95. Nacht

Gestern festgestellt, dass das Geschirr-Spülmittel, ein knappes Jahr lang gehalten hat. Es war ein Notkauf bei der Ausbeuter-Drogerie Schlecker, alle anderen Läden in der Umgebung hatten schon geschlossen, nur in dieser Sklaven-Hölle mussten die Ausgestoßenen noch schuften. 79 Cent hat es dort gekostet. Nun frage ich mich, wieviele Geschirrspülmittel ich noch in meinem Leben kaufen werde. Da ich mir mein Geschirr mit der Liebsten teile, kann man ausrechnen, dass eine Flasche wohl zwei Jahre hält. Wenn ich nicht auf Geschirrspüler umsteigen sollte, dann sind das, eine großzügige Lebenserwartung von noch 40 Jahren angesetzt, 20 Flaschen zu 79 Cent. Das heißt, ich werde in meinem Leben noch 15,80 Euro für Geschirrspülmittel ausgeben. Ich finde den Gedanken beunruhigend, aber warum? Weil er mich auf meine Endlichkeit hinweist oder darauf, dass Geschirrspülmittel-Hersteller eigentlich keine Rücksicht auf den Preis zu nehmen bräuchten. Aber tatsächlich gibt es Leute, die einen großen Aufwand beim Preisvergleich von Geschirrspülmitteln betreiben.

***

Die angeblichen syrischen Kaufleute berichten Scharkân und Dau el-Makân die Story vom einsiedelnden Mönch sowie von den noch auf dem Berg zu findenden Schätzen. Dhât ed-Dawâhi wird mit leuchtender Salbe auf der Stirn als der Einsiedler präsentiert.

Und Scharkân erhob sich vor ihr und küsste ihr die Hand.

Dabei wurde in der letzten Nacht noch ausführlich von ihrem üblen Geruch erzählt.

Genau wie den Vater Scharkâns und Dau el-Makâns macht sie nun auch diese beiden durch ausgiebiges Fasten glauben, es mit einem sehr frommen Menschen zu tun zu haben.
Sie erzählt den beiden nun eine umständliche Geschichte, wie sie (=der fromme Einsiedler) von christlichen Rittern über Jahrzehnte auf einer Burg gefangen gehalten wurde, wo auch eine schöne Jungfrau lebte, die nur in Verkleidung als Ritter fliehen konnte.

Auch in dieser Geschichte-in-der-Geschichte werden Motive aus der Rahmenhandlung aufgenommen, hier die Verkleidung einer Frau als Mann. Dhât ed-Dawâhi tut das immerhin unter der Gefahr, selbst entdeckt zu werden.

Sie bietet den beiden an, sie zu der Burg zu führen, damit der Schatz gehoben werden und das Mädchen gefangen genommen werden könne. Einzig der Wesir Dandân zweifelt an dem Bericht der Alten.

Ihre Worte wollten ihm nicht in den Sinn; dennoch fürchtete er sich, mit ihr zu reden, aus Scheu vor dem Könige.

Dau el-Makân steht nun vor dem Problem, dass er gerade einen Feldzug auf Konstantinopel führt, ihm aber Schätze und ein Girl locken. So schickt er den Heerführer Rustem voraus. Mit Scharkan, Dandân und hundert Rittern begibt er sich jedoch zu der Burg, begleitet von Dhât ed-Dawâhi.

94. Nacht

Viel mehr als die Lektüre von Tausendundeine Nacht hat mich in den letzten dreieinhalb Jahren "Die Gesellschaft der Gesellschaft" von Niklas Luhmann beschäftigt. Pro Tag ungefähr eine Seite. Lektüre-Ort war derselbe Lokus wie jener, auf dem ich von 2000 bis 2003 die Bibel gelesen habe. Zwischendurch immer wieder. Man kann gewiss behaupten, ein Lektüre-Blog von "Die Gesellschaft der Gesellschaft" wäre allemal wichtiger für die Welt als die mit banalem Schnickschnack versehenen Geschichten aus Tausendundein Nächten. Nur habe ich schon mit der Darstellung und Kontinuität der 1001 Nächte meine liebe Müh. Wieviel mehr wäre das bei einer derartig komplexen Materie?

Outing: Mein Außen-WC in der Libauer Str. 9. Die Jahre 1991-2006.

Niklas Luhmann: "Die Gesellschaft der Gesellschaft", Hochzeitsfoto Hille Linders/Wilfred Takken, Zeitungsfoto Mike Tyson, Faschingsfoto meiner Schwester ca. 1976, Ausriss aus Feministenkalender 1995 von Eva Hernández, Cartoon von ©TOM, Foto-Cartoon mit Walter Ulbricht und Paul Robeson von Freimut Wössner, Hundekackverbotsschild (Zeitungsausriss), Schlüsselbund, Klopapierrolle leer, Klopapierrolle angefangen, Gassi-Tüten-Verpackung zweisprachig italienisch/deutsch von meinen Nachbarn Sandra Brust und Markus Groß aus Österreich (??) mitgebracht

Foto von Annie Lennox, Cartoon von Kriki

Bild einer Plastik "Kackender Hund" Ausriss aus taz 1990. Von wem die Plastik ist, weiß ich nicht, der Text darunter war ein Pamphlet von Freya Klier.

Foto Hundekack-Verbotsschild in Antwerpen, ca. 1993, König Baudouin I., Foto amerikanische Austauschstudenten 1953 an der FU Berlin, Foto Kinder in New York 30er, Foto Jugendliche in New York 80er, Straßen-Basketball – Angreiferin und Verteidiger (Ort unbekannt)  Ausriss aus taz, Mode-Trash-Queen, Eichhörnchen und Marder – antapezierte Bilder meiner Vorgänger.

Zeitungsausriss taz: Tanzende in Marokko, Zeitungsfoto verlierender Boris Becker, Zeitungsfoto verlierende Steffi Graf, Arbeitsschuhe – Bild aus "ZEIT-Journal" ausgesucht von Eva Hernández, Foto-Triptychon Viktor Timschin, aufgenommen von Stefan Müller, "Say no to Sex" Agitationsbildchen aus ghanaischem Aufklärungsheft, Cartoon von ©TOM, Foto von mir in Amsterdam vor Hundekackverbots-Schild, "Frauen bitte hinsetzen" – Bitte an Stehpinklerinnen, Brief meiner Nachbarn Sandra Brust und Markus Groß, in dem sie sich dafür entschuldigen, nicht mit mir essen zu gehen und stattdessen zur Fete de la Musique gehen, notiert auf einem Rechnungszettel einer portugiesischen Bibliothek

Foto von Karl Valentin, Foto von Spermien, die um eine Eizelle schwimmen, Doppelcartoon von ©TOM und OL

 

Foto von Jochen Schmidt/Dan Richter/Ralf Petry 1990 im Probenraum Kastanienallee 87, Ausriss aus "Morning Star" von 1989 (Gedächtniszitat): "Actress Una Stubbs and friend visited London’s Hyde Park yesterday to help launch SCOOP, the first national campaign against dog excrements that foul the public streets and places. The campaign is pointing out that up to 100 children go blind each year. Bild von Egon Schiele aus "Das Magazin", Bild von Hanns Eisler, Bild und Zitat von W.C.Fields: "I don’t drink water because fishes fuck in it.", Sonnenuntergang Heidelberg (ausgewählt von Eva Hernández), Bild "The Rolling Stones", Spaßpostkarte ausgewählt von Steffi Winny, Foto Prince aus Kumasi, Postkarte König Baudouin I. mit Fabiola von mir an Jutta Borostowski, Foto Christine Mohnhaupt und Anke Jahn 1987, Postkarte Charles und Diana von Jutta Borostowski an mich, Postkarte Königin Elisabeth II. von Jutta Borostowski an mich, Postkarte Papst Johannes Paul II. von Jutta Borostowski an mich

 

Schloss und Riegel.

***

Die Christen willigen in den Plan von Dhât ed-Dawâhi ein. Unterdessen erbittet sich Dau el-Makân von seinem Bruder Scharkân bedingungslose Treue bei seinem Rachefeldzug:

"Ich will will fünfzigtausend Griechen hinrichten und dann einziehen in Konstantinopel."

Scharkân gibt zu bedenken, dass Frau und Kind auf ihn warten. Darauf Dau el Makân:

Versprich mir, Bruder, dass du mir, wen Gott mir einen Sohn schenkt, deine Tochter für ihn zur Frau gibst." "Herzlich gern", erwiderte Scharkân.

Das Cousinenehe-Motiv, ist uns hier schon früher begegnet.

Man rückt im Eilmarsch auf Konstantinopel vor und macht Rast auf einer großen Ebene.

Blick auf die lachende Wiese; ist es nicht,
Als sei ein grüner Mantel auf sie gebreitet?
Siehst du mit dem leiblichen Auge, dann schaust du nur
Einen See, in dem das Wasser sich wiegend gleitet.
Siehst du mit deiner Seele in seine Baumkronen hinein,
So schwebt über deinem Haupte ein Glorienschein.

Auf dieser Wiese nun begegnen sie den Syrern – den angeblichen Kaufleuten.

93. Nacht

Seit nunmehr zehn Monaten lerne ich Klavier. Jeden Tag übe ich zehn Minuten, Immer wieder dasselbe Stück. Damit hätte man mich früher in den Wahnsinn treiben können. Heute ist es die schönste Meditationsübung für ich. Ehrgeizlos erarbeite ich mir linke und rechte Hand eines der schönsten Klavierwerke Mozarts – der C-Dur Sonate KV 545 (Sonata facile), der langsame Satz. Wenn man bedenkt, dass ich vorher gerade mal wusste, wo die Tasten liegen, finde ich das einigermaßen ordentlich. Hier meine Fortschritte vom 24. Oktober 2007.

***

Gute Boxer loben ihren Gegner, nachdem sie gewonnen haben, um ihr eigenes Ansehen zu erhöhen. In Trivialliteratur wie dieser wird darauf keine Rücksicht genommen. In „Schneewittchen“ ist die böse Stiefmutter immerhin auch schön. In „Frau Holle“ ist die böse, faule Stiefschwester auch hässlich. Wir bekommen eine kleine Beschreibung von Dhât ed-Dawâhi serviert:

Nun war aber jene Verfluchte eine schlimme Zauberin, im Hexen und Täuschen eine Meisterin, sie war eine liederliche Lügnerin, eine ausschweifende Betrügerin; sie roch aus dem Munde wie Kot; ihre Augenlider waren rot; ihre Wange bleich wie der Tod; ihres Gesichtes Farbe war dumpf; ihr Blick war trübe und stumpf; ihr Leib war räudig, ihr Haar war gräulich, ihr Rücken buckelig; welk sah ihre Haut sich an, und ihr Nasenschleim rann. (…) Bei ihrem Sohn aber, dem König Hardûb von Kleinasien, blieb sie hauptsächlich um der jungfräulichen Sklavinnen willen, denn sie war der sapphischen Liebe 93 ergeben. (…) Die Prinzessin Abrîza mochte nicht mit ihr schlafen, weil ihre Armhöhlen abscheulich rochen und weil ihre Winde noch ärger stanken als Leichengeruch, und obendrein war ihre Haut rauher als Palmenfaser.

Man beachte das „weil“ des letzten Satzes. Das heißt ja wohl, wenn die Alte nicht so abstoßend gewesen wäre, hätte Abrîza mit dem Beischlaf der Alten kein Problem gehabt.

König Afridûn gibt den „syrischen Kaufleuten“ einen Schutzbrief mit. Dhat ed-Dawâhi weiht die Kaufleute in ihren Plan ein. Sie selbst verkleidet sich als muslimischer Mönch und legt sich in eine Kiste. Die Syrer sollen behaupten, diesen aus der Hand der Christen befreit zu haben.

93 Sapphische Liebe = lesbische Liebe. Benannt nach Sapphos, einer der großen griechischen Lyrikerinnen, die auf Lesbos(!) lebte.

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92. Nacht

Umfrage bei der Chaussee der Enthusiasten : Wer hält den Streik der Lokführer für gerechtfertigt?
5% meinen, es sei gut, dass sie streiken.
5% meinen, es sei nicht gut.
Die anderen haben keine Meinung. Udo Tiffert erklärt später, die Lokführer bekämen im derzeitigen System nicht einmal ihre langen Reisezeiten angerechnet, so dass ein Lokführer durchaus mal 12 Stunden unterwegs ist, aber nur 6 Stunden bezahlt bekommt.

Seltsame Streikformen:

  • Studentenstreik: Wer bestreikt wen? Die Studenten sich selbst? Lehrveranstaltungen fallen aus, umso schöner für die Professoren, die sich ihren prestigeträchtigeren Forschungs- und Publikationsaufgaben widmen können. Mit jedem Wintersemester probiert sich eine neue Generation an dieser Protestform aus. Dass das auch kulturell angenehme Folgen hat, zeigte sich im FU-Streik 1988/89, als das Mittwochsfazit gegründet wurde. Mein erstes Wintersemester 1990/91 an der Humboldt-Universität begann mit einem Streik, der eine doppelte Stoßrichtung hatte: Gegen Abwicklung der Professoren und Dozenten sowie gegen die finanzielle Beteiligung Deutschlands gegen am Krieg der USA gegen den Irak. Hat ein Studentenstreik eigentlich je etwas bewirkt?

  • Konsumstreik: Hat je jemand wirklich aufgrund dieses Streiks auf etwas verzichtet?

  • Sexstreik: Angeblich schon im alten Griechenland zur Anwendung gekommen (Lysistrata). Auch hier fragt sich, ob die Damen sich nicht selbst um eine Freude bringen.

  • Hungerstreik: Die Waffe des Schwächsten richtet sich ebenfalls gegen sich selbst. Ich erinnere mich an eine Szene aus "Ernst Thälmann, Sohn seiner Klasse", als die politischen Gefangenen eines Zuchthauses (Brandenburg?) in den Hungerstreik treten und der sadistische Wärter einen jungen Häftling zu verführen sucht, indem er in der riesigen Topf rührt. Dem jungen Kommunisten gehen die Augen über, aber das Klassenbewusstsein ist stärker. Er tritt den Topf um. Ärzten ist völkerrechtlich die Beteiligung an Zwangsernährung untersagt. Wer also ein brutales Regime führt, lässt am besten den Hungerstreik andauern und ignoriert die Konsequenzen.

  • Lesebühnenstreik: Könnten wir, wenn wir wegen der kümmerlichen Gagen mal einen Streik begönnen, die Zuschauer dazu bringen, mehr zu zahlen?

***

Mit dem Schlachtruf "Blutrache für Lukas" stürmen die Christen auf Scharkân ein, und ein unbekannter Ritter aus den Reihen der Muslime steht ihm zur Seite. Erst später gibt er sich als sein Bruder Dau el-Makân zu erkennen.

Auch dies könnte eine Übernahme des Motivs aus der Ilias sein.

In einer entsetzlichen Schlacht werden die Heere der Christen aufgerieben und ihre Schiffe gekapert. Konstantinopel, das zum Freudenfest geschmückt war, bricht in Trauer um die Gefallenen aus.

Doch Dhât ed-Dawâhi wäre nicht die Gerissene, als die wir sie kennen.

Hundert syrische Christen sollen mit ihr verkleidet als Muslime zum bagdadischen Heer ziehen.

91. Nacht

In meinem Hof steht ein Dreirad. Angeschlossen. Ich weiß nicht, wie lange es dort noch stehen wird. Es hat Michael Stein gehört. Michael Stein, der am Mittwoch, dem 24. Oktober 2007 gestorben ist.
Das erste Mal habe ich Michael Stein 1997 bei der Reformbühne Heim und Welt gesehen. Im Gegensatz zu seinen Kollegen las er nicht vor, sondern hielt Reden. Er improvisierte Predigten auf Grundlage von Zeitungsschnipseln, Wissenschaftsmeldungen, deren Sinn er radikal zuende dachte. „Gott hat mir eine Stimme gegeben, damit ich zu euch spreche“, mit diesen Worten leitete er lange Zeit das legendäre Gebet gegen die Arbeit ein: Arbeit, Geißel der Menschheit
Für ihn war Arbeit tatsächlich eine Geißel. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, seine Lebenszeit damit zu verschwenden, sinnlose Produkte auf Befehl zu produzieren. Wenn Michael Stein auf der Bühne sprach, wurde man als Zuhörer recht schnell aus den Denkgewohnheiten geworfen. Als die NPD 1998 im Wahlkampf die Parole „Arbeit zuerst für Deutsche“ plakatierte, rief Stein dazu auf, die NPD „rechts zu überholen“, da er als Deutscher von solch einer Forderung ja betroffen sei, und Arbeit das letzte sei, was man von ihm fordern könne. Und auch von den Lesebühnen verschwand auch der Bühnenarbeiter Stein immer wieder für einige Monate, und nur wenige im Publikum ahnten, dass die vorgetragenen Entschuldigungen seiner Kollegen: „Er hat gerade keine Lust, hier zu arbeiten“, „Er hat sich beim Vom-Gerüst-Fallen die Lunge verletzt“, „Er ist im Gefängnis“ völlig der Wahrheit entsprachen.
War Provokation sein Medium oder war sie sein Zweck? Er bemühte sich um eine Kolumne in der Jungen Freiheit, nur um seine Freunde, die es sich so behaglich in ihrem linksradikalen Knusperhäuschen eingerichtet hatten, zu nerven. Er nannte seine Kollegin Ebony Browne „Neger“. Er hielt sich Luftschlangenrollen an die Schläfen, und erst als er sie sich bis auf den Boden entrollen ließ, erkannte man, dass er einen Juden mit Schläfenlocken mimte. Wenn er gegen BVG-Kontrolleure in Wut ausbrach, war er kaum zu stoppen. Ob das Gerücht stimmt, dass er bei einer Veranstaltung sein Glied entblößte, lässt sich aus den damals anwesenden Mitgliedern nicht herausquetschen. Stein wurde wegen Besitzes einer Luftdruckwaffe verhaftet und schlug einen früheren Freund krankenhausreif. Mir schien, dass er seinen Provokations- und Gewaltimpuls erkannte und ihn für die Bühne nutzbar machte, er war sein Instrument. Und gleichzeitig sah er auch die Gefahr, die dieser Impuls für sein Leben darstellte. Er belegte ein Anti-Gewalt-Training und wandte sich dem Buddhismus zu. Viele der Zuschauer hielten die Vorträge darüber für einen Gag, so wie sie das „Nazis rechts überholen“ für einen Gag hielten, und so wie sie es auch für einen Gag hielten, als er auf der Bühne seine Krebs-Diagnose verkündete. Ärzte stammen von Friseuren ab, sie wollen nur abschneiden, entgegnete er allen, die ihn davon zu überzeugen versuchten, sich operieren zu lassen. Litt Stein an Witzelsucht? Hatte er sich in seiner Radikalität, sich von niemandem vorschreiben zu lassen, was er zu tun habe, verrannt? Oder war es ihm womöglich klar, dass er bald sterben würde und dass er die Zeit, die er hatte nicht mit solchem quälenden Schnickschnack wie Operation an der Lunge verschwenden solle? Ich fürchte, Stein hat sich überhaupt nicht entschieden.
Stein konnte überaus komisch sein und wäre ein großartiger Schauspieler geworden. Er parodierte lebensnah Max Schreck, Andreas Gläser, Eberhardt Cohrs.
Stein war auf eine seltsame Weise freundlich. Ich habe ihn fast nur lächelnd erlebt. Den Buddhismus haben wir gleichzeitig entdeckt, distanziert, so wie man eine neue, faszinierende Musik entdeckt. Er empfahl mir Thich Nhat Hanh („Das erste Ziel ist Froschlosigkeit“), ich schenkte ihm meine Übersetzung von Stephen Nachmanovitchs „Free Play“ („Das Tao der Kreativität“). Gestern stand seine Freundin vor der Tür, sie gab mir etwas, „das Stein von dir immer aufgehoben hat“: Eine Zigarette. Langsam erinnerte ich mich wieder – Stein hatte mich vor vielleicht sechs oder sieben Jahren um eine Zigarette gebeten, ich gab ihm eine, nicht ohne sie zu beschriften: „Für meinen alten Kumpel Michael Stein. Dan“, was zu diesem Zeitpunkt von mir beinahe anmaßend war – ich kannte Stein nur von wenigen Gesprächen und acht bis zehn gemeinsamen Auftritten. Es war aber nicht nur eine Anmaßung, es war ein Freundschaftsangebot. Dass er diese Zigarette nicht geraucht, sondern aufgehoben hat, verstehe ich jetzt als Annahme des Angebots.
Ich hatte Stein Anfang Oktober dabei geholfen, das Dreirad in den Hof zu schieben. Er war schon zu schwach. Herbstlaub sammelt sich jetzt im Korb des Fahrrads. Ich sehe es jeden Tag, wenn ich aus dem Fenster schaue.

***

Die entrüsteten Christen reiten gegen Scharkân an.

Ein Beispiel für die seltsamen Prosareime (bzw. ihre seltsame Übertragung ins Deutsche):

Da vereinigten sich alle wider Scharkân und zeigten ihm Schwert und Lanze, und sie stürmten zum Streite und blutigen Tanze. Heer stieß auf Heer in Kampfeslust, und Huf trat auf Brust. Lanzen und Schwerter hatten zu schaffen, Arme und Hände fingen an zu erschlaffen, und die Rosse sahen aus, als seien sie ohne Beine erschaffen; und der Kampfesherold rief immerdar, bis jede Hand ermattet war und der Tag zur Rüste ging und die Nacht alles mit Dunkel umfing. Da aber trennten die Heere sich; und es war, als ob jeder Held einem Trunkenen glich, ermattet von Schwerthieb und Lanzenstich. Der Boden war übersät mit Leichen, und furchtbar waren die Wunden; doch keiner, der fiel, wusste, durch wen er den Tod gefunden.

Lyrik war wohl nicht die Stärke von Enno Littmann.

Scharkân heckt nun einen Plan aus: Dau el-Makân und der Wesir Dandân sollen sich mit 20.000 Reitern in einen Hinterhalt legen, und Scharkâns Truppen werden eine Flucht vortäuschen.

90. Nacht

Die Story nimmt immer mehr Elemente von Ilias an – der Schlacht um Troja: Detaillierte Beschreibung der Kämpfe, Übergang zu versartiger Erzählung, die Story selbst: Es geht um die Entführung einer Jungfrau und die sich daran anschließenden politischen und familiären Verstrickungen. Nur die Anzahl der Helden ist überschaubar geworden. Die der Gottheiten sowieso. Spielten diese in der Ilias ja die entscheidende Rolle, sind sie hier quasi zum ideologischen Bezugsrahmen zusammengeschmurgelt. In der Schlacht um Troja agieren die Menschen eher als Schachfiguren der Götter. Hier erkennen sie ja eigentlich an, dass sie zum selben Gott beten, nur halten sie die Art der Verehrung des jeweils anderen für pervertiert und nennen einander absurderweise "ungläubig".

Lukas, der Christenheld,

den sie auch "Das Schwert des Messias" nannten,

tritt nun gegen Scharkân an, nicht ohne zuvor den Gaumen mit Mist bestrichen zu bekommen. Er schleudert seinen Speer auf Scharkân, der ihn im Flug auffängt, zurückwirft und seinen eigenen hinterherschickt,

und der traf ihn mitten auf das Zeichen des Kreuzes, das auf seiner Stirn war, worauf Gott seine Seele in das Höllenfeuer stieß.

Anscheinend waren diese Art von Zweikämpfen, die stellvertretend für das gesamte Heer stattfanden, im Altertum nicht unüblich. Im Gegensatz zu David & Goliath oder auch der Episode aus Troja, wird in unserer Geschichte der Krieg weitergeführt:

 


Zweikampf-Szene aus Hollywoods Troy: "Is there no-one else?… Weiterlesen

89. Nacht

Auf Radio Eins haben sie die unsäglichen Traumdeutungen des Psychoanalytikers Dr. Claus Braun wieder ins Programm genommen, dessen Deutungen jedem seriösen Analytiker die Haare zu Berge stehen lassen. Ich glaube, für so etwas ist mal der Begriff "Küchenpsychologie" geschaffen worden: Ohne die Hintergründe oder gar den Alltag zu kennen, bastelt er – gewieften Astrologen gleich – die narrativen Elemente des Traums neu zusammen. Die Frage ist ja, ob man Träume überhaupt "deuten" kann, nur weil das schon immer so gemacht wurde. Es gibt bisher wenig Evidenz dafür, dass Träume im Freudschen Sinne uns Botschaften über das Unbewusste geben oder gar (so C.G. Jung) ein Weg zu unserem wahren Ich seien. Die bisher einzige empirisch halbwegs belegbare Funktions-Hypothese ist, dass Träume ihren Anteil zur Entstehung unseres Gedächtnisses haben (z.B. höherer REM-Anteil bei Kleinkindern). Ansonsten scheinen die Träume nur wenig zu bedeuten, zumal sich Trauminhalte erst beim Aufwachen ergeben, sozusagen in das emotionale Erleben hineingedeutet werden: Z.B. Ich bekomme im Schlaf aus physiologischen Gründen einen Wadenkrampf, was mir Angst verschafft – ich generiere den passenden Trauminhalt: Ein übles Monster sticht mir in die Wade. Dass natürlich Sachverhalte, die uns gedanklich an jenem Tag sehr beschäftigen oder die überhaupt eine große Rolle in unserem Leben spielen, zu Trauminhalten werden, ist klar, aber die Pathologisierung der Träume, wie es die Analytiker tun, scheint mir zu sehr ihrem professionellen Bedürfnis zu entspringen. Aber nur wenige Menschen können diese Art "Sinnlosigkeit" ertragen: "Es muss doch etwas bedeuten!" Tatsächlich kann es uns regelrecht quälen, wenn wir erkennen müssen, dass Ereignisse sinnlos sind, nicht-kausal usw.

***

Der hinterlistigen Dhât ed-Dawâhi ist es nun zu verdanken, dass 50.000 Mann übers Meer fahren, sich am "Berg des Rauchs" 89 verstecken und von dort den kämpfenden Muslimen in den Rücken fallen.
Die Schlacht geht los, von Dau el-Makân und Scharkân angeführt mit ca. 120.000 Mann,

während die Ungläubigen sechzehnhunderttausend zählten.

Was soll das für eine Streitmacht gewesen sein?

Scharkân wird seinem Ruf als Kriegsheld gerecht:

Er tobte unter den Tausenden und stritt, so furchtbar anzuschauen, dass Säuglingen davon die Haare ergrauen.

In dieser ersten Schlacht siegen die Muslime, und König Afridûn verspricht, nun den ruhmreichen Lukas, Sohn des Schamlût, einzusetzen und alle Emire

mit dem heiligen Weihrauch zu weihen. Der Weihrauch aber, den er meinte, bestand aus den Exkrementen des Großpatriarchen, des Lügners und Leugners. […] Die Patriarchen vermengten ihn mit ihren eigenen Exkrementen, da die des Großpatriarchen für zehn Provinzen nicht genügten. […] Und die mächtigsten Könige taten ein wenig davon in die Augensalbe und heilten damit Krankheit und Kolik.

Das eigentlich Erstaunliche ist hier nicht die groteske Beleidigung des Großpatriarchen, sondern dass sie seinem Kot tatsächlich heilende Wirkung zugestehen.

 

89 Ich glaube nicht, dass damit der Djebel Dukhan gemeint ist, da dieser im Bahrain liegt, während hier wohl eher das Mittelmeer gemeint ist. Aber welcher Vulkan?

89. Nacht

Am Montag wache ich reuevoll erst um 11.30 Uhr auf. Um mal ein bisschen sozial zu sein, habe ich mich am Vorabend auf eine Spielerunde eingelassen, die dann bis 2.30 Uhr austrullerte. Hätte ich nur daran gedacht, dass ich mich am nächsten Tag mit den Enthusiasten treffe. Volker, hat einen besseren Vietnam-Imbiss vorgeschlagen, bei dem man bis auf einen Tisch eigentlich nur essen und schnell wieder gehen will – Feng-Shui-Logik von Imbiss-Restaurants. Gutes Essen, aber kaum einer richtig entspannt. Jochen mit halbem Ohr ständig telefonkonferierend, Volker leidet an Hexenschuss. Immerhin mal wieder nettes Beisammensein.


Bohni


Dan Richter


Robert Naumann


Stephan Zeisig


Jochen Schmidt

 


Volker Strübing

 

 

Den Rest des Tages verbringe ich damit, die berühmte Restaurant-Szene aus "The Godfather" zu untertiteln. Die Figuren Michael Corleone und Virgil Sollozzo sprechen sizilianisch, und bisher war man auf Vermutungen angewiesen.

 

 

***

Um seinen Bruder zu testen, erkundigt sich Scharkân bei ihm nach dem Heizer. Dau el-Makân antwortet, er würde ihn nach der Schlacht gegen die Christen für seine Taten belohnen.

Dafür dass er so viele Leiden ertragen hat, lassen sie den armen Heizer ganz schön lang auf seine Belohnung warten.

Man rüstet sich zum Kampf, und Dau el-Makân verabschiedet sich von seiner im fünften Monat schwangeren Frau.

So schnell kann’s gehen. Anscheinend leidet hier ein wenig das Erzähl-Timing der Geschichte.

Der Wesir Dandân übernimmt das syrische Heer, Rustem die Dailamiten 88 , Bahrâm die Türken.

Von Rustem und Bahrâm ist vorher noch keine Rede gewesen.

Das Heer zieht los, und als man die Grenze zu Griechenland erricht, flieht das arme Volk nach Konstantinopel.

Wir können also von argen Plünderungen ausgehen.

Auf Anraten der alten Dhât ed-Dawâhi reist König Hardûb mit ihr zu König Afridûn nach Konstantinopel, um diesem seine Tochter Sophia zurückzubringen. Nun rüstet er selbst zum Kampf und erhält Unterstützung von seinen christlich-europäischen Kollegen:

Zu ihnen stießen die Franken aus allen Ländern: Franzosen, Deutsche, Ragusaner, Zaranesen 88b, Venezianer, Genuesen und all die Heerscharen der Bleichgesichter 88a.

Die erste Schlacht führt der Wesir Dandân mit den syrischen Truppen.

Nun erhoben die Christen ihr Feldgeschrei: "O Jesus, o Maria o Kreuz!" – das verdammet sei – und stürmten gegen den Wesir Dandân und seine syrischen Heere an.

Klingt als Schlachtruf ziemlich seltsam. In Kreuzzügen des 11. Jahrhunderts benutzten die Christen "Deus vult!"

 

88 Mit den Dailamiten sind wahrscheinlich die Perser gemeint. Genau gesagt ist Dailam eine Gebirgsregion im Iran. Ich vermute, es könnte auch sein, dass mit "Dailamiten" auch eine Art persische Elitetruppe bezeichnet wird.

88a  Bleichgesichter? Man fragt sich, ob hier der Übersetzer bei Karl May abgeguckt hat.

88b Evtl. sind hier die Sardinier gemeint. Auffällig, dass ja vor allem italienische Städte genannt werden, die mit den Arabern im 9. Jahrhundert (also zu der Zeit, da unsere Geschichte wahrscheinlich spielt) im Krieg lagen.

87. Nacht

Eigentlich ist es erstaunlich, wieviele Presse-Erzeugnisse ich noch konsumiere, da ich doch die gleichen Informationen aus dem Internet beziehen könnte. Aber so bezahle ich einen gigantischen Apparat von Organisationen, Personen und Logistik, die dafr sorgen, dass Informationen, die mich tendenziell interessieren, thematisch gebündelt werden, dass ich mir bestimmte Meinungen anhöre (d.h. auf der anderen Seite: bestimmte Meinungen blende ich aus), und dass mir diese Informationen pünktlich auf Papier gedruckt serviert werden. Derzeit habe ich abonniert:

Die Zeitschrift meiner Krankenkasse und das ai-journal bekomme ich zugeschickt, ohne etwas dafür tun oder zahlen zu müssen. Aber der Papierverbrauch! Wer räumt das alles wieder auf? Wer pflanzt die Bäumchen neu? Wer lohnt es mir, dass ich mir seit März 1990 (also noch vor der Währungsunion) die zitty kaufe? Die Antwort, Ladies und Gentlemen lautet auf all diese Fragen: Niemand.

Dau el-Makân schüttet nun also den gesamten Tribut von Damaskus unter den Truppen aus.

"Niemals sahen wir einen König solche Gaben austeilen."

Natürlich will der neue Herrscher auf diese Weise Loyalität begründen, fragt sich nur, ob diese Art von Großzügigkeit ein probates Mittel ist, en Dankbarkeit ist von kurzer Dauer. "Wer klug ist, sieht lieber die Leute seiner bedürftig als ihm dankbar verbunden. […] Wer seinen Durst gelöscht hat, kehrt der Quelle den Rücken, und die ausgequetschte Apfelsine fällt von der goldenen Schüssel in den Kot.", schreibt Baltasar Gracián im "Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit" (Kap. Abhängigkeit begründen). Mit anderen Worten, der König müsste vor allem darauf achten, dass seine Truppen dauerhaft einen angemessenen Sold erhalten.

Als sie vier Tage später in Bagdad eintreffen und er den Thron bestiegen hat, unternimmt Dau el-Makân gegenüber seinem Bruder einen klugen Schachzug: In einem Brief, den er dem Wesir Dandân mitgibt, bittet er ihn, mit seinen Truppen zu ihm dazuzustoßen, um gegen die griechischen Christen zu kämpfen, vor allem aber bietet er ihm die Krone an und deutet an, sich mit dem Posten des Vizekönigs von Damaskus zu begnügen.

Dau el-Makân reitet auf die Jagd,

(Unklar)

und bei seiner Rückkehr schenkt ihm ein Emir Sklaven und Sklavinnen.

Wurde der Emir damit beauftragt?

Mit einer der Sklavinnen schläft er in derselben Nacht

und sie empfing durch ihn zur selben Stunde.

Bald darauf trifft Scharkân in Bagdad ein, die Brüder begegnen sich in Freundschaft, und berichten einander von dem, was vorgefallen ist.

Nach dem bisher Berichteten wäre aber anzunehmen, dass Scharkân entweder etwas im Schilde führt oder dass sein Groll bei der nächstbesten Gelegenheit wieder aufflammt.

86. Nacht

Tatsächlich übergibt der König der Alten seine Nebenfrau Sophia. Die Alte übergibt ihm nun einen versiegelten Becher, den er am dreißigsten Tag austrinken soll.

Aha, die Süßspeisen und das Wasser im Krug waren also völlig harmlos. Offenbar ging es der alten Dhât ed-Dawâhi damit nur darum, den König auszutesten und ihn unvorsichtig werden zu lassen. Er hätte ja auch jemand anderen die Süßspeise oder das Wasser vorkosten lassen können. Erst als sie ihn völlig auf ihrer Seite hat, gibt sie ihm das Gift im Becher.

Der Wesir Dandân berichtet weiter, dass er und die Bediensteten zunächst vermuteten, der König schliefe, dann hoben sie die Tür aus den Angeln, fanden die Leiche und im Deckel des Bechers die Nachricht der alten Dhât ed-Dawâhi, die es nicht bei der Begründung für diese arge Rache belässt, sondern obendrein Krieg ankündigt:

"… vernichtet sollt ihr werden bis auf den letzten Mann, keine Menschenseele bleibt von euch übrig dann, keiner, der ein Feuer anblasen kann, es sei denn er bete das Kreuz und den Gürtel 86 an."

So beendet der Wesir Dandân seinen Bericht. Dau el-Makân verleiht dem Wesir und den Emiren Ehrengewänder und belässt sie in ihren Ämtern. Den Tribut aus Damaskus schüttet er unter den Truppen aus.

Natürlich, um sich die Loyalität dieser Männer zu sichern. Stellt sich nur die Frage, wo er an dieser Stelle die Ehrengewänder aufgetrieben hat.

 

86 Offenbar bezieht sich diese Anspielung darauf, dass Christen in der Zeit seit Kalif Al-Muttawakil gezwungen wurden, Umhänge und Gürtel zu tragen. Aus den Schutzbefohlenen Dhimmi wurden somit sichtbar Ausgegrenzte. Die Vorstellung, Christen würden den Gürtel anbeten und dies von anderen verlangen, ist natürlich absurd, aber die Vorstellung, sie würden das tun, eine interessante Folge dieses Diskrimierungsgebots.

85. Nacht

Tatsächlich fastet der König zehn Tage lang und trinkt danach aus dem Krug.

Man muss nicht das  Pro und Contra des Fastens  unter medizinischen Gesichtspunkten beurteilen. Interessant ist eigentlich eher der religiöse Aspekt : Warum taucht das Fasten in allen größeren Religionen in irgendeiner Form auf? (Am wenigsten vielleicht bei den reformierten Kirchen des Christentums.) Neuere psychologische Untersuchungen gehen davon aus, dass strenge Askese, Selbstkasteiung usw. das Zusammengehörigkeitsgefühl in Gruppen stärkt und kurioserweise auch ihre Attraktivität: Wenn man sich solchem Leid aussetzt, dann muss wohl was dran sein.
Und auch in dieser Geschichte lockt die Alte ja den König mit übertriebener Frömmigkeit in die Falle.

Während der zweiten zehn Tage des Monats aber kam die Alte zurück mit Süßigkeiten, die in grüne Blätter, ungleich anderen Baumblättern, gehüllt waren. (…) "Oh König, die unsichtbaren Geister grüßen dich; denn ich habe ihnen von dir erzählt, und sie freuen sich deiner und schicken durch mich diese süße Speise, die von den Süßigkeiten des Jenseits stammt."

Diese Dreistigkeit erinnert schon an die Streiche Eulenspiegels.

Um das Fass noch voll zu machen: Die Alte schlägt vor, die Jungfrauen am 27. Tag zu den Geistern mitzuführen, ebenso jemanden aus dem Palast, den er König mag. Der König überlässt ihr Sophia (die Mutter Dau el-Makâns und Nuzhat ez-Zamâns).

84. Nacht

Der Wesir Dandân fährt fort, Dau el-Makân davon zu berichten, wie die Alte dem König Omar ibn en-Nu’mân durch Anekdoten ihre Weisheit unter Beweis stellt.

Der Imam esch-Schâfi’i 84 pflegte zu sagen: "Ich habe es gern, wenn die Menschen aus meiner Gelehrsamkeit Nutzen ziehen, wenn nur mir nichts davon zugeschrieben wird."

Als Imam, der von allen geachtet wird, kann er sich solche demonstrative Bescheidenheit freilich leisten, die ihm dann wieder zum Ruhm gereicht. Und dass der Ausspruch noch heute bekannt ist, macht ihn sozusagen selbst zum Paradoxon.

Eine Anekdote über Abu Hanifa 84a berichtet über dessen Verachtung gegenüber dem zweiten Abassidenkalifen Abu Dscha’far el-Mansur 84b, den er als Tyrannen bezeichnet.

esch-Schâfi’i sprach:

Willst du, o Seele, meinen Rat befolgen,
Und reich an Ehren sein in Ewigkeit,
Wirf von dir die Begierden und die Wünsche!
Wie mancher Wunsch schon brachte Todesleid.

Es folgen weitere Anekdoten. Nachdem die Alte ihr Rede endet, ist König Omar ibn en-Nu’mân so ergriffen, dass er der Alten und den hochbrüstigen Jungfrauen den Palast der verstorbenen Prinzessin Abrîza zuweist. Er erkundigt sich bei der Alten nach dem Preis der Jungfrauen.

"Ich verkaufe sie dir nur um den Preis, dass du einen vollen Monat lang fastest, und zwar so, dass du tagsüber fastest und die Nacht hindurch wachest um Allahs des Erhabenen willen."

Die Alte steigt durch dieses Ansinnen in den Augen de Königs:

"Allah segne uns durch diese fromme Frau."

Sie reicht ihm außerdem einen Krug, aus dem er nach zehn Tagen trinken soll.

 

84 Eine als "Biographie" betitelte Sammlung von Anekdoten über diesen Imam (132-204 n.H.) findet sich hier.

84a Gründer der hanafitischen Rechtsschule – der bedeutendsten im Islam.

84b Gründer Bagdads

83. Nacht

Der Wesir Dandân fährt fort, Dau el-Makân davon zu berichten, wie die fünfte der hochbrüstigen Jungfrauen dem König Omar ibn en-Nu’mân durch Anekdoten ihre Weisheit unter Beweis stellt.
Sie berichtet die Geschichte Moses, wie sie nach der Sure 28,27 berichtet wird.

Eine Sure, in der Mohammed sich als nicht ganz bibelfest erweist: Er vermischt die Geschichte Moses mit der Jakobs.

Weitere Anekdoten mit zäher Moral über

Nun trat das fünfte Mädchen zurück, und die Alte trat hervor.

Etwas merkwürdig: Aus welchem Grunde sollte die Alte noch mit ihrem Wissen prahlen?

Die von ihr berichteten Anekdoten sind im Wesentlichen Berichte über die Gottesfurcht der Gottesfürchtigen.

 

 

83 Ein Tauber, der antwortet, wenn man ihn fragt!

82. Nacht

Der Wesir Dandân fährt fort, Dau el-Makân davon zu berichten, wie die vierte der hochbrüstigen Jungfrauen dem König Omar ibn en-Nu’mân ihre Weisheit unter Beweis stellt. Wieder durch Anekdoten.

Er – den Gott selig haben möge 82 – sagte auch: "Das Heil der Seele liegt darin, dass man ihr widersteht, und ihr Verderben darin, dass man ihr folgt."

Gemeint ist wohl Triebbeherrschung, die als Problematik im Westen seit Freud quasi von der Religion entkoppelt wurde und in die Psychologie ausgelagert wurde. Für die harten Fälle (Gewalt) stand damals wie heute das Recht bereit.
Und die Bereiche haben sich verschoben: Sexuelle Triebbeherrschung wird als nicht mehr als Problem empfunden, und wenn, dann nur in der Frage des Fremdgehens, womit die Paare selbst klarkommen müssen. Wer sich sexuell nicht ausleben kann, wird eher bemitleidet.
Dafür richtet der Überfluss an elektronischen Verbreitungsmedien (vor allem Fernsehen) Deformierungen in der Psyche an. Überfluss an Nahrung Deformierungen der Physiologie. Anscheinend sind unsere Hirne so ausgerichtet, dass wir gar nicht anders können als auf bewegte Bilder bzw. auf das fett/süß/warm-Schema anzuspringen.

Außerdem beginnt das vierte Mädchen die Geschichte über Moses und Shuaib (Jitro).

Bibel 2. Mose (Exodus) 2.21.
Interessant, dass dieser als Meister von Mose verehrte Mann, es gewesen sein soll, der ihm zur Einsetzung von unabhängigen Richtern riet. Begründet wird das zunächst nur mit arbeitsmäßiger Entlastung. Quasi unter der Hand jedoch treibt er damit soziale Differenzierung voran, die hier noch in der Form der Stratifizierung erscheint: Es werden "redliche" Oberste "über tausend, über hundert, über fünfzig und über zehn" (Exodus 18.21). Aber wir sehen hier auch funktionale Differenzierung angelegt: Rechtsprechung wird getrennt von Gesetzgebung und Religion. Die letzten beiden behält Mose bis zu seinem Tode in der Hand; er bleibt sowohl der Priester als auch der Verkünder der Gesetze.

 

 

82 Ich nehme an, gemeint ist der Prophet Mohammed.

81. Nacht

Der Wesir Dandân fährt fort, Dau el-Makân davon zu berichten, wie die zweite der hochbrüstigen Jungfrauen dem König Omar ibn en-Nu’mân ihre Weisheit unter Beweis stellt. Sie und die folgenden tun es hauptsächlich wieder durch Anekdoten.
Mohammed gab einem Ratsuchende folgenden Rat:

"Ich gebe dir den Rat, in Bezug auf diese Welt ein enthaltsamer Herr, in Bezug auf die zukünftige aber ein gieriger Sklave zu sein."

Zwei Brüder des Volkes Israel befragen einander nach der schlimmsten Tat, die sie begangen haben. Einer von ihnen sagt:

"Die schlimmste Tat, die ich tue, ist die: wenn ich mich zum Gebet erhebe, so fürchte ich, ich könne es nur um des Lohnes willen tun."

Ein Motiv, dass sich auch im Zen-Buddhismus wiederfindet: Man muss sich von den Zwecken und Zielen freimachen, und das heißt auch vom Ziel der Erleuchtung. Was man tut, soll Zweck für sich genug sein. Im Gebet/der Meditation sowieso.

Das dritte Mädchen tritt hervor und beginnt nun ebenfalls, Anekdoten zu referieren, so z.B. diese:

Sooft Atâ es-Sulâmi eine Mahnung beendet hatte, zitterte er und bebte und weinte heftig; und als man ihn fragte, weshalb er das tue, antwortete er: "Ich will mich an eine ernste Aufgabe machen: ich will vor Allah den Erhabenen treten, um meiner Mahnung entsprechend zu handeln."

Was ist menschlicher: Maximen zu fordern, die man selbst handelt, oder Maximen zu fordern, die für einen selbst eine Herausforderung sind?

Das vierte Mädchen tritt hervor und berichtet u.a. folgende Anekdote:

Ferner erzählte Ibrahim: Ich sah einmal, wie Bischr einen Dânik 81 verlor; da ging ich zu ihm hin und gab ihm einen Dirhem dafür wieder. Doch er sprach: "Den nehme ich nicht an." Ich sagte: "Das ist doch völlig erlaubt"; aber er entgegnete mir: "Ich kann nicht die Güter dieser Welt in Güter der künftigen Welt umtauschen."

 

 

81 Eine Münze – anscheinend im Wert von 1/6 Dirhem.

80. Nacht

Der Wesir Dandân fährt fort, Dau el-Makân davon zu berichten, wie die hochbrüstigen Jungfrauen dem König Omar ibn en-Nu’mân ihre Weisheit unter Beweis stellen.

Die erste Jungfrau tritt zurück, die zweite tritt  vor und gibt anekdotenhaft Lebensweisheiten zum Besten:

Der weise Lokmân 80 sprach zu seinem Sohne: "Drei Menschen gibt es, die sich nur in drei verschiedenen Lagen erkennen lassen: den Gütigen erkennst du nur im Zorne, den Tapfern nur in der Schlacht und deinen Freund nur in der Not."

Dies ist natürlich doppelt zu verstehen: Als Hinweis auf Menschenkenntnis, aber auch als Aufforderung zur Tugend. Und dies in mehrfacher Hinsicht:

  • Lokmân an seinen Sohn

  • die zweite hochbrüstige Jungfrau an König Omar ibn en-Nu’mân

  • Wesir Dandân an Dau el-Makân (warum sonst sollte er all dies so detailliert erzählen?)

  • Schehrezâd an König Schehrijâr

  • der durch die Erzählform versteckte Erzähler an den Leser oder Zuhörer

  • Dan Richter an den Leser dieses Blogs

  • Verlinker auf diese Seite an die Surfer

Sie zitiert Kais 80a

Ich bin von allen Menschen am fernsten doch dem Heuchler,
der andere irren sieht und kennt doch den Weg selber nicht.
Reichtum und Geistesgaben sind ja nur ein Darlehn:
Was jeder im Herzen verbirgt, stehet ihm im Gesicht.
Gehst du in eine Sache von falscher Seite hinein,
so irrst du. Doch gehst du recht, trittst du zur rechten Türe ein.

Die letzten beiden Zeilen wieder ein Beispiel für die enge Tautologie, in der sich die primitive Ethik bewegt: Das falsche ist falsch, das richtige ist richtig.

Thâbit el-Bunani 80b weinte, bis er fast das Augenlicht verlor. Man brachte ihn aber zu einem Manne, der ihn heilen sollte, und der sprach: "Ich werde dich heilen unter der Bedingung, dass du mir gehorchst." Da fragte Thâbit: "Worin?" Der Arzt erwiderte: "Darin, dass du nicht mehr weinst!" "Was soll ich mit meinen Augen", antwortete Thâbit, "wenn sie nicht weinen?"

Gut 1.200 Jahre später baut ein Herr de Saint Exupery einen ähnlichen Gedanken in seine Geschichte "Der kleine Prinz" ein: "Man sieht nur mit dem Herzen gut."

 

80 Leben und Wirken von Lokmân gelten als umstritten. Beansprucht wird er in türkischen und arabischen Traditionen, und es ranken sich eine Reihe Legenden um ihn. Die ihm zugeschriebenen Fabeln sind offenbar eine Abwandlung der Fabeln von Äsop. Ob diese Bearbeitung aber von ihm stammen, durch mündliche Überlieferung oder durch christliche Bearbeitung, ist unklar.

80a Ich vermute, gemeint ist der vor-islamische arabische Dichter Amru al-Kais (6. Jh. n.Chr.).

80b Nach islamischer Tradition: Ein Weiser und Frommer, der 748 n.Chr. starb.

79. Nacht

Wieder erleben wir eine spiegelbildliche Handlung. (Der Wesir Dandân berichtet) Die hochbrüstigen Jungfrauen beweisen dem König ihr Wissen, so wie wir es vor einigen Nächten von Nuzhat ez-Zamân gehört haben, als sie vor Scharkân trat.

Die erste Jungfrau lobt wortreich die Tugend und schmäht das Laster

die auch in Europa zu jener Zeit typische, primitive, an Religion gebundene Form moralischer Kommunikation.

Einen Freund, so die Jungfrau, soll man gut auswählen,

Denn ein Freund ist nicht wie ein Weib, von dem man sich scheiden und das man zurücknehmen kann. 79

Eine beachtliche Feststellung: Das legt nahe, dass die Bindung an einen Freund eine tiefere sein müsste und dass die Bindung an das Weib viel weniger mit Vertrauen zu tun haben könnte.

Strebe danach, den Herzen Verletzungen zu ersparen;
Nach der Entfremdung ist die Umkehr ihnen so schwer
Denn sind die Herzen der Liebe einmal erst entfremdet,
Sind sie dem Glase gleich – gesprungen, heilt es nicht mehr

Weitere Feststellung:

Wer viel Wesens macht, aus seinem kleinen Leiden, den schlägt Allah mit einem noch größeren.

Es folgen Bemerkungen zu Kadis, die im Wesentlichen darauf hinauslaufen, dass Kadis gerecht und unabhängig sein sollten.

Az-Zuhri 79a meinte, man möge einen Kadi aus drei Gründen entlassen:

  • wenn er die Gemeinen ehrt,

  • wenn er das Lob liebt,

  • wenn er die Absetzung fürchtet.

Zumindest den letzten beiden Gründen hat das bundesdeutsche Recht die Grundlage weitgehend entzogen: Richter dürfen sich nicht zu laufenden Fällen öffentlich äußern, und sie sind de facto unabsetzbar.

 

 

79 Die Scheidung von einer Frau ( طلاق – talaq) kann der Mann zwei Mal zurücknehmen, erst beim dritten Mal ist sie unwiderruflich (Koran 2:229). Es genügt die verbale Verstoßung. Davon gibt es diverse Ausnahmen: z.B. ist ein Scheidung ungültig, wenn sie während der Monatsblutung der Frau ausgesprochen wurde. Frauen dürfen sich auch scheiden lassen, allerdings nur vor Gericht.

79a Ich vermute, es geht um Ibn-Schihab az-Zuhri (auch el-Zuhri oder al Zuhri) – der zurzeit von Omajadenkalif Omar II. die prophetischen Lehren und Traditionen (Hadith) bewahrte, aus Furcht sie könnten verloren gehen. Anscheinend ein Mann mit ausgezeichnetem Gedächtnis, lernte er mit sieben Jahren den Koran innerhalb von acht Tagen auswendig.

78. Nacht

Der Kammerherr weist die Zeltdiener an, ein königliches Zelt zu errichten, was sie sofort tun.

Was ist ein königliches Zelt? Wenn es ein Zelt mit bestimmten Zeichen, aus bestimmtem Stoff usw. ist, so muss es uns erstaunen, dass die Karawane ein derartiges Zelt mit sich führt. Oder aber, es ist einfach größer – mehrere Zeltbahnen werden miteinander zu einem größeren verknüpft.

Kaum sind sie mit dem Zeltbau fertig und Dau el-Makân

die königlichen Kleider angelegt und sich mit dem Prunkschwert gegürtet

das man ja auch erst mal dabei haben muss

kommt eine Staubwolke heran – die "gewaltige" Streitmacht aus Bagdad und Chorasân mit dem Wesir Dandân an der Spitze.
Die Gruppen warten in der Vorhalle des Zeltes.

Wie soll man sich nun das Hauptzelt vorstellen, in dessen "Vorhalle" schon eine "gewaltige Streitmacht" passt.

Die Truppen treten zu zehnt ein

Entweder, um keine zu große Gefahr darzustellen bzw. um sie handhabbar zu machen. Oder das Hauptzelt ist tatsächlich wesentlich kleiner als die Vorhalle.

Sie schwören ihrem neuen Herrn die Treue. Am Ende betritt Dandân das Zelt. Den Truppen wird befohlen, zehn Tage zu rasten. Nuzhat ez-Zamân kommt ebenfalls ins Zelt. nicht ohne dass ein Vorhang zwischen sie und den Wesir gezogen wird. Und Dandân beginnt mit der Geschichte, darüber, wie Omar ibn en-Nu’mân starb. Er fasst zunächst zusammen, was wir schon wissen – seine Betrübnis nach dem Verschwinden seiner Kinder und die Ankunft der hochbrüstigen Jungfrauen.

77. Nacht

Der Kammerherr berichtet dem Wesir Dandân von den Geschehnissen, der sie wiederum den Wesiren, Emiren und Großen des Reiches berichtet.

Danach gingen sie alle gemeinsam zu dem Kammerherrn, stellten sich huldigend vor ihm auf und küssten den Boden vor ihm.

Fragen über Fragen: Weshalb machen sich die Emire, Wesire und Großen des Reiches mit auf die Reise? Wie stellt man sich huldigend auf? Steht der Kammerdiener in der Hierarchie höher als ein Minister?

Man berät und kommt überein, doch nicht weiter zu Scharkân zu reisen, sondern Dau el-Makân zum Sultan zu machen. Die Würdenträger überreichen dem Kammerherrn Geschenke:

"Vielleicht sprichst du zu dem Sultan Dau el-Makân von uns, damit er uns in unserer Würde belasse."

Zu jenen Zeiten muss es ein absoluter sozialer Abstieg gewesen sein, diese Posten, und damit nicht nur Macht, sondern auch Einkommen zu verlieren. Heute kratzt es lediglich den Stolz der Ministerialbeamten , wenn sie ausgewechselt werden. Berühmte Herrscher – Atatürk, Elisabeth I., Peter der Große, Harun er-Raschîd – haben oft erst mal mit den Ministern, Würdenträgern, religiösen Führern usw. aufgeräumt.

Neulich wurde ich von jemandem gefragt, ob er mich duzen dürfe. Ist es möglich, diese Frage zu verneinen, ohne unhöflich zu wirken? Ich denke nun schon seit Tagen darüber nach und komme auf keine gute Lösung. Kirsten Fuchs schlug vor, man könne, wie nebenbei "Och nö" sagen. Diese oder andere Optionen gegeneinander sorgfältig abzuwägen, hat man, wenn einem so die Pistole auf die Brust gesetzt wird, kaum die Zeit, und so erlaubte ich es dem Frager. Das Resultat ist das berüchtigte IKEA-Duzen , bei dem in jedem Satz ein Du, Dir, Dich oder wenigstens ein Dein eingeschoben wird.

Der Kammerherr kehrt zurück zum Lager der Karawane und berichtet Dau el-Makân über den Tod seines Vaters und die ihm zugedachte Königswürde. Nach kurzem Bedenken willigt er ein.

76. Nacht

Der Eunuch erwischt den Heizer gerade noch, als dieser auf seinem Esel fliehen will. Er lässt ihn von Sklaven bewachen, und der Heizer glaubt nun, Dau el-Makân habe ihn verraten. Dass ihm aber statt des Esels ein Pferd zur Verfügung gestellt und ihm Zuckerscherbett serviert wird, irritiert ihn dann doch. Der Eunuch treibt so sein Spiel mit ihm.

Der Heizer ist immer noch namenlos. Der Eunuch sowieso.

Die Karawane zieht weiter.

Der Kammerherr ritt bald an der Tür der Sänfte seiner Gemahlin, um den Prinzen Dau el-Makân und seine Schwester zu bedienen, bald behielt er den Heizer im Auge.

Der permanente Wechsel im sozialen Status des Kammerdieners bleibt interessant. Bis vor kurzem war er der höchste Würdenträger innerhalb der Karawane, nun wieder ist er zurückgeworfen auf seine Funktion als Kammerdiener. Da ihm aber gleichzeitig die wahre Stellung seiner Gattin offenbart wurde, kann er sich berechtigte Hoffnungen auf eine fürstliche Zukunft machen.

Man befindet sich drei Tagesmärsche von Bagdad entfernt, als sich eine dunkle Staubwolke auf sie zubewegt. Er reitet ihr mit seinen Mamluken entgegen, und es stellt sich heraus, dass es ein Heer aus Bagdad ist. Die Nachricht, dass der König Omar ibn en-Nu’mân tot ist, ruft Verwunderung hervor.

Auch beim Leser, der ja bisher, wie der Erzähler, in einer Allwissenheits-Perspektive war.

Der Wesir Dandân, der sich in einem Zelt des Heers aufhält, berichtet, dass der König vergiftet worden sei. Im Volk sei daraufhin Unruhe über die Nachfolge ausgebrochen. Eigentlich würde sie Scharkân zustehen, das Volk liebe aber Dau el-Makân, der aber seit fünf Jahren mit seiner Schwester als verschollen gilt.

Im deutschen Recht ( Verschollenengesetz ) wird ein Verschollener für tot erklärt, wenn man 10 Jahre nichts von ihm gehört hat. 76 Ausnahmen sind u.a.:

  • Schiffsunglücke – 6 Monate

  • Flugzeugunglücke – drei Monate

  • Kriegsende – ein Jahr

  • über 80jährige – 5 Jahre

Eine Hidschaz muss zu jener Zeit ziemlich gefährlich gewesen sein, so dass die Kadis, die über die Nachfolge zu entscheiden hatten, getrost vom Tod des Geschwisterpaars ausgehen konnten.

So sei man nun auf dem Wege nach Damaskus, um Scharkân zu holen. Da aber Dau el-Makân nun heimkehrt, wird dieser wohl Sultan von Bagdad.

Der potentielle Konflikt unter den Brüdern, die sich kaum je sahen, wird verschärft. Fragt sich nur, wer den König tötete. Ich als Leser hätte da die hochbusigen, gelehrten Jungfrauen im Verdacht.

 

 

76 (Interessant auch für das Erbrecht: Im deutschen Recht gelten zwei gleichzeitig Verschollene als gleichzeitig gestorben. Im englischen Common Law gilt der Ältere als zuerst gestorben.)

75. Nacht

Nachdem Dau el-Makân, immer noch nichts ahnend, ein weiteres Gedicht improvisiert hat, schiebt seine Schwester Nuzhat ez-Zamân den Vorhang der Sänfte beiseite.

Sie aber warf sich ihm entgegen, und er riss sie an die Brust, und beide fielen ohnmächtig nieder. Als der Eunuch die beiden so sah, da staunte er, warf eine Decke über sie und wartete, bis sie wieder zu sich kamen.

Das ständige In-Ohnmacht-Gefalle der Protagonisten ist schon beachtlich. Es erinnert an bürgerliche Damen des 19. Jahrhunderts (bzw. aus Romanen des 19. Jahrhunderts), bei denen aber unzureichende Bewegung auch eine Rolle gespielt haben dürfte. Natürlich kann man auch spekulieren, ob diese kurzen Bewusstlosigkeiten nicht auch antrainiert sind, eine Art psycho-soziale Konditionierung: Man fällt in Ohnmacht, "weil es sich so gehört".
Dass diese Anfälle nicht so schlimm sein können, beweist der Eunuch, der lakonisch die Decke über die beiden wirft und wartet, anstatt beispielsweise lebensrettende Maßnahmen einzuleiten. Dennoch bleibt es unklar, ob es sich eher um ein Synkope (Kurzes Wegtreten) oder um eine längere Bewusstlosigkeit handelt.

Das Zwillingspaar berichtet einander über die Ereignisse der letzten Monate, und Dau el-Makân nimmt es erstaunlich gelassen hin, dass sein Bruder Scharkân die Schwester schwängerte. Der Kammerherr (inzwischen schließlich der Gatte von Nuzhat ez-Zamân) tritt hinzu und erfährt nun zum ersten Mal, mit einer Königstochter verheiratet zu sein:

und so sprach er bei sich selber: "Mein Geschick wird sein, dass ich Vizekönig werde in irgendeiner Provinz."

Zu hohe Hoffnungen, vor allem gepaart mit Gier, sind eine Steilvorlage für Tragödien. Man darf gespannt sein, welche Rolle diese Hoffnung noch spielt.

Dau el-Makân wird fürstlich bewirtet und erhält ein fürstliches Ross. Der Eunuch erhält Anweisung, für den Heizer zu sorgen.

74. Nacht

Eine gewisse ironische Wendung nimmt die Geschichte, als Dau el-Makân ohne es zu wissen die eigen Schwester beschimpft, nachdem der Eunuch ihn bittet, ihn zu seiner Herrin zu begleiten:

"Woher ist denn diese Hündin, die nach mir sucht? Gott verfluche sie und verfluche mit ihr ihren Gatte!"

Da es dem Eunuchen verboten wurde, Gewalt anzuwenden, überredet er Dau el-Makân mit den 1000 Dinaren und der Aussicht auf weitere Geschenke.

Der alte Onkel-mit-Bonbons-Trick.

Der Heizer aber schlich hinter ihm her und behielt ihn im Auge, indem er bei sich selber sprach: "Wehe um seine Jugend! Morgen werden sie ihn hängen."

In der Nähe von Nuzhat ez-Zamân wird er aufgefordert, weitere Verse zu rezitieren, und als sie seine Stimme vernimmt,

schluchzte sie noch heftiger als zuvor.

Dau el-Makân:

"… ich bin von allen getrennt; aber die liebste von ihnen war mir meine Schwester, die mir das Schicksal entriss. Als Nuzhat ez-Zamân seine Worte hörte, schwieg sie eine Weile, dann rief sie aus: "Allah der Erhabene vereinige ihn wieder mit der, die er liebt!"

Unklar hier: In welcher räumlichen Situation befinden sie sich? Sitzt Nuzhat ez-Zamân in der Sänfte oder in einem Zelt? Wie ist überhaupt das Lager organisiert, wenn die Karawane rastet und nächtigt? In der 73. Nacht wurde angedeutet, dass Wächter durch das Lager patrouillieren und jeden ergreifen, der nicht an seinem Platz bleibt. Befindet sich das Lager außerhalb oder innerhalb der Stadt?

73. Nacht

Nervös macht sich der Eunuch nun auf die Suche nach dem die Nachtruhe störenden Rezitator. Der Einzige, den er wachend findet, ist der Begleiter von Dau el-Makân, der Heizer,

den er mit unbedecktem Kopfe dasitzen sah.

Welche Art von Indiz das sein soll, ist unklar. Zu welchem Anlass nimmt man denn die Kopfbedeckung ab?

Der Heizer streitet abermals ab, der Verfasser der Verse zu sein.

Darauf küsste er dem Eunuchen das Haupt und sprach ihm gut zu, bis dieser ihn verließ.

Eine etwas aus der Mode gekommene Praxis: Einen Ordnungshüter aufs Haupt küssen um ihn zu besänftigen.

 woraufhin sich der Eunuch versteckt, da er es nicht wagt, ohne Dichter zu Nuzhat ez-Zamân zurückzukehren. Und wieder beschwört der Heizer den aus der Ohnmacht erwachenden Dau el-Makân, mit dem Rezitieren aufzuhören. Ohne Erfolg:

Ich weise jeden Tadler zurück;
Denn sein Tadel quälte mich.
Er schilt mich, aber das weiß er nicht:
Durch sein Gebaren reizte er mich.
Verleumder sprachen: "Er fand Trost."
"Durch Liebe zur Heimat", sagte ich.
Sie fragten: "Was ist schön an ihr?"
Ich sprach: "Was trieb zur Liebe mich?"
Sie fragten: "Was macht sie so wert?"
Ich sprach: "Was trieb ins Elend mich?"
Von ihr zu lassen – das sei fern,
und tränkte der Kelch des Leidens mich!
Auf einen Tadler höre ich nicht,
Schilt er wegen Liebe mich.

Der Eunuch tritt auf Dau el-Makân zu, und beide begrüßen sich höflich.

72. Nacht

Der Einzige, den der Eunuch wach findet, ist der Heizer, von dem Dau el-Makân begleitet wird. Gefragt, ob er es gewesen sei, der die Verse rezitierte oder ob er den Rezitator sah, streitet er aus Angst ab. Nachdem sich der Eunuch verzogen hat, erwacht Dau el-Makân, und der Heizer ermahnt ihn, nun doch still zu sein:

"Mein Lieber, als du in Ohnmacht lagst, kam der Eunuch mit einem langen Stab aus Mandelholz in der Hand." 72

Dau el-Makân scheint nun besessen zu sein:

"Wer sollte mir verbieten, Verse zu sprechen? Ich tue es doch, komme, was da kommen will; denn ich bin dicht bei meiner Heimat und kümmere mich um niemand."

Selbst die Mahnung, dass alle anderen gerade ihre wohlverdiente Nachtruhe halten, kann unseren jungen Helden nicht abhalten:

Wir lebten dahin; uns waren die Tage Diener des Glückes,
Im schönsten Lande umfing uns innigste Einigkeit.
Wer kann das Haus meiner Lieb mir wiederbringen, darinnen
"Das Licht des Ortes" weilte und auch die "Wonne der Zeit". 72

Nach diesen Versen schrie er laut dreimal, dann fiel er ohnmächtig zu Boden.

Bei aller Liebe zu selbstverfasster Lyrik: Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass sich jemand derart an den eigenen Gedichten aufgeilt.

Und wieder schickt Nuzhat ez-Zamân den Obereunuchen in die Spur, den Sänger zu finden, diesmal mit der Drohung, den Eunuchen verprügeln zu lassen, wenn er ohne Sänger käme und mit einhundert Dinaren, die er dem etwaigen Sänger geben solle.

 

72 Warum der Eunuch ausgerechnet einen Stab aus Mandelholz bei sich führt, konnte ich nicht eruieren. Auf jeden Fall handelt es sich um wertvolles Hartholz, das sich als Material für Prügelwaffen ganz gut einsetzen lässt.

Die letzte Zeile des Gedichts muss als Anspielung auf die Namen des Geschwisterpaars Dau el-Makân und Nuzhat ez-Zamân verstanden werden.

71. Nacht

Die Karawane zieht weiter bis nach Dijâr-Bekr 71 .

Dort setzt sich Dau el-Makân des Nachts nieder und spricht, als alle anderen schlafen, die Verse:

Mein Lieb, wie lange soll ich in diesem Dulden verharren,
Kein Bote kommt zu mir mit Kunde von dir her.
Ach sieh, die Zeit des Nahseins war nur von kurzer Dauer;
Ach, dass die Zeit der Trennung doch auch so kurz nur wär!
Ergreife meine Hand, nimm ab das Kleid und schaue:
Verzehrt ist mir der Leib, und doch zeigt ich es nicht.
Sagt jemand, ich solle mich trösten in meiner Liebe, dem sag ich:
Bei Gott, ich kann mich nicht trösten bis zum Jüngsten Gericht.

Nach einem weiteren derartigen Gedicht, fällt Dau el-Makân in Ohmacht.

Man muss wohl davon ausgehen, dass diese Verse improvisiert sind. Könnte man sich vorstellen, dass er in Ohnmacht fällt, wenn er die Verse Stunden vorher komponiert hat oder wenn sie von jemand anderem stammen? Es muss die Ekstase des eigenen Schaffens sein.

Nuzhat ez-Zamân hingegen wird es leicht ums Herz, als sie diese Stimme hört. Der Eunuch, den sie ruft, will nichts gehört haben. Doch er soll ihr den Dichter bringen.

 

 

71 Dijaâr-Bekir heute als Djyarbakir bekannt. Die Karawane muss einen ziemlich Umweg genommen haben. Es wird nicht erklärt, warum. Vielleicht war die Straße sicherer – geographisch und politisch.

70. Nacht

Die Bitte des gemeinsamen Vaters Omar, ihm die gebildete Sklavin zu schicken, bringt die beiden in eine arge Bredouille. Nuzhat ez-Zamân macht den Vorschlag, tatsächlich nach Bagdad zu reisen, wo sie ihrem Vater alles erklären will.

Dieser Vorschlag überrascht vor allem, weil er so einfach und kommunikativ ist, wo doch die Protagonisten hier dazu tendieren, aus Scham, Eitelkeit oder Ehre zu Tricks zu greifen oder zu fliehen.

Die gemeinsame Tochter Kudijâ Fakân bleibt in Damaskus, während der Tribut bereitgestellt wird. Siehe da – Dau el-Makân und der Heizer beobachten das Beladen der Maultiere, Kamele und Trampeltiere und Dau el-Makân beschließt, sich der Karawane anzuschließen. Der treue Heizer zieht mit.
Die Karawane zieht los, und nach fünf Tagen erreichen sie die Stadt Hama , wo sie drei Tage verweilen.

Interessant wäre es, die Handlung zeitlich einzugrenzen: Da Hama 1401 zerstört wurde, muss die Handlung vorher spielen. Wahrscheinlich lassen sich ohnehin lauter Widersprüche finden, denn einen Herrscher Omar ibn en-Nu’mân hat es in Bagdad nie gegeben.

69. Nacht

Nuzhat ez-Zamân berichtet ihm nun ihre ganze Geschichte. Ihr Bruder schlägt ihr nun auf ungewöhnlich ruhige Weise vor, sie möge seinen Kammerherrn ehelichen, damit die "Todsünde" der Welt nicht bekannt würde.

Nun also doch Todsünde im Islam, über deren Existenz wir noch in der 66. Nacht  spekuliert hatten. Aber vielleicht hat es sich auch der Übersetzer hier ein bisschen einfach gemacht.

Die Tochter der beiden wird Kudija-Fakân69 genannt.

Wenn diese Story klassisch ablaufen sollte, dann kann dieses Kind eigentlich nur Bringerin oder Empfängerin von Unglück werden.

Tatsächlich wird Nuzhat ez-Zamân nun mit dem Kammerherrn vermählt und das Kind aufgezogen

mit Hilfe der Sklavinnen und pflegten es mit allerlei Säften und Pulvern.

Ist die Ehe einer Königstochter mit dem Kammerherrn überhaupt standesgemäß? Säfte und Pulver als Mittel des Aufziehens? Oder ist es ein Hinweis auf die Kränklichkeit der Inzesttochter?

Ein Brief von Omar ibn en Nu’mân trifft ein, in dem dieser den Tribut von Damaskus einfordert. Außerdem berichtet er davon, dass eine alte Griechin engetroffen sei.

und bei ihr sind fünf Mädchen, hochbusige Jungfrauen, die beherrschen das Wissen, die Bildung und die feine Wissenschaft

Hochbusig und gebildet. Eine in der Tat seltene Kombi.

Diese Mädchen seien, so die Alte, nur für den Preis des Tributs von Damaskus zu verkaufen, außerdem bitte Omar seinen Sohn, auch das von ihm so gepriesene Mädchen zu schicken, damit dieses sich mit den gelehrten Mädchen im Wissensstreit messe.

Die Alte, so können wir ahnen, muss Dhat ed-Dawahi sein, die Mutter des mit König Omar verfeindeten Griechenkönig Hardûb. Ihr Plan  beginnt nun zu reifen.

 

69 Kuija Fakân = "Es war bestimmt und es geschah." Eine Anspielung auf die unergründlichen Wege Allahs, denen man sich zu fügen habe.

68. Nacht

Scharkân liest weiter im Brief seines Vaters, welcher den Verlust seiner Kinder beklagt:

Ihr Bild entschwindet nie, nicht eine einz’ge Stunde
Im Herzen wies ich ihm den Platz der Ehren zu.
Wär Hoffnung nicht auf Heimkehr, ich lebte keine Stunde.
Wär nicht das Bild des Traumes, ich fände keine Ruh.

Beachtlich das originelle Reimpaar Stunde/Stunde.

Als Scharkân das Schreiben gelesen hatte, da grämte er sich um seinen Vater, aber er freute sich um den Verlust seines Bruders und seiner Schwester.

Scharkân besucht nun seine Schwester/Gemahlin Nuzhat ez-Zamân, die gerade im Geburtstuhl  saß und entbunden hat, um ihr den Brief zu zeigen. Seine Freude über die neugeborene Tochter, der man erst am siebten Tage nach der Geburt einen Namen geben will (denn "Das ist der Brauch unter den Menschen") 68, währt nur so lange, bis er den Juwel
an deren Hals sieht,

eins von den dreien, die Prinzessin Abrîza aus Griechenland mitgebracht hatte.

"Woher hast du das Juwel, Sklavin?"

Erst jetzt platzt es aus Nuzhat ez-Zamân heraus:

"Schämst du dich nicht, mich Sklavin zu nennen? (…) Ich bin Nuzhat ez-Zaman!"

Als er diese Worte hörte, fasste ihn ein Zittern und er ließ den Kopf zu Boden hängen.

Depression ist für Scharkân eine eher untypische Reaktion. Bisher reagierte er auf unschöne Nachrichten eher explosiv.

 

68  Für die Katholiken hingegen scheint es ja eher wichtig zu sein, die Taufe möglichst schnell über die Bühne zu bringen, damit, falls das Kind stirbt, es nicht ungetauft im Fegefeuer landet. Sollte der Säugling ungewöhnlich schwach sein, kommt sogar eine Nottaufe in Betracht.

67. Nacht

Scharkân hat genug von der Weisheit des Mädchens gehört, die ihm die anwesenden Kadis bestätigen:

"Macht euch daran, die Hochzeitsfeier zu rüsten und bereitet Speisen jeglicher Art."

Heutzutage würden seine Eltern bedenklich das Haupt schütteln: "Eine Philosophin? Na ick weeß ja nich."

Es wird gespeist und musiziert. Dann führen die Kammerfrauen die Maid fort, um sie zu schmücken und anzukleiden; doch sie bemerkten, dass sie keines Schmuckes bedurfte.

Derart knapp wurde die Schönheit eines Mädchens hier noch nicht auf den Punkt gebracht.

Scharkân lässt sich nun im Prunksitz seine Braut in verschiedenen Gewändern vorführen. Dann geben ihr die Kammerfrauen

die Ermahnungen, die man Jungfrauen in der Hochzeitsnacht zu geben pflegt.

Welcher Natur diese Ermahnungen sein mögen, davon mag man spekulieren. Nur sexueller? Oder betreffen sie auch das Leben "danach"?

Scharkân ging zu ihr ein, und nahm ihr das Mädchentum; und sie empfing in selbiger Nacht, und als sie es ihm sagte, da freute er sich sehr und er befahl in den Gelehrten, die Zeit der Empfängnis zu verzeichnen.

Ein wenig unklar: Will sie es noch in derselben Nacht gewusst haben? Dann muss sie ein gutes Gespür für ihren Körper haben, wie man es sonst nur von reiferen Frauen kennt. Selbst die Mucus-Methode muss man eine Weile trainieren.
Oder sagt sie es ihm Wochen später? Der Umstand, dass er gleich zu seinen Gelehrten geht, deutet darauf hin. Es ist schließlich unwahrscheinlich, dass ausgerechnet die Gelehrten hinter der Tür des Hochzeitsgemachs warten.

Voller Freude schreibt Scharkân an seinen Vater über seine neue Sklavin/ Braut, und er bittet ihn, sie bei sich zu Besuch aufzunehmen, damit sie seine Geschwister Dau el-Makân und Nuzhat ez-Zamân kennenlerne.

(Nicht wissend, dass er gerade seine eigen Schwester entjungfert hat.)

Der betrübte Vater in Bagdad erwidert ihm mit einem traurigen Brief, in dem er vom Verschwinden der beiden berichtet.

66. Nacht

Doch als die Sechsundsechzigste Nacht anbrach, fuhr sie also fort: Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, dass Nuzhat ez-Zamân zu ihrem Bruder Scharkân, ohne ihn zu erkennen, in Gegenwart der vier Kadis und des Kaufmanns sagte: "Hier endet der zweite Abschnitt des ersten Kapitels."

Das lässt befürchten, dass Nuzhat ez-Zamân uns noch viele weitere Kapitel und Abschnitte über die Tugend und die Versuchungen großer Kalifen und Weiser referieren wird, doch ein kurzes Vorblättern zeigt, dass wir schon in der 67. Nacht davon befreit werden.

Noch einmal betont sie, dass Omar ibn Abd el-Malik seiner eigenen Sippe nichts aus dem Staatsschatz zukommen ließ und sich von etwaigen Ausschweifungen seiner Statthalter distanziert.
Sie berichtet außerdem, dass Châlid ibn Safwân den Kalifen Hischâm ibn el-Malik durch eine kleine Anekdote von seiner Prunksucht befreite.

Ist Prunksucht eine Todsünde? Vielleicht wenn man sie als Teil der Eitelkeit versteht. Kennen die Moslems die Todsünde überhaupt?

Ein kleiner Test auf http://www.4degreez.com/misc/seven_deadly_sins.html ergibt bei mir:

  • Habgier: mittel

  • Völlerei: mittel

  • Zorn: sehr niedrig

  • Trägheit: niedrig

  • Neid: sehr niedrig

  • Wolllust: mittel

  • Stolz: mittel

Als empirischer Sozialforscher stellt man sich natürlich Frage nach der Validität solcher Tests. Warum spielt meine moralisch indifferente Haltung zum Thema enge Kleidung meiner Todsünde der Wollust zu?