Dinge, dass selbst ein Zorniger hätte lachen müssen, und er trug allerlei Arten von Scherzen vor. Doch der Kalif lachte nicht und verzog keine Miene zum Lächeln.

Der scheinbar leere Sack enthält aber vier Kieselsteine,

von denen jeder zwei Pfund wog.

Nach dem ersten Schlag bricht Ibn el-Kâribi zusammen und besinnt sich der Abmachung mit Masrûr. Er verlangt, dass dieser den Rest der Schläge bekommen soll.

Als der Herrscher diese Worte von ihm vernahm, lachte er, bis er auf den Rücken fiel; danach rief er den Masrûr herbei und gab ihm einen Schlag. Der aber schrie auch und rief: "O Beherrscher der Gläubigen, ein Drittel ist genug für mich, gib ihm zwei Drittel."
Da bemerkte Schehrezâd, dass der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an.

Sieben Jahre Brain Pickings

Sieben Jahre Brainpickings Blog. Woher diese junge Frau die Zeit und die Kraft nimmt, soviel zu lesen und zu schreiben, und das neben einem Vollzeit-Job, ist mir unklar. Ihre sieben wichtigsten Lehre aus diesen sieben Jahren:

  1. Erlaube dir den Luxus, deine Meinung zu ändern.
  2. Tue nichts nur um des Geldes, des Status oder der Anerkennung willen.
  3. Sei großzügig.
  4. Schaffe dir Zonen der Ruhe.
  5. Wenn dir Leute sagen, wer du bist, glaube ihnen nicht.
  6. Präsenz ist eine komplizierter und lohnender als Effizienz.
  7. Alles Lohnende braucht seine Zeit.

Wie „leer“ soll man auf die Bühne gehen?

Soll man mit einer Intention auf die Bühne gehen? Mit einer Figur? Mit dem Ansatz einer Story? Mit einer Bewegung oder Handlung? Oder soll man sich völlig leeren?
Ein Improspieler, der mit einem unverrückbaren Plan die Bühne betritt, verrät letztlich die Improvisation. Abgesehen davon macht es auch nur wenig Spaß, mit so einem Improvisierer zu spielen, da er zu sehr an den eigenen Ideen festhängt.
Auf der anderen Seite sollte ein Spieler auch einen gewissen Schwung auf die Bühne bringen, statt ihn erst auf der Bühne zu finden. Zwar ist es in bestimmten Formen auch interessant zu sehen, wie ein Spieler aus dem völligen Nichts eine Bewegung kreiert, diese verstärkt und sich daraus ein Tanz oder eine Szene ergibt. Aber als generelle Haltung empfinde ich das doch etwas fad, vor allem, wenn wir uns inmitten einer Story befinden. Ein Spieler, der die Bühne betritt, ist eben auf der Bühne, in der Szene, inmitten des Geschehens.
Ich wurde diese Woche im Workshop gefragt, ob wir (von Foxy Freestyle) mit Intentionen auf die Bühne gehen. Meine Antwort: „Kommt drauf an.“ Ich finde es absolut legitim, mit einer Haltung, einer Emotion, einem Status die Bühne zu betreten, insbesondere, wenn bereits etwas etabliert ist. Die Frage, die ich mir offstage stelle, lautet: „Was fehlt? Was kann ich beisteuern?“
Ich kann dann z.B. in Kontrasten denken: Der langsamen Szene etwas flottes folgen lassen. Dem Tiefstatus-Spieler einen etwas höheren Status entgegensetzen. Eine zusätzliche emotionale Färbung beisteuern usw.
Oder ich denke im Sinne von Verstärkung: Den Schwung auf der Bühne ausnutzen und vorantreiben. Das Problem der Szene verschärfen. Das interne „Spiel“ der Szene vollenden usw.
Als Spieler, der die Szene beginnt, kann ich mir etwas kleines vorgeben: Eine emotionale Grundstimmung, eine Tier-Inspiration für meinen Character, ein kleines privates Game, das ich mit meinem Partner spiele, ohne dass er es weiß.
Und natürlich kann ich auch als bereits etablierter Character mit einer bestimmten Intention die Bühne betreten.
Der Witz ist nur – diese Intentionen dürfen nicht dazu führen, dass ich mich Neuem verschließe, dass sie mich davon abhalten, im Moment zu sein, zuzuhören, die Angebote des Mitspielers anzunehmen. Ich brauche innere Transparenz und Durchlässigkeit, sowie die Bereitschaft, meine Intentionen jederzeit für das zu opfern, was neu im Moment entsteht.

399. Nacht – From Red to Blue

Da ist also dieser sehr gute Freund, den ich schon seit fast einem Vierteljahrhundert kenne. Viel gereist sind wir, haben einander beigestanden, und politisch brachte er seinen Zwiespalt mal mit dem Liedvers von Billy Bragg auf den Punkt:
„Should I vote red for my class
or green for my children?“
Dass er sich schließlich im Zweifel immer für Rot (d.h. PDS/Linke) entschied, war klar. Und dann überraschte er mich vor vier Jahren bei einem Spaziergang mit der Ankündigung, FDP gewählt zu haben. Ich glaubte an einen deadpan vorgetragenen Scherz. Aber es war keiner. Über 67 Prozent Steuern würde er zahlen, rechnete er mir vor. (Einkommensteuer und Mehrwertsteuer zusammengerechnet.) Ich konnte meinen Ohren kaum trauen. Er sprach wie die, die er vor 15 Jahren noch kritisierte. Es ging dabei nicht länger um Fragen, wie die Gesellschaft zusammengehalten werden solle, wie man gemeinsam leben solle, und schon gar nicht ging es um Gerechtigkeit.

In den vergangenen vier Jahren wurde er, wenn es um Politik ging, beinahe schweigsam, zu sehr boten die Liberalen eine Hampelmannveranstaltung. Aber als ich ihn vor drei Wochen, kurz bevor wir uns verabschiedeten, fragte, was er diesmal wählen würde, schaute er mich kurz an, zögerte, und meinte dann: „Sag ich nicht.“ Und ich wusste, es würde wieder die FDP, die Partei, die ihm übrigens auch beim Wahlomat angezeigt wurde.
Was ist geschehn, was ist passiert, was hat dich bloß so korrumpiert?, möchte ich da mit „Die Sterne“ fragen.
Nun stand ich im Zeitungsladen am Bahnhof. Auf Reisen kaufe ich Zeitschriften, die ich sonst nicht oder nur selten lese. Was würde der Freund lesen? Kaufe „Die Wirtschaftswoche“, „The Economist“ und das „Handelsblatt“, bestimmt keine schlechte Auswahl für einen international agierenden Bankenberater. Sollte das gesellschaftliche Sein wirklich das Bewusstsein bestimmen?
Keine große Überraschung bot das Handelsblatt. Wirtschaftliche Nachrichten dominieren, Politisches wird mit leicht konservativer Schlagseite beleuchtet. Den Economist kannte ich bereits recht gut und habe ihn auch schätzen gelernt. Die meist sehr gut recherchierten Artikel sind nie namentlich gekennzeichnet, eine heutzutage etwas unverständliche Marotte, die man sich aber leisten kann, wenn man ein erfolgreiches Presseorgan von England aus führt, wo eine kleine Marottenhaftigkeit zum guten Ton gehört. Der Ton hier durchaus liberal, aber stets gut durchdacht, nie vorhersehbar, so unterstützte The Economist Maggie Thatcher, aber auch den linken Londoner Bürgermeister Ken Livingstone. Der Artikel zur Wahl in Deutschland völlig Merkel-geprägt, und (vielleicht nicht ganz so unvorhersehbar) mit ordentlichen Sympathien für die Kanzlerin, die sie auch hier nicht müde werden, „Mutti“ zu nennen. (Alleine zu dieser furchtbaren Vokabel und der damit verbunden sanften Selbstironie müsste ein Artikel geschrieben werden.)
Doch der Hammer kam mit der Wirtschaftswoche, die schon in Bild-Manier aufmacht „Wahltag ist Zahltag. Das kostet sie die Wahl.“ Der Titel-Text zögert in keinem Abschnitt, Zahlen aus dem Zusammenhang zu nehmen, falsche Rechnungen aufzumachen (z.B. indem nur Teile des Steuerkonzepts berücksichtigt werden). In einer Tabelle für Singles, Paare mit Kindern und ohne Kinder werden die Entlastungen und Belastungen aufgelistet. Das Ergebnis steht schon in der Überschrift: „Liberale geben, Sozialdemokraten nehmen.“ Die Tabelle beginnt übrigens bei 20.000 Euro Jahreseinkommen, und so kann man auch fragen, wem denn da genommen und wem gegeben werden soll. Die Linken etwa werden für ihre Pläne im Fließtext so kritisiert: Die Linke „würde sogar geringverdienende Familien zusätzlich belasten. Hier schlägt das Weltbild durch. Um beide Eltern in die Berufstätigkeit zu drängen, soll die traditionelle Rollenverteilung per Steuerrecht (Ehegattensplitting) abgeschafft werden.“ So liest man also ganz nebenbei vom Weltbild der Wirtschaftswoche etwas mit, die dann doch an der „traditionellen Rollenverteilung“ hängt und dazu tendiert, Frauen eher zu entmutigen, sich ins Arbeitsleben zu begeben.
In ihrem Fazit werden alle fünf verglichenen Parteien abgewatscht. Die Linke wolle „einen radikalen Umbau des Systems. Enteignungsgleiche Steuern für Gutverdienende“, die Grünen seien links von der SPD positioniert, die SPD sei vom „wirtschaftsfreundlichen Kurs der Schröder-Ära“ abgekehrt, die CDU tendiert zu „mehr Umverteilung“ (sprich: Auch sie ist demokratischer geworden), und selbst die FDP kriegt, wenn auch mäßig, ihr Fett weg: „Die einstige Drei-Stufen-Partei ist bescheiden geworden. Moderate Entlastungen für alle durch Soli-Abbau“.
Wenn man das jede Woche liest, wird man dann zum FDP-Wähler? Nicht unbedingt. Aber wenn man außerdem gut verdient, sich mit Wirtschafts-Woche-Lesern umgibt, die ebenfalls über zu hohe Steuern mosern, dann vielleicht.
***
Der Dieb bittet den Marktwächter um eine Kerze, setzt sich in den Laden und liest im Rechnungsbuch. Am nächsten Morgen bittet er um Kamele und einen Treiber, lädt vier Ballen auf die Kamele, gibt dem Wächter zwei Dirhem und verschwindet.
Der Eigentümer (um die lange Geschichte kurz zu machen) verfolgt ihn bis
„an den und den Ort“.
Häufige Formulierung, in diesen kurzen Anekdoten, aber genauso könnten sie auch „Kairo“ oder „Basra“ sagen.
Dort findet der nach weiteren Auskünften das Magazin des falschen Kaufmanns, der seinen Mantel auf den Stoffballen abgelegt hat. Der Eigentümer nimmt alles mit, der Dieb aber verfolgt ihn,
bis die Stoffe im Schiff verladen waren. Da sprach der Dieb zum Kaufmann: „Bruder du stehst in Gottes Hut; du hast deine Stoffe wiedererhalten und nichts verloren; nun gib mir auch den Mantel zurück!“ Der Kaufmann musste über ihn lachen, gab ihm den Mantel zurück und belästigte ihn nicht weiter. Darauf zog ein jeder seines Wegs.
Eine sich hinziehende Zweieinhalb-Seiten-Geschichte mit fader Pointe.
***
Die Geschichte von Masrûr und Ibn El-Kâribi
Wieder einmal kann der Kalif Harûn er-Raschîd nicht schlafen.
Nun stand sein Eunuch Masrûr vor ihm, und der musste gerade lachen.
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Scheitern

Keith Johnstone sagte einmal sinngemäß, wenn eine Improgruppe nicht wenigstens in zehn Prozent ihrer Shows scheitert, hat sie ein echtes Problem. Man kann ihm insofern zustimmen, als dass es ein Zeichen von Stagnation sein kann, wenn alles zu glatt läuft. Die Gruppe arbeitet dann womöglich nicht am oberen Ende ihre Könnens. Als ich vor ein paar Jahren die legendären Crumbs scheitern sah (sie versemmelten nicht die gesamte Show, sondern nur eine Szene), war ich beinahe froh, sie quasi auch nur mit Wasser kochen zu sehen. Man verstehe mich nicht falsch: Ich fühlte keine Schadenfreude, sondern es war wie ein kalter Wasserguss, zu erleben, dass die beiden Impro-Füchse nicht auf Sicherheit spielen, sondern sich auch mal konzeptionell verrennen. Wie sehr müssen sich Improvisierer langweilen (oder vor Neuem fürchten!), wenn sie Woche für Woche über Jahre hinweg immer wieder dieselbe gut funktionierende Show erfolgreich aufführen.
Vielleicht aber sollten wir das Scheitern mal genauer betrachten. Es ist ja nicht gemeint, dass man bewusst scheitern soll oder bewusst schlecht spielen, wie um zu „beweisen“, dass man improvisiert. Scheitern in Kauf zu nehmen bedeutet, die Improvisation ernst zu nehmen, Risiken einzugehen:
Anspruchsvolle Lyrik zu improvisieren.
In einem großen Ensemble Storys mit mehreren Ebenen zu erfinden.
mehrstimmig den gleichen Text improvisierend zu singen.
Einen wagemutigen Improvisierer können wir uns vorstellen wie einen Jongleur, der noch einen zusätzlichen Ball wirft, im Wissen, dass die Gefahr zu droppen erhöht wird. Die Kunst besteht darin, die Grenze zu finden und immer wieder neu auszuloten. Um im Bild zu bleiben: Wenn ich nicht in der Lage bin, drei Bälle in der Luft zu halten, ist es einfach dämlich mit fünfen zu beginnen.

Wann ist eine Show gescheitert? Das zu beantworten, mag schwierig sein: Als Daumenregel kann man sich fragen:
Hat die Show mir gefallen?
Hat die Show meinen Mitspielern gefallen?
Hat die Show dem Publikum gefallen?
1. Wenn die Show sowohl dir als auch deinen Mitspielern gefallen hat, dem Publikum aber nicht, müsst ihr nicht unbedingt in Panik verfallen. Ihr seid in dem Punkt gescheitert, zu kommunizieren, was ihr auf der Bühne zu sagen habt. Wahrscheinlich seid ihr gerade auf dem Wege der künstlerischen Weiterentwicklung. Euer Konzept ist vielleicht noch nicht ausgereift genug, dass die Zuschauer es wirklich goutieren können. Geduld ist gefragt. Oft genügt ein Drehen an dem einen oder anderen Schräubchen.
2. Wenn die Show nur dir oder nur dir und dem Publikum gefallen hat, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass du in die Ego-Falle getappt bist. Entweder die Show ist deine Kopfgeburt oder du hast dich auf Kosten der Mitspieler profiliert. Höre genau auf das Feedback deiner Mitspieler.
3. Wenn die Show nur dir missfallen hat, dann könnte es sein, dass du heute auf einem Negativ-Trip unterwegs bist. Das Scheitern wird von dir größer wahrgenommen als es eigentlich ist.
4. Wenn es allen gefallen hat oder wenn es allen missfallen hat, dann habt ihr kein Problem. „Was? Wieso haben wir kein Problem, wenn alle die Show furchtbar finden?“ „Weil ihr nach wie vor dasselbe wollt. Ihr seid zwar gescheitert, aber eure Reise geht in dieselbe Richtung. Und wahrscheinlich bleibt euch euer Publikum treu, wenn ihr es nicht gerade über Monate hinweg enttäuscht.“)

Problematisch wird es, wenn die Wahrnehmung der Mitspieler untereinander auf Dauer dissonant bleibt. Die einen fanden es großartig, die anderen wollen etwas anderes und spielen nur widerwillig mit. Bevor das sich als Muster verfestigt, solltet ihr miteinander reden.

Ergänzung 2019: Diese Gedanken wurden später noch ausgeführt in Dan Richter: „Improvisationstheater. Band 8: Gruppen, Geld und Management“

Ricky Gervais about his greatest artistic influence

„Making ordinary extraordinary is so much better than starting with the extraordinary, because it doesn’t really connect. … You watch those shows, and it washes over, you don’t think about it the next day. Whereas, if something is real for one person, it’s touched their life… As a dcreator or director it’s your job to make an audience as excited and fascinated about a subject as you are. And real life does that.“ (Ricky Gervais)

398. Nacht – Schnell mal Barilla boykottieren?

Was ist das für ein seltsamer Shitstorm? Der Nudelchef Barilla wird gefragt, warum er keine Homo-Paare in seinen Werbespots filmt, und er antwortet, dass für ihn die Familie mit Frau heilig sei und dass er gegen ein Adoptionsrecht für Homopaare sei, da er die Erziehung bei gleichgeschlechtlichen Eltern für schwierig halte.
Die Interviewer lassen nicht locker: Ob er denn keine Angst habe, dass Homosexuelle jetzt andere Nudeln kaufen würden. Barilla lapidar: Mein Gott, wer mit dem Spot nicht leben kann, soll eben andere Nudeln essen.
Und das soll jetzt homophob sein? Vielleicht ein wenig konservativ. Aber er fügt noch hinzu, dass er sogar die Homo-Ehe unterstütze, was in Italien, wo es keinerlei rechtliche Anerkennung für gleichgeschlechtliche Paare gibt, schon revolutionär ist.
Anlass genug, um zum Nudel-Boykott aufzurufen? Als ob es im Kampf gegen die Diskriminierung von Schwulen und Lesben in Italien keine dickeren Bretter zu bohren gäbe.

***

398. Nacht

Kalif el-Mamûn versucht, in die ägyptischen Pyramiden einzubrechen und wendet sehr viel Geld dafür auf, doch nur aus einem kleinen Loch gelingt es ihm, Geld zu holen – genau die Summe, die die Bohrung verursacht hat.
Es folgen Lob und Beschreibung der Pyramiden sowie vier Lobeshymnen, davon das letzte:

Wo ist der Mann, der einst die Pyramiden baute?
Wie hieß sein Stamm? Wann war sein Tag? Wo ist sein Grab?
Die Werke überdauern die Männer, die sie schufen,
Nur kurz, dann kommt der Tod und stürzt auch sie hinab.

Die leise Hoffnung der atheistischen Künstler, wenigstens mit den Werken zu überleben, auch nur eine quasi-religiöse Ausweichbewegung hin zur Schimäre.

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Die Geschichte vom Dieb und dem Kaufmann

Ein ehemaliger Dieb

hatte sich in aufrichtiger Reue wieder Allah zugewendet und einen Laden eröffnet, in dem er Stoffe verkaufte.

Ein schlauer Dieb zieht sich Kleider an, die denen des Kaufmanns ähneln und nähert sich abends dem Basar.

397. Nacht – Studierendenfutter

Wenn ich mal eine Liste "Bücher, die ich nach langem Hin-und-Her-Überlegen dann doch nicht gekauft oder gelesen habe" anlegen sollte, steht gewiss auch Bernhard Lassahns "Frau ohne Welt" drin. Dabei behandelt er ein Thema, das mir täglich Schmerzen bereitet – die angeblich "geschlechtergerechte Sprache". In den 90ern hatte ich manchmal noch gedacht, das "Innen" wäre als kleine Provokation ganz gut. Dann blieb es. Und dann wurde langsam klar, dass man es nicht aussprechen konnte. Was über Umwege wie die noch beschmunzelnswerten Komplett-Idiotien "Krankenschwesterinnen" führte, erreichte schließlich einen kollektiven Verblödungsschwung, so dass Wörter wie "Student" anscheinend kurz davor sind auszusterben, da der Anpassungsdruck zu hoch und das Sprachgefühl der Abiturienten verkümmert ist. (Studierendenfutter, Professierende)
Rechtsnormen waren wohl schon immer der Kreißsaal sprachlicher Zumutungen, aber die Arroganz, mit der die neue StVO in die Sprache pfuscht, schlägt dem Fass den Boden aus. "Zu Fuß Gehende", "Rad Fahrende" – aus einem Status wird eine permanente Tätigkeit. Die Chuzpe, dann auch die Fußgängerzone zur "Zu-Fuß-Gehenden-Zone" zu machen, brachten die Autoren dann doch nicht auf.
Das Argument der feministischen Sprachkritikerinnen ist immer wieder, mit Sprache würde Macht ausgeübt. Der Fehlschluss besteht darin, dass man eine Inklusion erzeugen will, die die Sprache nicht zu leisten imstande ist. Die Uneindeutigkeiten bleiben. Hörer würden sich, so heißt es, wenn von "Professoren" die Rede ist, sich hauptsächlich Männer vorstellen. Aber liegt das an der Sprache oder an den sozialen Tatsachen, den Diskriminierungen, die zu bekämpfen etwas mehr Anstrengung erfordert als ein Binnen-I zu schreiben?
Und dann kommt Bernhard Lassahn und schreibt "Frau ohne Welt". In der Buchbeschreibung des Verlags heißt es:

"Das feministische Ziel ist längst nicht mehr die Gleichberechtigung der Frau, sondern die Überwindung des Mannes als etwas Vorzeitlichem. Der Feminismus wendet sich gegen Mann und Mutterschaft und damit gegen die Familie. Wer den Feminismus gutheißt, schickt die Frau in eine kinderlose Weltfremdheit, die keine Zukunft hat. Er schadet allen."

Lassahn holt sich bei der Präsentation in unserem guten alten Zebrano-Theater Schützenhilfe ausgerechnet bei Arnulf Baring, Andreas Krause Landt und Monika Ebeling. Wenn man die Hand so weit nach rechts ausstrecken muss, um Gleichgesinnte zu finden, muss ich’s nicht lesen.

*

397. Nacht

Wie zu erwarten war, bleibt der Jüngling auch in der dritten Nacht fern und die Jünglinge wollen ihre Blutrache an Abu Dharr vollstrecken,

"was das Gesetz des Islams vorschreibt."

Man bietet ihnen Wergeld an, aber das lehnen sie ab. Doch im letzten Moment trifft der Jüngling ein:

Wisset ihr nicht, dass keiner dem Tode, wenn er sich einstellt, entrinnen kann? Ich habe mein Wort gehalten, auf dass es nicht heiße, die Treue sein unter den Menschen geschwunden."

Und auch das Ende erinnert uns an Schillers "Bürgschaft", die freilich auch nur eine Bearbeitung der sizilianischen Legende von Damon und Phintias ist.

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Die Geschichte von dem Kalifen El-Mamûn und den Pyramiden

El-Mamûn, der Sohn des Kalifen Harûn er-Raschîd, reist nach Kairo, um dort die Pyramiden einzureißen und an die in ihnen verborgenen Schätze zu gelangen.

Da bemerkte Schehrezâd, dass der Morgen begann und hielt in der verstatteten Rede an.

Geld und Kunst

Elizabeth Hydes Stevens zum Verhältnis von Geld und Kunst:
„Der Tanz braucht sowohl Geld als auch Kunst, aber nicht zur gleichen Zeit. Auf der ersten Ebene ist das Wichtigste, dass sich der Künstler eine Sphäre für seine Begabung sichert, in der die Kunst geschaffen werden kann. Aus dieser Sphäre muss Geld ferngehalten werden. Aber auf den nächsten zwei Ebenen können sie tanzen. Ich sehe es so, dass [Lewis] Hydes Tanzschritte ungefähr so gehen:
1. Mach Kunst.
2. Lasse die Kunst Geld machen.
3. Lasse Geld Kunst machen.“

Ausführlicher dazu in Maria Popovas Blog

Gunter Lösel zum Prozess der Konstruktion

Gunter Lösel in seinem lesenswerten neuen Buch „Das Spiel mit dem Chaos. Zur Performativität des Improvisationstheaters
„Der Prozess der Konstruktion wird (…) selbst zu einem Wahrnehmungsgegenstand der Improvisationsaufführung und tritt mindestens gleichwertig neben die Fiktion, sodass der Zuschauer jedes Element der Aufführung gleichzeitig innerhalb von zwei Rahmungen wahrnehmen kann, erstens als Element der Fiktion, zweitens als Element des Konstruktionsspiels Improvisation:

(…) Der Prozess der kollaborativen Konstruktion zur Hervorbringung einer Fiktion wird nicht verborgen, sondern sichtbar gemacht. (…) Wo die Fiktion zu glatt wird, verändert sich die Wahrnehmung des Zuschauers, und er nimmt die Aufführung nicht mehr als improvisiert wahr, weil er das zweite Wahrnehmungsobjekt, den Prozess der Konstruktion aus der Aufmerksamkeit verliert.“ (Kursiv im Original)
Ein interessantes Thema. Ich habe hier auch schon vor einiger Zeit darauf hingewiesen, dass einige Games so gespielt werden sollten, dass man wirklich an die Grenze des Machbaren geht. Und wenn z.B. eine ABC-Geschichte zu gut gespielt wird, verliert sie vollkommen ihren Reiz. Andererseits habe ich durchaus „glatte“ Langform-Fiktionen erlebt, ohne dass irgendwer den Prozess des Erschaffens aus den Augen verloren hätte. Denn diese Ebene kann eigentlich gar nicht im Improtheater verlorengehen. Zu sehr ist der Spieler auf den anderen angewiesen, zu sehr ist dem Zuschauer (selbst bei Solo-Improvisationen) der Flow klar, in dem sich der Spieler bewegt, gerade wenn es gut läuft. Dazu trägt natürlich auch andere Faktoren bei, z.B. der Live-Charakter (deshalb funktionieren ja Videoaufnahmen von Impro-Shows oft nur wie ein müder Abklatsch), das Zurechtkommenmüssen mit dem Fehlen von Requisiten, usw.

Filmische Mittel ernstnehmen und persiflieren oder weglassen?

Bekanntlich sind Filmgenres ein beliebtes Format im Improtheater. Das Problem, das sich dabei offensichtlich stellt: Wir sind nun mal auf der Bühne und können viele Möglichkeiten der Kamera, des Casts, Equipment der Spezialeffekte usw. nicht nutzen. Wie geht man damit um?
Einiges lässt sich ja praktisch in die Pantomime einbetten (z.B. in ein Auto steigen).
Aber soll man auf die anderen Effekte völlig verzichten? Nehmen wir z.B. die Nahaufnahme. Wie Improspieler dies auf die Bühne bringen (mit den Armen die Leinwand oder den Fernseher um das Gesicht des Darstellers andeuten), ist selber zum Impro-Klischee geronnen und nichts weiter als ein kleiner Lacher, der ja auch nichts bringt – als Zuschauer sehen wir durch dieses kleine Gimmick auch nicht mehr, und für die Story hat es auch keinen Effekt. Andererseits bieten Landschaftsaufnahmen, Massenszenen u.a. die Möglichkeit, durch körperliche Phantasie Neues zu schaffen. Ich denke, wenn man sich eines Filmgenres annimmt, sollte man sich ruhig auch die Zeit nehmen, die filmischen Mittel zu durchdenken und gegebenenfalls einiges bewusst fallenlassen oder bühnenadäquate Umsetzungen finden, die dem Zuschauer auch wirklich etwas bringen.
Ich bin mir in dieser Frage noch nicht sicher und freue mich über Kommentare und Widerspruch.

Horror-Genre-Klischees

Hübsche Top Ten Liste der Horror-Klischees. Teilweise sind es gar nicht mal Klischees, sondern notwendige Eigenschaften des Genres (z.B. die Isolation des bedrohten Ortes). Wer den Clip nicht ganz sehen will und wem die deutsche Zusammenfassung reicht, bitte nach unten rollen.

10. Nacktheit und Sex = Tod.
9. Der Schwarze stirbt immer (und sogar mit größerer Sicherheit als die Blondine).
8. Vorm Tod verstecken
7. Zwei linke Füße. (Die Flüchtenden fallen andauernd hin.)
6. Nur Messer. (Keine Schusswaffen)
5. Die Polizei ist unbeholfen.
4. Falscher Schrecken. (Vor allem im ersten Teil des Films erschrickt man sich wegen Banalitäten.
3. Irgendwo im Nirgendwo. (Mit der Ausnahme von Zombie-Filmen)
2. „Wir sollten uns hier trennen.“
1. Er stirbt einfach nicht.… Weiterlesen

396. Nacht – Österreichische Bäuerin als Tom Sawyer und die Geißel der Menschheit

Die Nachrichtenagentur dpa meldet heute, eine pekuniär klamme österreichische Bäuerin habe sich als Domina zwei Sklaven gehalten, die nackt und in Gummimasken für sie schuften mussten und dafür auch noch bezahlten. "Bis einer der Sklaven Betrug witterte und sie bei der Polizei anzeigte."
Nicht aus Schadenfreude hält sich unser Mitleid für diese beiden Arbeiter wider Willen in Grenzen, sondern vielmehr weil sich in diesem skurril-bizarren Fall die Janusköpfigkeit der Arbeit zeigt. Eigentlich kennen wir es schon von Tante Pollys berühmtem Zaun, um dessen Weißung sich Tom Sawyers Freunde reißen, nachdem er es ihnen als reine Freude darstellte. Arbeit ist eben doch ein Bedürfnis, solange es nicht in "Arbeit" ausartet. Und "Arbeit" ist die mühevolle, sinnentleerte Lohnarbeit, man könnte mit dem jungen Marx auch sagen "entfremdete Arbeit". An der Tätigkeit selber hatten die beiden Nudisten und gummiliebhabenden Masochisten offenbar gar nichts auszusetzen, sie verschaffte ihnen sogar Lustgewinn. Dieser ist so groß, dass die beiden bereit sind, so wie Toms Freunde, auch noch zu zahlen, um die Arbeit erledigen zu können.
Diese kleine Episode ist doch ein schönes Argument für uns Kämpfer ums Bedingungslose Grundeinkommen: Das Bedürfnis sich tätig zu entfalten, kann ja hier überhaupt nicht geleugnet werden. Es kommt nur auf die Vorzeichen an. In diesem speziellen Falle ärgerte sich wohl der Nackerte, dass die Dame seines Herzens das Ganze nicht auch als sexuelles Lust-Spielchen ansah, sondern praktisch die Meta-Spielregel änderte und das Ganze für sich zur Lohnarbeit umdefinierte, wobei der Lohn ja de facto ein negativer war.
Vielleicht wäre es mal ein Experiment wert: Würden mehr Menschen dafür zahlen, arbeiten zu dürfen, wenn sie dies nackt erledigen können?
Aber eigentlich haben wir es mit einem ernsten Problem zu tun: Arbeit wird doch der Mehrheit der Bevölkerung als etwas Furchtbares dargestellt, man müsse sich zusammenreißen, sich den ganzen Tag über mit eintönigem, sinnlosem Geracker quälen. Wenn’s Spaß macht, steht die Tätigkeit auch irgendwie im Verdacht, keine richtige Arbeit zu sein. Grob gesprochen, will am Ende keiner arbeiten aber jeder will einen Job.
Und dann zeigt man mit dem Finger auf verblödete Unterschicht-Familien, die sich vorm Fernseher auf der Couch breitmachen und überhaupt keine Lust haben, noch arbeiten zu gehen.
Bedingungsloses Grundeinkommen würde dieses Verhältnis ändern. Nicht von heute auf morgen. Aber es wäre die Grundlage dafür, dass Arbeit nicht mehr als Geißel der Menschheit betrachtet wird.

***

Der Jüngling gesteht, den Vater der beiden anderen jungen Männer erschlagen zu haben, bittet aber der Kalifen Omar, seine Geschichte erzählen zu können.

Wisse denn, o Beherrscher der Gläubigen, ich bin ein echter Vollblutaraber Kind, von denen, die unter dem Himmel die edelsten sind.

Beide Gerichtsparteien sind übrigens die ganze Zeit am Reimen, was vielleicht eine schöne Pflicht in heutigen Strafprozessen wäre.

Der Jüngling berichtet, wie einer seiner Kamelhengste sich über die Mauer eines Gartens beugte, um dort zu fressen, woraufhin der Besitzer des Gartens das wertvolle Kamel erschlug, was den Jüngling so sehr erzürnte, dass er den Kameltöter nun selbst umbringt. Kalif Omar meint, dieses Geständnis schütze ihn nicht vor einem harten Urteil. Der Jüngling ist bereit, das Urteil anzunehmen, bittet aber um drei Tage Zeit, um seinem minderjährigen Bruder das Erbe, das er irgendwo vergraben habe, auszuhändigen. Er würde auch einen Bürgen dalassen.

Das kommt uns doch recht bekannt vor:
"Und willst du mir geben drei Tage Zeit,
bis ich die Schwester dem Gatten gefreit.
Ich lasse den Freund dir als Bürgen.
Ihn magst du, entrinn ich, erwürgen."

Als Bürge soll ausgerechnet Abu Dharr einstehen.

Abu Dharr gilt als einer der ersten vier Muslime und seine Tugend wurde von Mohammed mit der Jesu verglichen.

Ernest Hemingway – Omitting / Weglassen

„If a writer of prose knows enough of what he is writing about he may omit things that he knows and the reader, if the writer is writing truly enough, will have a feeling of those things as strongly as though the writer had stated them. The dignity of movement of an ice-berg is due to only one-eighth of it being above water. A writer who omits things because he does not know them only makes hollow places in his writing.“ „Wenn ein Prosaschriftsteller genug davon versteht, worüber er schreibt, so soll er aussparen, was ihm klar ist. Wenn der Schriftsteller nur aufrichtig genug schreibt, wird der Leser das Ausgelassene genauso stark empfinden, als hätte der Autor es zu Papier gebracht. Ein Eisberg bewegt sich darum so anmutig, da sich nur ein Achtel von ihm über Wasser befindet.“

Customary motifs and themes in Hitchcock’s films – Happy birthday, Alfred

Taken from The Guardian’s infographic on today’s 114th birthday.

1) Hero is a middle-class Everyman.2) Somebody gets murdered.
3) Hero is wrongly suspected of crime.
4) Double chase (e.g. police chases hero, hero chases villain).
5) Villain is charming and initially trusted.
6) There are sinister henchmen (or henchwomen).
7) The heroine believes in the hero’s innocence.
8) There is a staircase.
9) There is a journey by train.
10) There is a hotel, boarding house or cruise ship.
11) There is a scene in a theatre, cinema, concert hall.
12) Priest, nun or religious character.
13) Perversity, voyeurism or fetishism.
14) Villain caught or dies, happy ending, hero and heroine together.

According to this list, „Birds“ is the most atypical Hitchcock film.

1) Der Held ist ein Jedermann aus der Mittelklasse.
2) Jemand wird umgebracht.
3) Der Held wird fälschlicherweise eines Verbrechens verdächtigt.
4) Doppeljagd (z.B. Polizei jagt Held, Held jagt Schurken).
5) Der Schurke ist charmant und man vertraut ihm zunächst.
6) Es gibt düstere Handlanger.
7) Die Heldin glaubt an die Unschuld des Helden.
8) Es gibt eine Treppe.
9) Es gibt eine Zugreise.
10) Es gibt ein Hotel, eine Pension oder ein Kreuzfahrtschiff.
11) Eine Szene spielt im Theater, im Kino oder im Konzertsaal.
12) Es gibt einen Priester, eine Nonne oder eine religiöse Figur.
13) Perversion, Voyeurismus oder Fetischismus kommen vor.
14) Der Schurke stirbt, Happy End, Held und Heldin kommen zusammen.

Nach dieser Liste wäre „Die Vögel“ der atypischste Hitchcock-Film.

Billy Wilder: Der Schluss / The Ending

„Zufälle darf es nur am Anfang einer Geschichte geben. Im dritten Akt haben Zufälle nichts mehr zu suchen.“
„Der dritte Akt muss Tempo aufbauen, steigern, weiter steigern, bis zum letzten Knaller. Und dann – das war’s. Häng‘ nicht länger rum.“
„The third act must build, build, build in tempo and action until the last event, and then — that’s it. Don’t hang around.“ (Billy Wilder)