8.11.- 11.11.2006

Mi, 8.11.06

Ebay. Mit vollbepacktem Rucksack zur Post. Je 28 Euro für Frankierung und für neue Briefmarken.
Mir fehlt die Meditation des Laufens.
Langweilige Impro-Show. Warum soll ich so etwas spielen? "Ja, Sie kommen hier durch, aber nur unter einer Bedingung…", improtypisches Gelaber. Warum soll ich mich auf der Bühne von X immer wieder schlagen lassen? Wie soll auf der Bühne etwas entstehen, wenn schon von Anfang an negativ gespielt wird?
Mir fehlen Energien, stattdessen lulle ich mich mit Youtube ein, in der irrigen Annahme, die kleinen Freuden würden mich inspirieren. Aber im besten Falle kichere ich ein bisschen.

J.S: Laut Buch keine Proust-Lektüre. Die Synchronizität von Blog und Buch ist dadurch wieder hergestellt.

*

Do, 9.11.06

Wieder einmal länger als geplant sitze ich daran, einen kleinen Song auf dem QY zu basteln. Nachdem ich die Zeilen der letzten Woche komprimiert und in lockere Reimform gebracht habe, wirken sie auf dem Papier gar nicht mehr witzig, schon gar nicht, wenn ich sie in halbwegs lesbares Deutsch übertrage. Kann nur auf den Effekt des Dialekts, des Gestus und der Emotionalität hoffen. Dieser stellt sich dann auch tatsächlich ein. Wie so oft in letzter Zeit vergesse ich aber (so auch gestern) meine Stimme sanft zu behandeln, indem ich sie abstütze.

Mit meiner Mozart-Anekdote der Woche bin ich zufrieden: "Einmal unternahm Mozart eine Rundfahrt auf der Donau, ein Fluss, der bekanntlich mitten durch das schöne Wien hindurch flitscht. Der Kapitän ließ das Schiff zunächst gemütlich treiben, doch plötzlich gewahrte er eine Wolkenzusammenballung am Horizont, worüber er dermaßen in Sorge geriet, dass sich seine Augenbrauen zu einer zeltförmigen Figur auf seiner Stirne zusammenzogen. Er ließ die Segel reffen, aber zu spät – das Schiff ging unter, und alle waren tot. Außer einer – John Maynard. Mozart, der berühmte Politbarde. Sein Opus "An der schönen blauen Donau" schmiss er nach diesem betrüblichen Vorfall einfach weg, so dass der Strauß es später einfach noch mal komponieren musste.

Schon 19.15 Uhr im RAW, wo ich ein kleines Video aufnehme – eine Geburtstagsüberraschung für Jochen gegen Ende der Show.

J.S.: "Meine Mutter hat gefragt, ob ich denn ein Grammophon hätte, sie meinte einen Plattenspieler. Ich hatte nämlich erzählt, daß ich mit ihrer Enkelin unsere alte "Der Wolf und die sieben Geißlein"-Platte gehört habe. Wir haben damals immer den Schluß hören wollen, wo die Geißlein singen: "Der Wolf ist tot, der Wolf ist tot, määääh!" Was in der Erinnerung eine längerer Spottgesang ist, war  in Wirklichkeit ein rasch ausgeblendetes leises Meckern."
Dies war auch meine erste Platte, kaum eine hat so viele Knackser. Aber wie kam eigentlich der West-Schauspieler Offenbach dazu, diese Platte zu besprechen? Benno Gellenbeck ebenfalls aus dem Westen, Henri Gruel, der für die Geräusche zuständig war, ist ein französischer Regisseur. Rätselhaft.

Professor Cottard demütigt seine Gattin in der Öffentlichkeit: ‚Sieh dich nur im Spiegel an, du bist so rot, als littest du an einem Ausbruch von Akne, du siehst aus wie eine alte Bäuerin.‘

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Fr, 10.11.06

Kurs bei Nina in Kastanienallee 77. Wie verspannt ich doch zurzeit bin.
X braucht vor dem Auftritt so oder so ein Ventil für ihre Aufregungen. Ich erinnere mich, wie ich vor vier Jahren versuchte, sie zu trösten, als sie aus der Band geflogen war. Nach der gelungenen Show kündigt sie eine längere Auszeit an. [Nachtrag 2008: Es wird ihr dauerhafter Ausstieg.]
Silvesterplanung mit RAW, Vorlesern, Band, Improtheater. Jeder mit seinen kleinen Eitelkeiten, Problemchen, Bedürfnissen, während die ganze Sache doch auch ein finanzielles Risiko ist, wenn die Agentur hart bleibt. Andere gönnen sich für die Organisation einer solchen Veranstaltung einen ordentlichen Extrahappen vom Kuchen. Ich bin aber den Egalitäts-Stil der Lesebühnen gewöhnt.
Warum sind es meistens die unwichtigsten Mails, die mit einer Prioritätsstufe versehen werden? Vielleicht weil man als Absender schon ahnt, dass sie untergehen würde, weshalb man sie markiert?
Anfrage von Jochen, den Trash-Song über Löbau erst eine Woche später in der Kantine zu singen, da dann seine Cousinen kämen. Aber die sind doch gar nicht aus Löbau.

Jochen auf einer traurigen Rentnerveranstaltung in der Urania, wo seine Angebetete tanzt [was der Blogleser nicht erfahren hatte, der 2008er Jochen im Buch aber nachschiebt]. Chris Howland, schlüpfrige Gags. Der Saal ist aus dem Häuschen. J.S.: "Was werde ich hier in 50 Jahren mit meinen Altersgenossen singen?" Das klingt, als gäbe es Hoffnung. Aber ich sehe schwarz. Sie werden Wolfgang Petry bis zum Abwinken spielen und das Frechste ist dann "Finger im Po, Mexiko". Aber wieviele von uns werden bevor sie selbst dort landen, noch auf diesen Bühnen tingeln.

Mittendrin, nach über 400 Seiten des dritten Bandes, meldet sich das Erzähler-Ich zu Wort: "ich selber bürge dafür, ich, das seltsame Wesen, das, während es darauf wartet, daß der Tod es erlöst, bei geschlossenen Fensterläden, abgeschieden von der Welt, unbeweglich wie eine Eule lebt und wie jene einigermaßen klar nur im Dunkel sieht." Glaubt er, nur weil 20. Jahrhundert ist, darf er sich einen solchen Bruch erlauben?

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Sa, 11.11.06

Die Schauspielerei hat manchmal was Zerstörerisches. Unser neuster Running Gag – wir spielen ein nörgelndes Ehepaar. Dumm nur, dass es einen auf Dauer wirklich zermürbt. [Vielleicht ist es ja dasselbe wie bei den Cottards?]
Von der Frau, die Jochen "unsere Praktikantin" nennt, wissen wir nicht einmal den Namen, wir wissen nicht, ob sie für uns arbeiten will. Jochen spricht mit ihr regelmäßig nach der Show mindestens eine Stunde, hält sich aber für nicht zuständig.
Vier alte Schulfreunde beim Kantinenlesen zu Besuch, das mit Jochen, Tube, Ahne und Andrés wunderbar funktioniert. Sie haben überraschenderweise noch miteinander zu tun. Nehme sie mit in den Schusterjungen, wo sie von der Art des Wirts geschockt sind. Ich weiß ja schon, dass ihm wenig Besucher lieber sind als viele. Er ist schnell überfordert, der Ärmste.

J.S: "Ich habe 12 Jahre Lebenszeit damit verschwendet, mich zu drücken. Immer mußte man im Unterricht heimlich die Hausaufgaben für die nächste Stunde machen. Ich war meine gesamte Schulzeit genau eine Stunde hinterher." Das Beunruhigende für unsereinen ist ja, dass man, obwohl man als freischaffender Künstler alle Zeit der Welt hätte, dieses Gefühl, hinterherzuhasten, nicht los wird, es sei denn, man betreibt Meditation oder meditativen Ausgleichsport wie Joggen oder Yoga.
"Im Nieselregen nach Hause geradelt. Immer eine Art Kontrollgang, welche meiner Erinnerungsorte noch existieren und welche der geistlosen Bautätigkeit zum Opfer gefallen sind." Der letzte Satz ebenfalls ins Buch dazugeschummelt. Ich vermute, dass sich die 2008er Schwermut ihr Ventil vor allem im Ärger über die "Bautätigkeit" sucht. Aber wer weiß, vielleicht hinkt er ja hier nicht nur eine Stunde, sondern 20 Jahre hinterher und wird dann das betrauern, was man jetzt aufbaut. (Hier habe ich mich schon oft mit ihm gestritten: Als hätte es diese Geistlosigkeit in den 70ern nicht gegeben, wo man glaubte, den Prenzlauer Berg verfallen lassen zu können und stattdessen Plattenbauten in Buch, Lichtenberg und Marzahn hochzog, deren Landschaften auch für jemanden "Erinnerungsorte" waren. Aber als Komiker kann man ja nicht anders als alles persönlich zu nehmen.

J.S./M.P.: >>Die Verdurins zwingen ihre Gäste nach Likören und Zigaretten zu Ausflügen, "ungeachtet der durch Hitze und Verdauungstätigkeit erzeugten Schläfrigkeit". An allen Aussichtspunkten steht eine Bank, bis hin zur letzten Bank "von der aus man die ganze Rundsicht über das Meer beherrschte", und wo der meiste Müll herumliegt und man aufpassen muß, daß man nicht in die Haufen und Klopapierreste der anderen Touristen tritt.<<
Das landschaftliche Idyll, das einem immer wieder als Ideal vorgegaukelt wird – der einsame See, der große weite Strand – gibt es das überhaupt noch? Kanada? Nicht einmal auf dem Mount Everest ist es einsam – man klettert an den Müllhaufen und Leichen früherer Kletterer vorbei, die einen daran erinnern, dass diese Strapazen zwar potentiell tödlich sind, aber man auch nur ein Massentourist ist. Das hätte man auf Mallorca ungefährlicher haben können.

4.11.06 – 7.11.06

 

Das Verwaltungsgericht Köln hat entschieden, dass auch die Baskenmütze einer muslimischen Lehrerin ein Symbol des Islam sei, sofern die Mütze von der Muslimin getragen werde, da diese ja so etwas Ähnliches sei wie ein Kopftuch, das ja ein frauenverachtendes Symbol sei, und somit wäre auch die Baskenmütze ein indirekter Verweis auf die Frauenverachtung des Islam. Ich nehme an, dass wenn sich diese Lehrerin demnächst eine Perücke aufsetzt, das gleiche Argument ins Feld geführt wird, ebenfalls bei einem Stirnband, und wenn es soweit gekommen ist, vermutlich auch bei einer Handtasche. Die Lehrerin selbst ist nämlich als Muslimin ein Symbol für den Islam, das wollen die Kultusminister wohl damit sagen. Fragt sich nur: Wer agiert denn hier frauenfeindlich? Man möge mich nicht falsch verstehen – ich halte den größten Teil dessen, was der Islam propagiert und wie er praktiziert wird für Hokuspokus, ebenso wie Katholizismus und Sterndeutung. Aber wer glaubt, daraus Kraft zu ziehen, soll diese Freiheit haben, zumindest so lange es ein Kleidungsstück ist, dass sich die Lehrerin auf die Omme setzt. Diskutabel hingegen wäre vielleicht eine satanistische Lehrerin, die glaubt, mit Vampirzähnen und Hörnern unterrichten zu müssen. Oder ein Lehrer, der einem todeszentrierten Kult frönt, unter dessen Mitgliedern es nicht unüblich ist, sich die Puppen zu Tode gefolterter Leichen um den Hals zu hängen. Das klingt jetzt vielleicht an den Haaren herbeigezogen, wird aber durch Kruzifixe aller Art tagtäglich praktiziert. Und kein Verwaltungsgericht meckert.

***

Sa, 4.11.2006

Schon seltsam. Das letzte Probenwochenende der Bö, keine Notizen und ich weiß nur noch, dass wir darüber diskutiert haben, wie man mit Figuren spielt.

Selbst Comics wie Shenzen und der im Frühjahr 2007 erscheinende "Pjöngjang", die Jochen übersetzt, stehen im Buchladen "in der Ecke für infantil gebliebene Erwachsene".
Liste von Marotten Kim Jong Ils. Zu dieser wäre wohl heute hinzuzufügen: Das eigene Bildnis vor nicht stattfindenen Fußballspielen zeigen zu lassen, während man gelähmt kaum mehr Befehle erteilen kann und die Generäle gleich den zänkischen Trauerweibern in "Lexis Sorbas" schon Krokodilstränen vergießen, obwohl man noch gar nicht tot ist.

Von Jochen erfahren wir nun, dass es die Musik ist, die im Zentrum von Madame Verdurins Salon steht, weshalb sich ihr Gesichtsausdruck zu einer ständig überwältigten Miene ausgeformt hat. In der Tat – die Betreiberin eines der wenigen Salons, die ich kennengelernt habe und die diesen Namen auch verdienten, wirkte ebenfalls ständig "überwältigt", so als müsse sie demonstrieren, wie wahnsinnig toll die von ihnen eingeladenen Performer seien und als ob wir deren Qualität sonst nicht zu schätzen wüssten.

So, 5.11.2006

Wir bringen den Polo zurück zu meinen Eltern. Nils ist da, und hat, je konkreter es wurde, Zeichen der Angst von sich gegeben, als es hieß, ich werde auch kommen, obwohl er sich wohl zunächst auf mich freute. Nach einer Viertelstunde Weinen, lässt er sich von mir vorlesen. Ich muss für ihn wie ein faszinierendes aber auch gleichzeitig überwältigendes Wesen wirken.

Jochen über den Open Mike in der Wabe Greifswalder Str. Er habe dort mal mit "Deborah" Salsa getanzt. Ich erinnere mich aber, dass es "Rosa" war. Vielleicht ja auch beide.
Erinnerungen an die Stadtbibliothek zu DDR-Zeiten. Das Gefühl, endlich am Weltwissen teilzuhaben, das Überwältigtsein angesichts der Zettelkästen, gegen die das gesamte Internet, das ja offensichtlich auf die Festplatte meines Laptop passt, ein Klacks ist. "Im Lesesaal saß immer ein dicker Junge mit Hasenscharte, der Tag für Tag murmelnd große Stapel einer Eisenbahnerzeitschrift studierte, vielleicht fand er mich genauso seltsam, wie ich ihn." Er las auch Straßenbahnzeitschriften, alte Berliner U-Bahn-Pläne, trug Hosenträger und wurde nach der Wende extrem fett. Ich sah ihn dann irgendwann in der S-Bahn nach Strausberg, wo er, einem alten Eisenbahn-Narren-Tick folgend, die Stationen ansagte, "zurückbleiben!" rief und so tat, als stünde er mit dem Zugführer in Funkkontakt. Als ihm dann zwei Zigeunerinnen einen goldenen Ring zu verkaufen versuchten, floh er panisch. Stoff für eine osteuropäische Komödie. Übrigens kenne ich noch zwei weitere Hasenscharteninhaber, die mit diesem Menschen den Faible für Bahnen teilen. Einer von ihnen kannte den gesamten DDR-Fahrplan auswendig.
Jochens hat eine neue Maus. Bei der alten hakte die Kugel. Mauskugeln und -wellen gehören zu den wenigen Dingen, die ich gern putze. Wenn ich bei jemandem den PC benutzen darf, hat er mir damit sein Einverständnis gegeben, seine Maus zu öffnen und zu kontrollieren, falls sie nicht ordnungsgemäß flutscht.

J.S./M.P.: Der "kleine Kreis" ist bei den Verdurins angelangt, die ihren Salon in den Ferien im von den Cambremers gemieteten Anwesen "La Raspelière" betreiben, das 200 Meter über dem Meer liegt. Auch Charlus ist anwesend und zieht Marcel in eine Ecke: "…um ein Wort zu mir zu sagen, wobei er meine Muskeln abtastete, was eine deutsche Sitte ist." Die Sitte kenne ich eigentlich nur aus Westdeutschland.
Muskeln abtasten? Wann habe ich das letzte Mal eines Mannes Muskeln abgetastet?

Mo, 6.11.2006

Wir melden uns bei Alice an (und später wieder ab).
Liste der über meinen Umzug zu benachrichtigenden Ämter, Firmen und anderen Stellen:
– Bank
– Ärztin / Zahnärztin
– Krankenkasse
– VG Wort
– Voland & Quist
– Alte Kantine
– RAW
– Ebay
– Amazon
– Einwohnermeldeamt
– Telefon / Kündigung Telekom
– Gas
– Strom
– Merkur-Versicherung
– KSK
– Presse-Versicherung
– amnesty international
– Strato
– BfA
– taz
– Rolling Stone
– Gehirn und Geist
Werde erst später merken, dass sie unvollständig ist.
Als Gedächtnisstütze notiere ich Details über die Entstehung des Kantinenlesen: Ideengeber, Teilnehmer des Literaturexpress als Testlauf, angefragte Häuser, anstrengende Namenssuche, einmaliges Sponsoring, Ringen um annehmbare Konditionen, das erste anstrengende Jahr, die Lösungen wie Schönwetterkasse, Moderation, Schluss-Rap, das After-Show-Essen erst in der Schildkröte, dann im Schusterjungen.
Betrachte die seit zwei Wochen geführte Liste mit Dingen, die ich täglich für die Chaussee mache (ohne Texteschreiben). Im Schnitt täglich 30 Minuten. Man macht sich das manchmal nicht klar.
Grauenhafte Anfrage eines Hörers an die Chaussee, der uns bittet, seine witzigen Fragen zu beantworten, darunter die folgenden:
– Was hat euch eigentlich zum Schreiben veranlasst, wo doch so viele nicht einmal richtig lesen können?
– Würdet Ihr euch als ewige Dissidenten bezeichnen?
Auf welche Frage(n) würdet Ihr lieber nicht antworten und wenn ja, warum?
a.:) Wie groß ist Dein Bierverbrauch – pro Seite?
b.:) Was fühlst Du während des Schreibens?
c..) Warst Du mal auf einem Kurs für kreatives Schreiben?
c.:) Was könnte Dich glücklich machen?
d.:) Warum treten so wenige Frauen bei Euch ein?
e.:) Wo ist der Siebente? Es waren doch 7 Zwerge? Versiebt?

Spiegeln, so fragt Jochen, derartige Fragen wider, wie wir von außen wahrgenommen werden? Soll man überhaupt antworten? Ich denke dass ja. Selbst "Die Ärzte" geben von Zeit zu Zeit noch Antworten auf Fragen von Schülerzeitungen: "Wie kommen Sie denn immer auf solche lustigen Texte?" Zumindest müsste man antworten, dass man nicht antworten will. Ich lasse ich breitschlagen, nehme mir 20 Minuten für eine Antwort und er lohnt es mir, indem er mich in seinen Reklameverteiler aufnimmt.
Ich müsste es wissen, denn auch von der "Jugendpresse", der ich mal ein Interview gegeben habe, bekomme ich ständig nicht-abbestellbaren Spam.
Von welchen Tellerchen wollen wir nach dem Umzug essen – von bunten oder unbunten?
Das Goethe-Institut versucht, die Lesebühnen zu erklären. Zu 80 % ist das totaler Quatsch: ""Ein nicht zu unterschätzender Einfluss kam aus dem literarischen Untergrund der DDR. Dessen Szene wirkte vor allem im Bezirk Prenzlauer Berg. Zu Zeiten vor der Wiedervereinigung erprobten Autoren, ständig von Repressalien wie Veröffentlichungsverbot bis Verhaftung bedroht, neue Formen literarischer Öffentlichkeit, lasen in Konzertrahmen und Partys. Die heutigen Lesebühnen haben diese Tradition aufgegriffen…" So ein Nonsens. Die Lesebühnen sind aus einer völlig anderen Tradition entstanden. Der einzige nennenswerte Berührungspunkt mit der alten Ostszene ist, dass Papenfuß jetzt der Wirt jener Kneipe ist, in der die Reformbühne auftritt. Also nur Business.

Um sein unglückliches Verliebtsein zu vergessen, schmökert Jochen in Gustav Fischers "Landmaschinenkunde" aus den 20ern, aber wessen Wahrnehmung auf Sexuelles geeicht ist, wird auch in einem solchen Buch keinen Trost finden, wenn darin andauernd von Schwingschüttlern, Pommritzern usw. die Rede ist.

Dass seine Mutter eine Bindung mit Albertine begrüßen würde, ist für Marcel ebenso eine Überforderung wie das Einverständnis seines Vaters, er könne Literat werden. Die Freiheit, die uns überfordert, wenn wir nicht gelernt haben, Entscheidungen zu treffen. Ist es der Prokrastinator, der Autorität braucht, oder neigen Menschen, die autoritär erzogen werden, zu Prokrastination?
Und heißt das eigentlich, dass Prousts Mutter mit seiner Homosexualität einverstanden war?

Di, 7.11.06

Wache halb neun auf. Auf der Libauer wieder Straßenbauarbeiten. Man muss hier doch die wenigen stillen Morgen im Jahr stärker noch genießen. Und überhaupt den Zufall, dass gerade ich die Möglichkeit habe, meinen Kopf mal kurz in dieses Universum zu stecken, und das auch noch unter Bedingungen, in denen ich mir keine täglichen Existenzsorgen machen muss, sondern eher darum, wie man die Kunst am besten zuwege bringt, dass ist schon ein Wunder. Aber leider scheinen wir so nicht gestrickt. Wir suchen uns immer wieder den Stress, so wie Nils sich seine Ängste sucht, wenn ihm das Leben keine echten Gründe zum Fürchten gibt.
Umfangreiche Notizen zu Improtheater.
Finde die Noten des Andante-Satzes der Sonata facile von Mozart.
Am Abend mit Steffi in einem Off-Theater verabredet, damit ich endlich auch mal weiß, was es mit dieser Soap auf sich hat. Ich hatte mich auf einiges eingestellt, aber nicht auf diese Zumutung, die das Publikum bejubelt. Trash in der Darstellung, dabei inhaltlich aber dümmster Boulevard, schlechte Kalauer, keinerlei Hintergründigkeit. Die Figuren stimmen nicht, eine Sächsin, die falsch sächselt, ein Ex-Stasi-Mann mit Trenchcoat (!!) und Ost-Hut, nicht einmal die Türken stimmen, ebenso wenig die Berliner Typen. Sobald ein Klischee in der Ferne winkt, galoppieren die Schauspieler drauf zu und trampeln es breit. Will ihnen immer noch eine Chance geben, aber nach 20 Minuten reicht es mir. Steffi, die sich auch quält, will um der Schauspieler willen nicht früher gehen. Aber die nehmen ja auf mich auch keine Rücksicht.

J.S.: "Als ich einmal in Petersburg über eine Newa-Brücke ging, strich ich mir durchs Haar und hatte plötzlich einen Angelhaken in der Hand. Es war auch noch ein bißchen Sehne dran. Ich konnte mir nicht erklären, wie der Haken auf meinen Kopf gekommen war. Ich konnte bisher auch niemandem davon erzählen, die Beobachtung paßte einfach in kein Gespräch."
Wie müssen die Salongänger darunter gelitten haben, dass praktisch kaum eine ihrer Beobachtungen in ein Gespräch passte, bzw. sie ihre Beobachtungen an den Normen dieser Gespräche auszurichten hatten?

Kaiser Wilhelm habe "Herrn Tschudi angewiesen, die Elstirs aus den nationalen Museen zu entfernen." Was für die Rezeption des Romans einen schwierigen Bruch darstellt, da es Wilhelm und Tschudi gab, aber keinen Elstir. Das treibt mich ja auch zu extremen Leistungen bei der Lektüre von Romanen an, sobald die wirkliche Welt zu sehr hindurchscheint. Meine geliebten Sjöwall/Wallöh-Krimis konnte ich nur noch mit großer Anstrengung lesen, seit mir H.A. erzählte, er habe bei einer Radtour durch Schweden den ehemaligen Generalstaatsanwalt getroffen, der eben kein böswilliger Hund, sondern absolut liebenswürdig war und der das Schriftstellerpärchen sogar beraten hatte und sich über die Darstellung des karrieregeilen Staatsanwalts gut amüsierte. Romane über amerikanische Präsidenten sind für mich fast nicht lesbar. Auch "Schweigen der Lämmer" ist mir zu konkret, wenn die Schule des FBI und die Senatorin von Tennessee beschrieben werden. Es ist, als müsse ich ein Auge beim Lesen verschließen oder als singe im Hintergrund eine Gruppe fieser Gören: "Stimmt ja gar nicht! Stimmt ja gar nicht!"… Weiterlesen

31.10.-3.11.06

Als Falko Hennig neulich in der Alten Kantine erwähnte, er lese ca. 10 Bücher parallel, glaubte ich, da käme ich lange nicht heran, doch beim genauen Hinsehen, komme ich ebenfalls auf diese Zahl:

  • Jochen Schmidt: Schmidt liest Proust

  • Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten

  • Truman Capote: Frühstück bei Tiffany

  • Francis Clifford: Zen-Minuten-Stories

  • Baltasar Gracián: Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit

  • Gunter Lösel: Das Archetypenspiel

  • Robert M. Bramson: Coping With Difficult People

  • David Edmonds & John Edinow: Rousseaus Hund

  • Zeitschriftensammlung "Wissen und Leben" 1959-1961

  • Jeremy W. Hayward: Die Erforschung der Innenwelt

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Di, 31.10.06

Jochen empfiehlt "Curb Your Enthusiasm", es mache süchtig. Schaue es sofort, erkenne das Suchtpotential und verzichte darauf, mir die DVD zu ordern.
Spannungen bei BÖ-Team nehmen zu. Beschwichtigungen kontraproduktiv. Wie man’s macht, macht man’s verkehrt.
Bei Ebay ersteigert: Hans Buchheim – "SS und Polizei im NS-Staat". Steffi wird sich freuen.
Nocti mäkelt wieder: Wir mögen die Showlänge von 40-45 Minuten möglich exakt einhalten. 38 Minuten sind zu wenig, 48 Minuten zu viel. Man hat das Gefühl, sie suchen einen Grund, uns rauszukicken.

Jochens Liste unbequemer Pflichten als Kind bzw. Jugendlicher. Davon mir unbekannt:
– Bedankungsbriefe für Geburtstag und Weihnachten schreiben (Ich bekam keine Geschenke von außerhalb)
– beim Erntedankfest nach dem Gottesdienst mit den anderen Gemeindekindern singend durch die Altersheime ziehen und Fruchtkörbe verteilen (Ich ging nicht in die Kirche.)
– Geburtstagsbriefe an die Paten schreiben (Ich hatte keine Paten.)
Mir bekannte Pflichten:
– sich eine Erfindung für die "Messe der Meister von Morgen" ausdenken. Dabei griff ich oft auf den Trick zurück, die Erfindungen meiner Klassenkameraden aus dem Vorjahr zu kopieren, was erstens an sich schon peinlich war, zweitens dann immer schon nicht mehr altersgemäß, drittens obendrein noch völlig verunglückt
– am Klamottenaussortiertag stundenlang zu enge Pullover an- und ausziehen. Bei mir waren es eher Hosen. Da ich aber das älteste Kind war und wir nur selten Klamotten geschenkt bekamen, dürften Jochen und meine Schwester mehr gelitten haben. Aber wie jeder Hetero-Mann quäle ich mich noch heute in den Umkleidekabinen der Kaufhäuser.

Marcel wirft Albertine und Andrée vor, Frauen von "schlechtem Genre" zu sein. Unklar.
M.P.: "Es liegt übrigens im Charakter der Liebe, dass sie uns gleichzeitig misstrauischer und leichtgläubiger macht, uns dazu bringt, leichter als jede andere die Geliebte zu beargwöhnen, ihren Beteuerungen aber auch desto bereitwilliger Glauben zu schenken." Wie kann man denn mit gezücktem Messer in die Liebe gehen und sich dann wundern, dass sie scheitert?
Briefe der Albertine aus der Technikperspektive. Heute höbe man SMS auf oder löschte sie eben. Ein Brief trug noch den Geruch der Verfasserin.
Es gibt noch genau einen Menschen, dem ich manchmal Briefe schreibe. Aber auch diese Periode neigt sich ihrem Ende. Er hat mir verraten, dass er schon jahrelang auch mit Freunden per E-Mail kommuniziert. Schade. Die Briefe waren immer so schön dekoriert.
Angeblich verlorene Praxis: "Sich in einer dunklen Ecke des großen Tanzsaals auf einem Sofa genausowenig genieren, als sei man zu Hause in seinem Bett." Zumindest im RAW pflegen im Jahr 2006 von Zeit zu Zeit einige Besucher nach der Show hinterm Vorhang zu kopulieren, und sei es oral. Aber womöglich wäre das ja etwas, wofür sie sich zu Hause im Bett genieren würden.

*

Mi, 1.11.06

Es ist kalt, als ich aufwache. Zwinge mich zu ein paar Crunches, obwohl ich inzwischen weiß, dass die auch nicht viel helfen. Es regnet, ich pendle verpeilt durch die Wohnung. Auch das Aufstehen ist nicht so, wie es sein sollte.
Bei Kaisers Brötchen und beim Vietnamesen Blumen. Als ich ihn bitte, mir bei der Auswahl des Straußes zu helfen, nimmt er einfach von jeder gerade da stehenden Blume eine. Ich bleibe höflich und hoffe, dass das Ergebnis trotzdem gut aussehen wird. Besser als "akzeptabel" wird es nicht. Gerade gut genug, um es nicht ablehnen zu können.
Anruf von der WBM, die Schäden an der Wohnung seien zu groß, um die Wohnung weiterzuvermieten. Schade, ich hätte K. gern geholfen.
D. will seit Wochen für mich Texte ins Englische übersetzen, aber Prüfungen und familiäre Verpflichtungen halten ihn davon ab.
Peinliche Nachricht nach verkaufter Stones-CD: "ich kann diese CD so nicht akzeptieren. Das ist keine russ. Lizenz-CD; das ist eine billige russ. Kopie auf eine Aldi CD-RW. Ich würde eine neue, echte CD akzeptieren, oder machen sie mir ein alternativ-Angebot." Ich hatte schon so ein Gefühl…
Entschuldigungs-Mail vom Ballhaus, die mich weniger wegen des Inhalts als wegen des Auftauchens des Wortes desdo erheitert.
Udo Tiffert zieht in die Oberlausitz, die Heimat meiner Eltern.
Impro-Show zu zweit, in der wir das auf dem Festival Gesehene auf unsere Art verarbeiten – ein Liebesdrama und eine Impro-Show mit Puppen. Unsere Adaptionen gefallen mir sogar wesentlich besser. Allerdings lässt das Zeitgefühl nach. Als wir nach der ersten Hälfte die Pause statt des Schlusses ankündigen, schauen die Zuschauer uns ungläubig an. In der Garderobe sehen wir: Wir haben bereits 80 Minuten gespielt.

Jochen klagt über verlorene Straßenlaternen, deren Entfernung er persönlich nimmt.
J.S.: "Ich habe mal vorsichtig in der Branche angefragt, ob Interesse bestände, diesen Proust-Kommentar eines Tages zu drucken. Nein, hieß es, höchstens, wenn ich alles über Proust weglasse." Voland & Quist haben ja ehrenwerterweise alles über Proust dringelassen. Heißt das, sie gehören nicht zur Branche?

Beschreibung von Marcels Äußerem aus den Worten einer Dienerin: "Ach, diese Stirn, die so rein aussieht und doch so viele Dinge verbirgt, diese Wangen, die so freundlich und frisch sind wie das Innere einer Mandel, die kleinen samtweichen Hände, die dabei doch Nägel haben wie Krallen… Sieh nur, Marie, jetzt trinkt er seine Milch mit einer Andacht, die mir Lust macht, ein Gebet zu sprechen." Die Technik, sich aus dem Munde anderer überschwänglich loben zu lassen, kennen wir von Prousts erfolgreichem und schreibfreudigem Zeitgenossen Karl May.
J.S.: "Außerdem erfahren wir, daß er es nicht leiden kann, wenn man ihm eine Serviette umbindet. Aber zu wissen, was jemand nicht leiden kann, sichert einem natürlich noch nicht unbedingt seine Sympathien, er weiß ja nicht, daß man es unterläßt und ihm ganz bewußt keine Serviette umbindet, wenn man ihm begegnet, es ist eine dieser heimlichen Aufmerksamkeiten, die immer unentdeckt bleiben werden. "Was für ein angenehmer Mensch, er hat mir keine Serviette umgebunden." So redet man ja nicht." Genau. Ich habe auch nie das Busch-Zitat verstanden: "Das Gute – dieser Satz steht fest – ist stets das Böse, was man läßt." Nein, das Gute ist mehr. Richtig müsste der Satz heißen: "Das Gute – dieser Satz ist gut – ist stets das Gute, das man tut."

*

Do, 2.11.06

Wieder eine Anfrage einer potentiellen Agentin für die Chaussee. Habe die Hoffnung schon fast aufgegeben. So erfolgreich die Chaussee in Berlin ist, so wenig schaffen wir es, uns außerhalb der Stadt vermarkten zu lassen.
Dass die WBM meine Wohnung nicht weitervermieten will, hat den Vorteil, dass ich nichts da drin machen muss, nur ein paar Dübellöcher stopfen und die Zwischendecke aus dem Flur entfernen.
M. sagt 15 Stunden vor Abreise seine Teilnahme an der Probenfahrt ab.
Der Software- und Computer-Experte regt sich im E-Mail-Verteiler mal wieder maßlos darüber auf, dass nicht alle auf seinem Wissensstand sind.
Die Heizung im Ambulatorium soll nun erst Mitte November eingebaut werden. Wir treten in warmen Anziehsachen auf. Micha und Volker üben den Text, mit dem sie den Deutschen Kollektiv-Rezitatorenwettstreit (Team-Meisterschaft des German Poetry Slam) gewinnen wollen.

Jochen grübelt angesichts eines alten, noch verpackten Murphy-Buchs, wem er dieses am 12.2.2000 schenken wollte. Das Einzige, was ich von jenem Tag noch weiß, ist, dass mir da Kohlen geliefert wurden. Am Ende des Winters. Zwei Tage, bevor ich zum ersten Mal nach Moskau fuhr. Unklar auch, ob man hier überhaupt von Wissen sprechen kann, ich habe das ja nur in meinem Kalender verzeichnet, die lebendige Erinnerung ist schon ausgelöscht.
"Die Kunst wird von den Künstlern diskreditiert." Selbständig lebensfähige Sentenz (J.S.), um nicht zu sagen: Aphorismus.

Nach dem Regen reißt Marcel ihr den Regenmantel vom Leib und "zog Albertine dicht an mich heran", aber angeblich nur, um ihr die Wiesen zu zeigen, was Jochen als perverse Form der Perversion ansieht. Aber wer weiß, was Marcel mit "Wiesen" meint.

*

Fr, 3.11.06

Wie so oft in letzter Zeit wache ich müde auf. Und wie so oft in letzter Zeit frage ich mich bei diesen kleinen Dingen, die einem nicht bekommen, ob sie vorübergehend sind, oder ob es etwas mit dem Altern zu tun hat oder ob das Alter nicht zumindest einen gewissen Einfluss darauf hat. Reiße mich zusammen, stehe auf, wasche mich, fahre mit dem Rad zum Wurzelwerk, während Steffi den Tisch deckt. Wir haben nicht viel Zeit, aber ist das Grund genug, um das Essen zu schlingen? Kopiere die Karte, die Kopien lasse ich später liegen.
Schöne Fahrt im Auto meiner Eltern nach W., wo wir im Sommerhaus von Gerd und Christa Wolf übers Wochenende proben dürfen. Diese Offenheit von Häusern hat mich immer fasziniert. Ich versuche es manchmal, aber natürlich langt meine olle Wohnung mit Außenklo in der Libauer 9 weder an Wolfs Sommerhaus noch an das von Frau Tietze, nicht einmal an die Wohnung der Juristen Will, die ihren spätpubertären Sohn in ihrer großen schönen Wohnung wilde Partys mit berüchtigten Punks feiern ließen.

Lebensfragen. Darunter "Wieso kann ich mir den Unterschied zwischen "succubus" und "incubus" nicht merken?" Ich kenne weder das Eine noch das Andere. der anders ausgedrückt: Unklares Inventar – Succubus und Incubus.

Wörter, die Jochen zuerst in "Tim und Struppi" gelesen hat: Saufaus, Fata Morgana, Yeti, Elmsfeuer, Boxeraufstand, Syndikat, Cahare-Gift, liquidieren, Guano, Tapir, Chloroform, Piranhas, Pipeline.
Ich habe wahrscheinlich Ende der 80er erstmals einen solchen Band in der Hand gehabt und konnte damit wenig anfangen, ich war wahrscheinlich zu alt. Die Digedags hingegen faszinieren mich immer noch. Bei deren Lektüre lernte ich mit fünf bis sechs Jahren: Manager (was ich Manaager aussprach), Alligatoren, Pittsburgs-Stahl, Glühwürmchen, Telegraf, dass man Münzen auf ihre Echtheit durch Beißen überprüft, Sägefische, dass Diebe schwarze Masken und karierte Ballonmützen tragen. Während ich die Mosaiks durchblättere, erfahre ich ein eigenartiges synästhetisches Erlebnis, als ich die Zeichnung der Geheimdienstleute mit den Feuerwerkskörpern sehe, steigt mir ein Geruch von DDR-Schokolade und ein komisches Kribbeln in den Körper, wie ich es nur bei krasser Aufregung habe. Und ich weiß, dass mich das früher jedes Mal beim Betrachten dieses Bildchens durchfuhr. Jahrzehntelang hat es geschlummert, jetzt wieder erwacht. Ist Jochen schuld? Oder Proust? Oder doch Hannes Hegen?
J.S.: "jetzt zeigt sich auch, daß die vermeintliche Puffmutter, die ihn am anderen Tag beim Küssen von Albertine im Zug gestört hatte, in Wirklichkeit die russische Fürstin Scherbatow war. Es hat also schon Tradition, im Outfit russischer Frauen etwas leicht nuttiges zu erkennen."

28.10.-30.10.06

Mozart-Vinyl-Platte Karajan/Anne-Sophie Mutter: Violinkonzerte KV 216, 219 – DDR-Lizenzpressung
Edelzartbitter-Schokoladensticks
100 Rezepte Italienische Küche
Polish Funk Vinylplatte von 2007
Pfirsich-Konfekt, Sauvine Rosé Pêche, Pfirsisch-Sirup, Pfirsich-Kaubonbons, Bonne-Maman Pfirsich Kompott, Pfirsich Edelessig, Les Confituriers de Hauté-Provence – Pfirsisch und Himbeere
Wolf Haas: "Das Wetter vor 15 Jahren"
Gutschein für was zum Spielen (??)
CD Ian Wright – Sister Funk
Gebastelte Filzblume
CD Ingeborg Bachmann – elektroman
Ursus Wehrli: Noch mehr Kunst aufräumen
4 Hachez Edelbitter Chocolade Sticks
DDR-Dame/Schach/Mühle-Reise-Set  aus dem Betrieb Elektrohaushaltgeräte Dresden im VE Kombinat Präcitronic, Betriebsteil Technoplast in Originalverpackung
Lindt Mousse Au Chocolat Feinherb (mit Laktose)
Volker Surmann: "Sex. Von Spaß war nie die Rede"
Englisch/Deutsch-Bildwörterbuch
CD Neuss Testament – Die Villon Show
Eine Tüte Walnüsse
CD Mavis Staples – We’ll Never Turn Back"
Süddeutsche-Magazin-Spezial zum Thema "Futtern wie bei Muttern"
Voelkel-Fitness-Cocktail
Rotwein Dehesa Gago 2006
Playmobil-Superheld mit austauschbaren Dan-Richter-Fotos
CD mit Beats zum Freestyle-Rappen
DVD "The Office" erste und zweite Staffel
Ferrero Rondnoir Pralinen (Edelbitter mit Laktose)
Johannes Huber/Elisa Gregor: "Die Männermacher. Die sensationelle Wirkung der Hormone auf Vitalität, Potenz und gutes Aussehen"
Haruki Murakami: "Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede"
1-Jahres-Abo der GEO
Selbstbemaltes Vierer-Geschirr-Set
CDs Bobo Stenson Trio Serenity I+II
CDs Bohren & Der Club of Gore – Dolores / Karen Dalton – In My Own Time
CD Otto Sander liest Fontane live
Karl Valentins gesammelte Werke (Kompilation von 1974 mit Fotos)
Gerhard Roth: "Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert"
Uwe Tellkamp: "Der Turm"
Pepé Caffé, Condimento Balsamico Bianco
Orode Génave Olivenöl Nativ Extra
Olivenöl-Seife
Zeitungshalter "Kölner Stadt-Anzeiger"
2 Karten für Helge Schneider "Wullewupp Kartoffelsupp"
CD The Fall – Live
Kinder-Überraschungs-Ei
David Edmonds + Joe Eidinow: "Rousseaus Hund. Zwei Philosophen, ein Streit und das Ende aller Vernunft"
DVDs Vera Birkenbihl "Von nix kommt nix" und "Viren des Geistes"
mp3-CDs Joachim Behrendt "Vom Hören"
Sangharakshita Mind-reactive & creative
Foto CD Foxy Freestyle
Gutschein Fotosession
Dan-Mappe bestehend aus 4 Bildcollagen, 3 Lesebühnen-Texte, 2 Gedichte (ungereimt), 2 Briefe, ein Zeitungsausschnitt, ein altes Foto
Live: fünf Lieder, 3 Impro-Szenen, 1 gereimte Impro-Rede, 1 Gratulation von mir selbst als 7jährigem
selbstgebautes Bilderbuch "6 Jahre Dan & Steffi" und Miniheft der Chronik "Dan & Steffi"
Reise nach Wustrow (Darß), Aufenthalt in Ferienwohnung für 2 Personen
Ein verlängerter Aufenthalt von Bau in unserer Wohnung.

Früher habe ich nicht verstanden oder es zumindest für eine jener typischen Erwachsenen-Heucheleien gehalten, wenn sie sagten, es läge ihnen am Besuch mehr als an den Geschenken. Heute freue ich mich über jeden entfernten Bekannten, der es zu meiner Feier schafft, mehr als über das wertvollste Geschenk.
Mit dem Alter verändert sich auch der Charakter der Geschenke. Bücher habe ich immer geschenkt bekommen und geschätzt. Neu sind Kosmetikartikel und Spirituelles. Seltener geworden im Vergleich zu sonst: Gutscheine, Rotweine, Hörbücher.

Gründe für Absagen:
Preis-Entgegennahme
Vor wenigen Tagen Kind bekommen
In Göttingen, Tansania, Hamburg, Mexiko oder Passau wohnend.
Gut bezahlter Auftritt
Vor langer Zeit gegebenes Versprechen an jemand anderen
Krankheit und/oder Alter
psychische Probleme

Unglaubliche Anreisen für nur wenige Stunden aus
Zürich
Amsterdam

*

Sa, 28.10.06

Betrachten wieder einmal die schöne Stadt Würzburg. Steffi hat für so etwas wie immer einen viel schärferen Blick als ich.
Am Abend sehen wir eine Impro-Show mit Puppen, die trotz des Überladenen doch inspirierend ist: Von der kleinen Fingerpuppe bis zur überlebensgroßen Menschenpuppe wird alles eingebaut.
Abschiedsparty des Festivals und so sehr ich mich auch bemühe, merke ich, dass ich für derartige Feste nicht geschaffen bin.

Jochens Beziehungsideal sei vom Paar auf der Verpackung von "Super-Hirn" geprägt, das ich nur als "Mini Master Mind" kannte.
"Wie ein Torero, der auf Knien das Publikum grüßt, den Stier im Nacken, sitzt der Mann da und sieht uns über die spiegelnde Tischfläche hinweg herausfordernd an, die Asiatin hinter sich. So stellte ich mir meine Ehe vor."
Wenn Jochen Johnstone gelesen hätte, könnte er diese Haltung als absoluten Hochstatus einordnen. Der Hochstatus, der nicht einmal den Blick halten muss, der nicht nur die Kehle, sondern sogar den Nacken freihalten kann.

J.S.: "Daß einen beim reinen Lesen anstrengende Beschreibungen vom Verlangen nach "Spielen" ablenken würde, darf man bezweifeln. Jemand hat ja einmal behauptet, geistige Arbeit mache lüstern, und ein aufgeschlagenes Buch sehe aus, wie ein Hintern, woran ich seitdem immer denken muß, auch wenn ich nie darauf gekommen wäre." Dieses Bild pflanzt sich natürlich auch beim Leser von Jochens Blog fort, vor allem, wenn es im Buch abgedruckt ist. Vermutlich war das auch der einzige Grund, den Proustblog binden zu lassen.
Marcel wird auf Albertine und Andrées gemeinsames Tanzen erst eifersüchtig, als Doktor Cottard ihn darauf hinweist, dass "die Empfindung bei Frauen vor allem durch die Brüste geht. Sie sehen ja, wie vollkommen beide sich mit ihren berühren."

*

So, 29.10.06

Frühes Aufstehen. In der Dusche dauert es ca. 30 Sekunden zwischen Wärmeeinstellen und der Auswirkung. Pendle also erst mal zwei Minuten zwischen eiskalt und brühheiß.
Noch ein Frühstück in dieser Jugendherberge. Natürlich das jugendherbergsübliche Sonntags-Weißbrot. Setze mich neben Sänger des Gospelchors, die hier auch nächtigen. Nach dem Austausch einiger Grundinformationen schwillt das Gespräch bald ab. So intensiv interessiert man sich dann doch nicht für die Liebhaberei des anderen.
Ulrike, die Mitfahrerin, wartet in der Bäckerei auf uns. Sie sagt, dass sie Referendarin ist und weiß, dass der Name Dan aus dem Hebräischen kommt. Aufgrund dieser Informationen tippe ich auf Religionslehrerin. 100 Punkte für den Kandidaten.
Diesmal noch lauter als die Hinfahrt. Der vergrößerte Auspuff des Polo lässt es ohnehin schon ordentlich brummen, nun sind wir durch zusätzliche Fahrerin und Cello extra beschwert. Will man Musik hören, muss man sie richtig aufdrehen. Trübes Wetter. Zwei kurze Pausen.
Zuhause müssen wir uns versichern, dass unsere Meckereien nicht persönlich gemeint sind, sondern aus unserer Erschöpfung geboren wurden.
Anfrage zu meiner Ebay-Auktion aus Holland. Bei Auslandsbietern immer Vorsicht angesagt. Die verstehen oft die Beschreibung nicht, wollen Sonderkonditionen für den Versand oder auf französisch kommunizieren. Oder ihr Deutsch liest sich wie Französisch.
Drei Bö-Spieler sagen die Probe ab. Das ist die Haltung zum Team.
Treffen mit einem PR-Menschen der XY-Werke, der von mir ein Coaching des Teams in Gesprächsführung wünscht. Im verqualmten "Sonntag im August" kann ich ihn mit meinem Konzept überzeugen.
Helfe Ch. und M. beim Workshop aus. Gratis.
Ich gehe heim, wärme mich kurz auf, dann ins Via Nova, Spiegel-Lektüre, taz. Gutes Essen.
Zurück an den PC. Müdes Internet-Surfen, bis mir fast die Augen zufallen, und ich denke, dass das nicht die Art ist, wie ich meine Tage beenden sollte.

Unklarheit der Datierung in Jochens Blog. Der Weblog zeigt keinen Eintrag an, im Buch wird der Montagseintrag als der Sonntagseintrag ausgegeben. Das zerstört ja alles. Soll man da noch weiterlesen, wenn der Autor einen so betrügt?
Lob des Mittagsschlafs: "Leider gilt der Mittagsschlaf in Deutschland immer noch als Müßiggängerprivileg oder Zeichen von Senilität, dabei teilt er den Tag in zwei gleichwertige Hälften, in denen man sich doppelt so intensiv für die Gemeinschaft aufopfern kann. Für mich ist Schlafen Arbeit, man kann auch kein Rennpferd dauernd gleich stark belasten, also warum dann mein Gehirn? Regeneration ist ein wichtiger Bestandteil des Trainings, das weiß jeder Ausdauersportler." … aber auch jeder Ballsportler, jeder Musiker, schließlich auch jeder gute Autor.

J.S:: "Man träumt von der sehr unterschiedlichen Konstellation, dass ein Autor vom Rang Prousts mit einer gleichrangigen weiblichen [??] Autorin zusammenlebt und am Ende ihres Lebens zwei ebenso umfangreihe und einander ebenbürtige Romanzyklen vorliegen, in denen nichts die gleiche Deutung erfährt." Im Weblog formulierte er noch: "Man träumt von der sehr unwahrscheinlichen Konstellation, daß ein Autor vom Rang Prousts mit einer gleichrangigen weiblichen Autorin zusammentrifft, und am Ende ihres Lebens zwei gleich umfangreiche Recherchen vorliegen, die beide recht haben."
So oder so erinnert das an "Meine Tage mit Pierre" / "Meine Nächte mit Jacqueline", was mir sowohl Ralf Petry als auch meine Mutter empfahlen. Ich hab die Filme bis heute nicht gesehen, vielleicht weil es französische Liebesfilme sind, und mit französischen Liebesfilmen kann ich noch weniger anfangen als mit tschechischen Märchenfilmen.

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Mo, 30.10.06

Kuriose Vorgänge bei Ebay:
1. Ebay löscht mein Angebot einer Elvis-CD automatisch, weil Aufforderungen zu Western Union Zahlungen nicht statthaft seien. Dabei ist es nur ein Titel von Elvis, der "Western Union" heißt.
2. Ein Ebay-Spammer schickt mir Werbe-Post für seinen Schuh-Versand. Offensichtlich weil ich die Elvis-Platte "Blue Suede Shoes" verkaufe.
3. Ersteigere das Begleitheft zum Film "Peppermint-Frieden" von Marianne Rosenbaum, den ich so geliebt habe und der immer noch zu meinen Favoriten gehört. Als DVD gibt es ihn nicht, und die Regisseurin ist gestorben.
Wir beantragen Alice DSL (ein Fehler, wie sich 10 Monate später herausstellt).

Jochen Gastredakteur beim Salbader, wo er mit den teils ausgesprochenen, teils unausgesprochenen Regeln kämpft, die ja eigentlich diese mühsame Arbeit erleichtern. "Prousts Text ist ja lang, es wird hier und da aufgewacht, es geht ganz entschieden ums Schreiben, es kommen viele peinliche Prominente vor, der Autor denkt mit Sicherheit, die Welt wäre besser, wenn alle Menschen wären, wie er (wie könnte man andernfalls auch weiterleben?), allerdings wird die Bahn mit Wohlwollen betrachtet, der Text ist kein Märchen, der Held wird voraussichtlich nicht Vater werden und Katzen kamen bisher erfreulich wenig vor. Wenn man ihn überreden könnte, alles auf 3-4000 Zeichen zu kürzen, hätte er vielleicht eine Chance."

J.S:/M.P: >>Und wenn der Zufall dem "Anbranden unserer Wünsche" so ein beliebiges Objekt bereitgestellt hat, verwirrt einen zudem, "daß die Sprache, die wir ihr gegenüber verwendet haben, nicht eigens für sie erschaffen ist, sondern uns schon für andere gedient hat und wieder dienen wird." … Man kann sich natürlich immer in Frauen aus dem Ausland t verlieben, dann muß man sich wenigstens sprachlich nicht wiederholen. Oder man lernt mit seiner Geliebten eine ausgestorbene Sprache, die man dann ausschließlich zu zweit spricht, nur um die ärgerlichen Klischees und Tautologien der Liebessprache  zu vermeiden."<< Als ginge es nicht gerade darum in der Liebe: Einmaligkeit durch Tautologie herzustellen. Aber der Blumenstrauß oder der Satz "Ich liebe dich" unterstreichen ja nur die nonverbalen Kommunikationen, die Ausdruck und Botschaft der Liebe sind, bzw. versichern deren Liebes-Gehalt. Ich muss nicht unbedingt den Satz "Ich liebe dich" hinzufügen, aber unter Umständen verleiht er den Liebesakten eine gewisse Eindeutigkeit:
– dem Händehalten
– dem Reparieren des Fahrrads
– dem zusammengestellten Mix-Tape
– dem gemeinsamen Rummelbesuch
– dem Lob des geschmackvoll zubereiteten Essens

25.10.-27.10.06

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Mi, 25.10.06

Anfrage einer Filiale der Bausparkasse Schwäbisch Hall für eine Impro-Show mit der BÖ. Ob die Spieler nicht auch ein Fuchskostüm anziehen könnten, das wäre doch witzig. Bin ich zu preußisch oder zu unschwul, um diese Art von Humor verstehen zu können? Trotz meiner Liebe zur Schauspielerei sind „witzige Kostüme“ oder gar Mottopartys gar nicht meine Sache.
Die BfA will Dokumente, damit ich Rente bekomme. Eigentlich keine üble Sache, aber instinktiv hält man solche Schreiben für eine Zumutung. Da ich nicht zu irgendwelchen Behörden laufen will, um mir die Echtheit der Kopien zu bestätigen, packe ich eine ganze Menge Originale mit rein: SV-Ausweis, Wehrdienstausweis.
Abends Show mit den Unexpected Productions. Zwei nette Langformen – ein Harold, ein Thread. Allein die Anwesenheit lockerer, cooler Amis macht einen locker und cool. Randy Dixon bräuchte kein Warm Up, sagen seine Kollegen-Schüler-Jünger. Was wir im Improtheater oft vergessen – es geht ja auch um das Warm Up im ursprünglichen Sinne – Stimme, Körper.
Mail: Sie können doch keine Heizung ins Ambulatorium einbauen. Die technischen Details werden mitgeliefert. Schön, da mach ich schnell noch ne Schornsteinfegerausbildung mit Zusatzqualifikation Maurer, dann dürfte das ruckzuck gehen.

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Eine Liste von ca. 40 Gegenständen, die in Jochens Haushalt nicht einwandfrei funktionieren. Davon zum Zeitpunkt der Lektüre bei mir ebenfalls defekt:
– Im CD-Player schleifen die CDs.
– Der Reißverschluss der Winterjacke ist seit zwei Jahren kaputt.
Wozu brauche ich eigentlich noch den CD-Player, wo ich sowieso 95% meiner Musik als mp3 höre? Ein Zugeständnis an eine alte Technologie. Irgendwann werden unsere Enkel sich die CD-Player-Ungetüme anschauen so wie wir die gigantischen Radios, auf denen die Namen von Städten zu lesen waren, die man von nur anderen Radios kannte, wie Hilversum.

Die Salons stehen zueinander in Konkurrenz. Wie stark mag der Neid tatsächlich sein? J.S.: „Salons haben ihre Biografie.“ So wie die Lesebühnen?
M.P.: „So findet sich jede Epoche in neuen Frauen, in einer neuen Gruppe von Frauen personifiziert, die, aufs engste mit den letztaufgetauchten Gegenständen der Neugier verknüpft, in ihren Toiletten einzig und gerade in diesem Augenblick wie eine unbekannte Gattung erscheinen, die aus der jüngsten Weltkatastrophe hervorgegangen ist.“

Do, 26.10.06

Eine junge Übersetzerin macht mir ein gutes Angebot für die Übersetzung meines Impro-Blogs. Leider immer noch zu teuer.
Manchmal bekommt man Anfragen, ohne dass klar wird, auf welches meiner Tätigkeitsfelder sie sich beziehen, z.B. Anrufe: „Hallo, muss ich bei Ihnen reservieren?“, und ich frage mich, ob sie Bö, Dunkeltheater, Chaussee, Kantinenlesen oder einen meiner Kurse meinen. Eine seltsame Mail trifft diesmal ein: Eine Veronique Hübner spricht mich als Seminarleiter an und ich versuche herauszufinden, was sie von mir will: Mich als Seminarleiter buchen? Einen Kurs? Ein Coaching? Entertainment? Erst am Schluss lässt sie die Katze aus dem Sack: Ich soll ihr Kneipentouren abkaufen.
Der Literatur- und Comedy-Veranstalter R. versucht, sich bei den Lesebühnenautoren dadurch beliebt zu machen, dass er ihnen ihre Gage nicht zahlt.
Einen äußerst gut besuchten Abend bei der Chaussee der Enthusiasten verderben wir uns, indem wir vorher streiten, was dem Publikum natürlich nicht verborgen bleibt.

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Gastbeitrag von Kathrin Passig, die sich angesichts der Aufgabe, Jochen Schmidt zu sein, „mutlos und überfordert“ fühlt.
Der gesamte Artikel dann aber eher ein Beitrag zum Thema Prokrastination, der eher in das Oeuvre Robert Naumanns als in das Schmidts passt.
Immerhin, so deutet sie an, werden wir bei ihr mit weniger Fehlern der Groß- und Kleinschreibung zu rechnen haben.

Wie soll man bei der Lektüre eines Buches mit Namen umgehen, von denen man nicht weiß, wie sie ausgesprochen werden? Gibt man ihnen einen eigenen Klang, riskierend, er könnte falsch sein?
Angesichts Marcels Großmutter treten „die Frauenangelegenheiten jetzt erst einmal in den Hintergrund“ (K.P.) Ist das nicht eine etwas sexistische Aussage, impliziert doch Passig mit dieser Aussage, die Großmutter sei keine Frau.

Fr, 27.10.06

Lange Autofahrt nach Würzburg. Wir geben uns die größte Mühe, den damit verbundenen Stress nicht aneinander auszulassen. Ich bin kein guter Navigator, aber Steffi verlässt sich auf mich. In Würzburg reißen dann doch die Nerven.
Der Abend aber belohnt uns mit einer sehr schönen Impro-Show. Da keiner der Bö-Leute mitfahren konnte (bis auf Topi, der aber in die Organisation eingebunden war), spielen wir mit Robert Munzinger meine neue Langform „4.000 Hubschrauber“. Wobei ich eigentlich ziemlich sicher bin, dass es dieses Format in irgendeiner Weise schon geben muss. Bin auch nicht scharf auf Copyright wie andere Leute in der Szene. Mit großem Abstand gewinnen wir den „Goldenen Pudel“ für die beste Langform.

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„Jochens Liste lässiger Gesten enthält einen groben, überhaupt nicht entschuldbaren Fehler: ‚Der Special Agent, der mit beiden Händen den Revolver haltend, eine Seitwärtsrolle aus der Deckung heraus macht, und auf der anderen Seite des Flurs an die Wand gekauert, achtlos das leere Magazin wegwirft.‘ Ein Revolver hat kein Magazin, das man wegwerfen könnte.

Dies wollte ich schreiben, bevor ich nun erfuhr, dass es tatsächlich Schnellladerevolver gibt, deren Magazin man mit lässiger Geste in die Ecke befördern kann. Was geschieht eigentlich mit all den in die Ecke geworfenen Magazinen, wenn der Kampf vorbei ist? Müssen sich dann die Putzfrauen drum kümmern? Oder die Witwen der Erschossenen?

Erinnerungen an Marcels Großmutter. Gierig, etwas aus einem letzten Foto herauszulesen, das sie von sich machen ließ, als es zu Ende ging, verliert es sein Konturen. Das Starren macht uns blind.… Weiterlesen

20.-24.10.06

Ich lebe nun schon fast die Hälfte meines Lebens in der BRD, aber bestimmte Phänomene der westdeutschen Gesellschaft werde ich wohl nie verstehen. Die Nachricht beginnt so:
Der Verein "Arbeitsgemeinschaft Wasserkraftwerke Baden-Württemberg" macht normalerweise nicht durch Skandale auf sich aufmerksam. Präsident und Hobbyangler Manfred Lüttke, 73 Jahre alt, CDU-Mitglied, kümmert sich etwa um Einspeisevergütungen für Ökostrom.
Schon diese Sätze werfen einen Haufen Fragen auf: Wieso ist ein 73-jähriger Mann Präsident der Wasserwerke? Wieso CDU? Wie sieht das aus, wenn sich Herr Lütke um Vergütungen "kümmert"? Ich muss unwillkürlich an Monopoly denken. Die Wasserwerke waren immer eine billige Investition. Man brauchte nicht erst in Häuser und Hotels zu investieren, sondern sie warfen gleich immer unverdientes Geld ab. Manfred Andreotti?
Er lese die Junge Freiheit und greift bei seiner Beurteilung des von den Nazis ermordeten Theologen Bonhoeffer auf die Schriften von Gerhard Frey zurück. Er habe ja nicht wissen können, dass diese "nicht mehr ganz zeitgemäß" seien. Wann bitteschön, waren die denn zeitgemäß? Zu einer Zeit als Lüttke zehn Jahre alt war?

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20.10.06

Es ist geschafft, denke ich. Und gleichzeitig blicke ich mit ein wenig Sorge auf die vielen Dinge, die ich bis zum Jahresende noch erledigen will:
– Umzug und die damit verbundenen Dinge: Wohnung ausmisten, Kram verkaufen, neue Wohnung renovieren und einrichten
– Rentenfrage klären
– Silvesterfeier organisieren
– Würzburg-Festival
– Free Play endlich absolvieren oder es sein lassen
Keine schöne Haltung, wenn man die Dinge im Erledigen-Modus betrachtet.
Wie an fast jedem Morgen hier nehme ich das Frühstück auf meinem Zimmer ein und besorge mir lediglich das heiße Wasser aus der Küche. Im Speiseraum wieder die Teilnehmer des Christen-Seminars. Das ist doch wirklich eine merkwürdige Religion, die mir im Laufe der Zeit immer unverständlicher wird. Die Aufforderung zur Barmherzigkeit ein schönes Element, aber das ganze Drumherum kann doch eigentlich keiner verstehen. "Gott hat seinen Sohn für uns geopfert." Was ist das für eine seltsame Logik? Wem wird dieser Sohn geopfert? Das Ganze doch offenbar nur ein Trick, dem qualvollen Ende des Predigers, den sie für den Messias hielten, einen Sinn zu geben. Und warum hat Gott "seinen" Sohn geopfert, wenn er doch im Sinne der Dreifaltigkeitslehre der Sohn selber ist? Warum trägt diese Religion so grimmige Züge? Warum müssen sie – Höhepunkt der Perversion zu dem Bild eines auf ein Foltergerät gespannten Menschen beten? Wer hat das Bekreuzigen erfunden? Was ist das für ein perverser Gedanke, zu erklären, in diesem Foltergerät läge Seelenheil? Was ist das für eine Perversion, sich an dem qualvollen Tod des Gottessohns zu freuen? Wobei die Christen es ja so genau auch nicht wissen, ob sie sich nun freuen sollen oder trauern. Freuen über die Auferstehung heißt dann auch freuen über den Tod, über den qualvollen Tod, über den Verrat des Judas, über das Urteil des Pilatus usw. Dazu das ganze Schuldgefasel. Die Annahme, ein Mensch werde schuldig geboren, muss Millionen das Leben verbittert haben.
K fährt mich eilig zum Flughafen. Unterdrücke jede Bemerkung über etwaiges Zuspätkommen, denn wegen des Staus könnte sie nicht schneller, sondern höchstens nervöser fahren. Wir verabschieden uns dann auch herzlich und kurz, wie ich es am liebsten mag. Einer der größten Temperamentsunterschiede zwischen mir und Steffi, die Abschiede am liebsten auf Stunden ausdehnt. Während das für mich wie ein unentschiedener Händedruck ist – geht man nun oder bleibt man – eine Unentschiedenheit. Ewiges In-der-Tür-Stehen oder Warten an der Straßenecke, Austausch von nebensächlichen Informationen, nur um das eigentliche Gehen noch einmal herauszuzögern.
Passagierunfreundliche Logisitik in Prag. Man astet eine halbe Stunde lang durch den Flughafen, 15 Minuten Security, während die Boarding-Leute einen hetzen.
Fühle mich in Propellermaschinen unwohler und bin da vermutlich nicht der Einzige. Sie wirken so mechanisch, die Technik nachvollziehbar-gefährlicher. Das Brummen des Flugzeugs so laut, dass es schwer ist, sich die Reise angenehm zu denken. Gebe mir aber die größte Mühe und genieße den Blick auf die Landschaften.
Es ist ein Running Gag des Fliegens: Alle drängeln sich, aus dem Flugzeug zu kommen, wenn noch nicht einmal die Sicherheitsgurtzeichen aus sind, warten dann im Gang und dann noch mal bei Passkontrolle und vor allem beim Gepäcklaufband. Wer also als erster den Terminal verlassen kann, liegt vor allem am Zufall des Gepäckverfrachtens und ist kaum beeinflussbar.
Treffen der Enthusiasten im bayrischen Restaurant Weihenstephan. Volker – der Einzige von uns, der bayrische Küche nicht mag – hat dann auch prompt die schimmlige Erdbeere bekommen. Sie bieten ihm als Ausgleich einen Obstler an. "Kann ich stattdessen einen Kaffee haben?" – "Nein." Armer Volker. Stephan wird Vater. Falls es ein Junge wird, will Stephan ihn Jan nennen. [Kommentar 2008: Er dürfte nun froh sein, sein, dass es Mädchen geworden ist.]

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Die Parallelen sind erstaunlich! Am selben Tag wie ich richtet Jochen einen Blick nach vorn, was er noch schaffen will. Allerdings nicht bis Ende des Jahres, sondern in den nächsten zwei Wochen:
– Pjöngjang übersetzen
– Salbader-Geschichten lesen
– Exposé über DDR-Buch schreiben
– zwei Texte pro Woche für die Chaussee
– Szenario für Mawil-Comic
– Körperfunktionen redigieren
– für Nachruftext recherchieren
– Stück fürs DT und die gesamte Theaterwelt schreiben.

Nicht nur die Deutschen werden "holzschnittartig" (J.S.) porträtiert, auch das Lachen des russischen Großfürsten gleicht "einem rhythmischen Grollen, so stark, dass eine ganze Armee es hätte hören können." (M.P.) Gelernt ist gelernt. Vielleicht ist das der übliche Umgang russischer Großfürsten untereinander.

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Sa, 21.10.06

In Anlehnung an die Finanzierung der Staatsoper möge der Bund jede dritte Lesebühne "unter seine Fittiche" nehmen, schreibt die taz. Seltsames Ansinnen.

 

Jochen plädiert für "Praktikantin" bei der Chaussee, die nicht nur unser Internet-Gästebuch von Spam-Einträgen säubern könnte, sondern auch unser Leben aufpeppen.

Swann muss als Jude und Dreyfuß-Anhänger die Gesellschaft verlassen.

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So, 22.10.06

Nach fünf Stunden Verwaltungsarbeit unternehme ich einen Spaziergang auf dem Gelände des RAW. Angenehm-heitere Atmosphäre und das schöne Oktoberwetter machen mich fröhlich. Im Ambulatorium ein Zirkus-Workshop für Kinder – Clowns, das übliche Kinderbemalen, Akrobatik usw. In der Lagerhalle Goa-Party, der bleiche und alkoholisierte A. stolpert heraus. Hier und da die üblich-verdächtigen abhängenden Alkoholiker, aber so langsam glaube ich, dass aus dem RAW in vielleicht 5-10 Jahren doch mal so etwas wie die UFA-Fabrik des Friedrichshain werden könnte. Es fehlt natürlich eine charismatische Gestalt wie Juppie, der die Dinge anpackt. Aber es gibt viele, die Gutes im Kleinen tun, und so das Erscheinen des RAW prägen.

Jochen findet eine Kaffeedose mit Rechnungen aus den Jahren 2000/2001, die eine eigene Geschichte verlorener Zeit erzählen. Darunter einen Kassenzettel aus der Buchhandlung Warschauer Straße vom 25.2.00, 13.47 Uhr, was darauf deutet, dass er nach der Chaussee bei mir übernachtete. Ein Blick ins Archiv verrät, dass wir am Vorabend in folgender Besetzung lasen: Jochen Schmidt, Robert Naumann, Andreas Gläser, Dan Richter, Kurt Krömer, Michael Stauffer, Stephan Steckling. Jochen mit drei Texten und einmal "Gedichte, die wir nicht verstehen".

Swann inzwischen todkrank. Saint-Loup preist die Freuden des Bordells. Und Marcel?

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Mo, 23.10.06

Rufe bei der Ärztin an, die mich vor ein paar Wochen "durchgecheckt" hat. Nur bei Blutfett bin ich im oberen Normalbereich, was nichts schlimmes heißen muss, man müsse das bei einer etwaigen neuen Untersuchung mal aufsplitten in gute und schlechte Fette. Und warum nicht gleich? Ein eigens Textgenre: Ärzteauskünfte.
Wladimir kündigt an, Berliner Bürgermeister werden zu wollen. [Kommentar 2008: Hat nach Obamas Wahlsieg natürlich noch mal einen speziellen Touch. Aber von welcher Partei will er sich aufstellen lassen? FDP?]

Jochens deprimierender Aufenthalt in der Wohnung einer Witwe wegen der Nachrufreihe vom Tagesspiegel, für die zu schreiben ich damals abgelehnt habe. Der Tote – ein vergessener Journalist. J.S.:"Man muss rechtzeitig sterben, damit diejenigen, die die Nachricht interessiert, es noch erleben." Deprimierend für Jochens Journalisten-Ich.
Jetzt, im Oktober 2008 ist auch noch Studs Terkel gestorben, einer der wenigen Journalisten, den ich beneide, und zwar nicht nur um den Job, sondern um die Fähigkeit, sich vollen Herzens und mit der größten Offenheit anderen Menschen zu nähern.

Swann berichtet Marcel detailliert über seine Unterredung mit dem Prinzen, obwohl er "bei jenem Grad der Ermüdung angelangt [war], in dem der Körper des Kranken nur noch eine Retorte ist, in der man chemische Reaktionen beobachten kann."

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Di, 24.10.06

Überraschender und erfreulicher Besuch von P., der sich allerdings in Gesprächen immer weniger konzentrieren kann, selten bei der Sache bleibt, assoziativ mäandernde Monologe führt, als wäre man als Gesprächspartner egal.
Anfrage für Weihnachtsauftritt von Bausparkassenfiliale. Übernehme die Organisation. Wieder mal. Als ob das meine Herzensangelegenheiten wären!

J.S.: "Nachmittags im Puppentheater, wo ‚Die drei Schweinchen‘ gegeben werden. Der Erzähler hebt an: "Wir werden heute das Märchen von den drei Schweinchen und dem Wolf hören". Daraufhin fängt ein Kind an zu heulen und muß rausgetragen werden." Bei der Chaussee irritiert es mich immer wieder, wenn Zuschauer genau dann aufs Klo gehen, wenn ich meinen Text ankündige. Man tendiert dazu, es persönlich zu nehmen, dabei ist die kurze Pause zwischen zwei Texten genau der richtige Moment. Und wenn sie bei meinen Kollegen aufstehen, finde ich’s ja auch nicht schlimm.

J.S.: "Den Herzog freut, dass sein Bruder Charlus so nett mit seiner Geliebten, Madame de Surgis, geplaudert hat." Ich dachte, der ist schwul?
J.S.: "Endlich verlassen wir mit Herzog, Herzogin und Marcel diese öde Soiree, nur noch die Treppe gilt es hinabzusteigen und dann schnell in den Wagen, man muß ja zum Glück nicht erst die Mäntel aus dem Jackenhaufen im Flur vorkramen und sich durch die Schlange der vor dem Klo wartenden Betrunkenen zur Haustür drängeln."
J.S.: "Jede Errungenschaft der Technik kleidet unser Leid auch in ein neues Gewand: auf einen Brief wartet man nur zu den Zeiten der Brieflieferung, auf einen Anruf kann man den ganzen Tag über warten, mit einem Handy sogar an jedem Ort der Welt. Die Voraussetzungen für unglücklich Verliebte, sich zu quälen, werden immer besser."

16.10.-19.10.2006

Gleich mehrere verpflichtungsreiche Tage nacheinander, die mich an der angenehmen Lektüre- und Chronistenpflicht hindern: Donnerstag Chaussee, Freitag Lesung beim ORF in Wien, Samstag Rückflug und Lesung Alte Kantine, danach in Jochens Geburtstag reinfeiern, Sonntag Improtheater unterrichten.

Mo, 16.10.06

L. wurde trotz Grippe verpflichtet zu dolmetschen. Warum müssen Workaholics ihre krankmachende Arbeitssucht immer noch auf andere übertragen?Aufmunterungs-Mail von Steffi, die im Alter von vier oder fünf Jahren den Reporter Mützenknall erfand, der immer einen Schlüpfer auf dem Kopf trägt und alles um sich herum kommentiert.T. gibt Feedback von Zuschauerin aus Nürnberg, die die Bö für die beste Improgruppe aus Berlin hält.Fragebogenfrage: „Was war bisher Ihre maximale Haarlänge?“

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Jochens Wohlbefinden getrübt durch eine sich ankündigende Krankheit, die Stapel unaufgeräumter Papiere und einer Reihe anderer Misslichkeiten, aber „die schlimmsten Sachen, die einem am meisten zusetzen, kann man hier gar nicht berichten, weil sie entweder unappetitlich sind oder zu privat.“

Welche Last das Geschlecht einer adligen Familie bedeutet, kann man wohl nur ermessen, wenn man hört, „dass der Großvater des Königs von Schweden noch in Pau seinen Kohl gebaut hat, als wir schon neun Jahrhunderte in ganz Europa ganz obenan gewesen sind.““Man gruselt sich fast, wenn man denkt, daß diese Kreise, die man nur aus den Todesanzeigen der FAZ kennt, ja nicht ausgestorben sind, sondern ihre selbstgerechten Seilschaften immer noch pflegen.“

Ende des zweiten Bands

Sodom und Gomorra

Di, 17.10.06

Kälteeinbruch. 7 Grad mittags und in den öffentlichen und städtischen Gebäuden wird nicht geheizt. Auch nicht am Institut. Wie gut, dass ich hierher umgezogen bin: Das Gästehaus der Evangelen betreibt eine eigene Heizungsanlage.Nach dem Mittagessen ein Abstecher zum Buchmarkt, wo ich mir die mp3-Gesamtausgaben von Depeche Mode, Stones, Aquarium, Bob Marley besorge – dann wäre das auch mal erledigt – und dann kaum mehr ukrainisches Geld in der Tasche habe. Tatsächlich passiere ich keinen Umtauschladen auf meinem Weg, mit denen die Stadt doch sonst zugepflastert erscheint.Am Nachmittag mit dem Taxi zum Institut. Ich erkläre den Studenten das Prinzip des Theatersports. Skepsis bei denen, die müde sind.

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Nun wird die ganze schwule Episode von Charlus nachgereicht, inklusive deutlicher Anspielungen und offenbar ohne das Kind beim Namen zu nennen.

Mi, 18.10.06

9 Uhr Pressekonferenz im Bayrischen Haus zum Impro-Projekt. Junge Journalisten (bei uns würde man sagen: Praktikanten) bauen ihren Kram auf. Eine davon mit extrem langen Fingernägeln, extrem kurzem Rock und Schal. Alles macht ihr zu schaffen. Ob sich Männer solche Mode-Sachen ausdenken, damit die Frauen hilflos wirken, so dass man ihnen helfen kann. Wenn man einen kurzen Rock trägt, kann man sich eben nicht normal hinsetzen. Das wäre die verschwörungstheoretische Erklärung. Alternativ: Frauen kaufen solche Sachen aus Bequemlichkeit – man muss ihnen helfen, sie können sich ausruhen. K. beginnt die Ansprache. Auch ich soll eine Rede halten, fasse mich aber mit 1,5 Minuten sehr kurz und bitte um Fragen. Dass jemand mit Humor antwortet, ist ihnen etwas fremd. K‘. meint später, es sei eine gute Pressekonferenz gewesen, da alle so lange geblieben sind. Ich sage, dass die Talentierten unter diesen Studenten eine Gruppe aufbauen könnten. Die Frage eines der Journalisten, welche organisatorischen Voraussetzungen denn notwendig seien, um Impro zu betreiben, scheint typisch: Erstmal die äußeren Probleme abchecken und auf Organisation von außen vertrauen. Daraufhin die K., die Studenten seien zu infantil. Ich erwidere, sie seien infantil, solange man sie wie Kinder behandelt.Beide K.s extrem hektische Typen. Wenn das Telefon während des Essens klingelt, müssen sie rangehen. Und auch: Sobald sie eine Idee haben, muss diese umgesetzt werden, und sei das beim Essen. In seinem Verhalten: er läuft beim Losgehen noch dreimal rein und raus, erkenne ich mich selbst wieder, wie ich vor einem Jahr noch war.Nach der Show im Institut – alle sind glücklich – gehe ich zum deutschen Stammtisch. Auf dem Weg dorthin werde ich hier das erste Mal von einer Prostituierten angesprochen, die aber als solche kaum erkennbar ist, da ja hier ein für unsere Begriffe nuttiges Outfit die Standardkleidung für junge Frauen ist. Sie fragt mich zuerst nach der Uhrzeit, um dann zur Sache zu kommen: Haben Sie einen Moment Zeit? Nein, ich bin mit Freunden verabredet. „Vielleicht kann ich mitkommen und wir haben eine gute Zeit und guten Sex?“ Gibt es eigentlich Nuttenbedarfsläden oder müssen die sich alle bei Beate Uhse eindecken?Der Stammtisch ein Ventil für die hiesigen Deutschen – mal ein bisschen über die Odessiten ablästern. So seltsam es auch erscheint, überall scheint man das zu brauchen: Die Seltsamkeit der Einheimischen mal unter Deutschen ungestraft thematisieren zu dürfen, was man ja manchmal nicht einmal mit der Ehefrau kann, wenn sie denn eine Einheimische ist. Auch wenn meine Schwierigkeiten hier nicht gering sind, übe ich mich in Positivität.

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J.S.: „Vieles, was man heute nicht mehr beachtet, hat man doch in der Kindheit fast als Wunder empfunden.“ Eine Liste von an die Hundert Wundern, fast jedes eine kleine Erinnerung wachrufend. Beispielsweise das Blasrohr. Ich besaß eines mit Munitionsrevolver, eigentlich die perfekte Waffe, wäre sie nicht so furchtbar ostig gewesen, dass die Mechanik nach dem ersten Benutzen kaputt ging. Eine Weile benutzte ich es noch weiter, aber das Zielen auf die Zielscheibe war auf Dauer langweilig, und so benutzte ich es hinfort als Knüppel.

Ausführliche Details zu psycho-sozialen der von Freud „invertiert“ genannten Liebe. Wie man sich wohl gesehen haben muss, wenn das eigene Empfinden als abnorm gegolten hat? Ob das nicht selbst zu Störungen führte, die dann die Abnormität sozusagen von selbst bestätigten?

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Do, 19.10.06

Mail von A., U. hätte Bar-Mitarbeiter beleidigt. Sie droht mit Kündigung. Natürlich, wie sich später herausstellt, eine Nichtigkeit. Eine Bemerkung, die als Frage gemeint war, wurde vom Mitarbeiter als „Problem“ empfunden, die Chefin interpretiert es als Beleidigung. Schlechter Umgang im Team, ungenügende Kommunikation und manchmal böser Wille und Eitelkeit.Auftritt im „Goldenen Saal“ des Literaturmuseums. Ohne Eintritt. K. scheint geradezu überrascht über meine Überraschung, dass es nichts kostet. Die Gruppe müsste selbst auftreten, müsste Geld dafür verlangen, müsste sich die Lehrer selber kommen lassen. Die ökonomische Seite ist Teil des künstlerischen Engagements. Guter Auftritt, pressetechnisches Brimborium. Drei TV-Kameras, Zeitungs-Journalisten. Eine Fernsehfrau mit riesigem Mund und ordentlichen Zahnlücken, raumgreifenden Bewegungen und lauter Stimme, interviewt mich in hastigem und gebrochenem Deutsch zwischen dem Warm Up vor der Show: „Saggen Sie, das Wichtigstää fjur experimentalische Improvisationtheater iiist????“ Sie rotiert mit dem Unterarm, um mich zum Sprechen zu animieren. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Nicht gerade ein guter Ausweis für einen Improlehrer. „Die wichtigste Mättodde iiissst???“Abendessen mit allen Teilnehmern im Bayrischen Haus. Auf einmal ist die Gruppe wie ausgewechselt. Sie sind ruhig, hören zu. Dann fangen sie an zu singen, und es ist ein bisschen wie früher auf der Krim. Allerdings singen sie Volkslieder, keine Rocksongs oder Grebenschtschikow. Keinerlei Rebellion.Im Laufe des Abends verabschiede ich mich ungefähr drei Mal von jedem. Einige bringen mich noch auf einem kleinen Umweg nach Hause. Ich bin erstaunt, dass es für Ljoscha, den Begabtesten von allen, der erste Kurs überhaupt ist. Als ich sage, sie sollen ihre Angelegenheit selbst in die Hand nehmen, stoße ich auf wieder auf eine Mauer der Skepsis.

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Das Drucker-Rechner-Problem, das Jochen vor Kurzem noch einen halben Tag und eine halbe Seite raubte, lässt sich nun einfach lösen, indem man das Gerät vor dem Anschalten anschließt.Es irritiert und belastet Jochen, nach dem Weg gefragt zu werden. Bei mir ist es fast ein Reflex, wenn ich nur jemanden mit Karte und suchendem Blick auf der Straße erspähe, ihm helfen zu wollen, egal wie eilig ich es habe.

Auf der Soiree der Prinzessin von Guermantes. J.S.:“…Châtellerault (allein der unbequem zu tippende Name dürfte verhindern, daß er jemals zum Helden eines meiner Romane werden wird).“ Vielleicht ein Grund, warum in amerikanischen Romanen überdurchschnittlich viele Figuren Jasper heißen. Der Name lässt sich gut tippen.

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12.10.-15.10.06

Wahrscheinlich könnte man Prousts Komik (nach dem, was man durch Schmidt herauspickt) der von Moliere zuordnend. Thema hier: Der unsichere Bourgeois im Milieu der überlebten Aristokratie, welche hin und hergeworfen ist von der Freiheit, die ihr das Geld verleiht, und den Konventionen, an die sie sich zu halten gezwungen ist, um sich nicht selbst infragestellen zu müssen.

Do, 12.10.06

Diskussion unter den Enthusiasten über Textlängen. Ich halte mich raus. Solange Robert moderierend die Wellen glättet, muss man nichts befürchten. Das würden wohl nur wenige Außenstehende glauben: Robert, das Sozial-Talent.

In Erwartung, zur neuen Wohnung gefahren zu werden, habe ich den Rucksack gepackt. Aber wir „besichtigen“ sie nur. Die sei „prinzipiell“ frei, aber im Moment nicht. Und ich hatte mal gedacht, ich hätte dir Russen verstanden.WS in der Uni nur zu zehnt. Es ist entspannter. Ein Typ nur am Kichern, ich könnte ihn manchmal würgen. Aber das würde womöglich zu außenpolitischen Scherereien führen, wenn ich wegen Totschlag im Odessitischen Gefängnis einsäße.T., die es immer noch nicht verwunden hat, dass ich aus ihrer Wohnung ausziehe, dolmetscht nur noch zögerlich. Ich weiche aus auf ein Russisch/Englisch-Kauderwelsch. Funktioniert auch.Beginne Dick Francis‘ „Weinprobe“, ein Autor, den ich lediglich zu lesen begonnen habe, da von ihm Dutzende Bände im Regal von Christa Wolf stehen. Was für Krimis liest sie? Eine Katastrophe wie bei McEwans Liebeswahn bricht herein und ist der äußere Anlass für die weiteren Verwicklungen.

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J.S.: „Das schönste am Zeitunglesen ist der Moment, wenn man das Blatt wieder weglegt, einfach nur aus dem Fenster vom Café guckt und sich klar macht, wie gut es einem geht. Ich fand es immer unter meiner Würde, positiv zu denken, ich wollte meine Komplexitäten nicht zu etwas Überflüssigem degradiert sehen, aber es ist natürlich auch etwas dran, daß man sich darin üben kann, sein Glück zu erkennen.““Gestern hat Lou Reed im Radio gesagt, New York sei seine DNA, dann ist Berlin mein eingewachsener Zehnagel.““Es war eigenartig, in New York so etwas normales zu machen, wie Gemüsereste aus dem Ausguß zu pulen, während der Blick aus dem Fenster auf unwirklich schmale und sagenhaft schöne Hochhäuser fiel.“ Mag es jemandem mit Berlin auch so gehen?

Jochen fühlt sich zum ersten Mal mit Marcel verbunden, als dieser seinen Fruchtsaft nicht teilen will. Unverhohlener Egoismus – die Bonbongeschichte.

***

Fr, 13.10.06

Merkwürdigkeiten:

  • überall unregelmäßige Treppenstufen. Vielleicht ist „DIE TREPPE“ von Odessa eben deshalb so sensationell, weil sie die einzige mit regelmäßigen Stufen ist.

  • die ewige Flickschusterei. Kaum etwas wird dauerhaft instandgesetzt. Am schlimmsten ist es bei den Wohnhäusern: Die Wohnungen gehören den Mietern, die für diese manchmal viel Geld ausgeben. Die Fassaden, die Treppenhäuser, die Dächer zerfallen.

  • der Russen-Geruch. Bis heute weiß ich nicht, woher dieser seltsam beißende Russlandgeruch kommt. Kohl und Benzin?

  • Ein beständiges Nörgeln zwischen den Leuten, dem vor allem die Frauen nicht widerstehen können.

  • Handys werden unartig benutzt. Generell eine seltsame Form von Unaufmerksamkeit. Äußerlich oft formal bis steif, geht während der Rede des katholischen Kirche eine Stadträtin ans Handy. Bei meinem Unterricht in der Schauspielschule bekomme ich im Anschluss Blumen, aber während des Kurses rennen sie raus und telefonieren.

Mini-Impro-Kurs in der Schauspielschule. Wieder überraschend. Ein kleiner Klassenraum. Die Schüler hinter Bänken. Offenbar bekommen sie es von den Lehrern hier eingehämmert, was wohl auch der Grund für das permanente Schnatterbedürfnis ist. Anders geht es nicht, meint K., die Schülerinnen seien hier zu „unreif“.Ein Konzert der merkwürdigen Art. Eigentlich eine Art Vorsingen der Gesangsklasse. Eine mehr als übergewichtige Gesangslehrerin, die sich eng kleidet und grellrot schminkt. Das Vorsingen im schmuddligen Raum, wo auch wir trainieren. Im Vergleich zum Schmuddelzimmer sind die Sänger für unsere Begriffe völlig overdressed, heraussticht der der Star des Nachmittags – eine Sängerin, die inzwischen in Deutschland auch Fuß gefasst haben soll. Sie trägt nicht nur Abendkleid (es ist 15.30 Uhr, sondern weißen Pelz um die nackten Schultern, wie Opernstars zu Zeiten Prousts. Alles wirkt falsch, nur die Stimmen recht gut. Aber der Schmerz der immerleidenden Sänger unecht. Die Professorin souffliert ihren Schülern während des Vortrags. Der Star legt auf falsch-anmutige Art den Kopf in die Schräglage, permanent kitsch-lächelnd, wie lange hat sie das einstudiert, andererseits ist diese Art von Ruhe und Freundlichkeit des Geistes eher selten hier und mein Verhältnis dazu dann wieder eher ambivalent. Hinterher natürlich wieder, wie Matze schon ankündigte, „Ansprachen und Blumen“.Nach der Mittagspause gebe ich zwei unbezahlte Zusatzstunden im Institut. Erstaunlich, dass dann doch zehn Schüler erscheinen. Das Gebrabbel hat also nichts damit zu tun, dass es ihnen keinen Spaß machen würde.Russisch-orthodoxer Feiertag. Mit L. an einer Kirche vorbei. Sie traut sich nicht hinein, weil sie kein Kopftuch habe. Eine Kapuze tut es dann auch. Ein fetter Priester in Königskostüm und Krone erteilt den Gläubigen einzeln den Segen, Kleinkinder werden zu ihm hochgehoben, damit er sich nicht zu bücken braucht. Ein beeindruckender Chor – oder macht das vor allem die Akustik? Schwarzgekleidete Frauen mit ihren kreisförmigen Kopftuchversteifungen, wie man es nur aus russischen Filmen kennt.K. fährt mich zum Gästehaus der Evangelischen Kirche. Vorher Verabschiedung bei T., die sich noch mal dafür entschuldigt, dass sie kein bequemeres Bett habe. Dabei habe ich das „unbequeme Bett“ nur erwähnt, weil ich ihr die Peinlichkeit über den allgegenwärtigen Dreck zu sprechen, ersparen wollte. Im Gästehaus könnte ich vor Freude über den Komfort weinen.Wirklich zu Tränen rührt mich dann der langsame Satz der Klaviersonate C-Dur (Sonata facile) von Mozart. Ich kann mich gar nicht satt hören. [Spiele dann im Jahr 2007 Tag für Tag mindestens zehn Minuten dieses Stück und lerne auf diese Weise Klavier.]

*

Jochen im tschechischen Zug nach Dresden: „Eigenartigerweise sofort viel heimatlicher als der ICE.“ Wird es eine Generation geben, die nostalgische Gefühle gegenüber dem ICE hegen wird? Auch wenn sie müffeln, sind mir die alten Züge, die man in Polen und auf einigen Regionalstrecken der Deutschen Bahn antrifft auch ans Herz gewachsen. Und ich glaube nicht, dass es nur mit Nostalgie zu erklären ist. Die ICEs pfeifen aufs Feng Shui, sie haben keine organischen Formen. Aber ja, die Geschwindigkeit, könnte man einwenden. Ich brauche nach einer Reise mit dem ICE immer genauso viel Zeit zur Erholung. ICE fahren ist Arbeit.

Entnervende Verwandtschaftsverhältnisse, in die Marcel eingeführt wird und die er uns ungefiltert kosten lässt: „Tatsächlich erklärte Monsieur de Guermantes, daß die Urgroßmutter von Monsieur d’Ornessan die Schwester von Marie de Castille-Montjeu gewesen sei, der Gemahlin Timoleons von Lothringen, und infolgedessen eine Tante Orianes.“ Aus diesem Grunde habe ich als Jugendlicher immer bei Familien-Dramen abgeschaltet. Weder das von Jochen so geliebte „Haus am Eaton Place“ noch „Die Waltons“ konnten mich begeistern, am allerwenigsten Adelsgeschichten. Aber natürlich lohnt es sich „Hundert Jahre Einsamkeit“ und „Des Mauren letzter Seufzer“ gehören zu meinen Lieblingsbüchern. Und wie viele haben aufgegeben, die Bibel zu lesen, nur weil man sich vor allem im ersten Buch Mose durch Genealogien kämpfen „muss“.

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Sa, 14.10.06

Wache um 7 Uhr vergnügt auf, obwohl es einigermaßen kühl ist im Zimmer.Duschen eine Freude trotz des scheiße anmontierten Duschkopfhalters. Dass man im Ausland immer wieder lernt, deutschen Handwerksanstand zu schätzen.Gehe mit meinem Frühstückstablett in den Speiseraum, wo die Köchin gerade kommt und mir freundlich die Option gibt, das heiße Wasser zu benutzen, wenn ich nicht das Frühstück des Gemeindehauses will. Aber an den Tisch der anderen soll ich mich nicht setzen. Manchmal sind sie auf seltsame Weise kompliziert.Francis, der gerade mal so spannend ist, dass er mich weiter am Lesen hält. Hält nicht ganz, was Wolf verspricht.K., die mich täglich rasant zum Institut chauffiert, muss ihren kleinen Daihatsu alle drei Minuten scharf abbremsen, da die Schlaglöcher so konstruiert sind, dass ihr Wagen gut als Füllmasse dienen könnte. Hätte Odessa eine deutsche Stadtverwaltung, würden die Schlaglöcher binnen eines Monats gestopft und binnen eines weiteren Monats gäbe es an ihrer Stelle sauber konstruierte Verkehrsberuhigungs-Huppel, damit rasante Daihatsus alle drei Minuten scharf abbremsen.Workshop. Bei einigen ist der Knoten geplatzt, andere dermaßen grob, dass man keinen Anknüpfungspunkt hat. Sie gehen physisch aufeinander los und zerdreschen den Notenständer. Es verschlägt mir die Sprache. A. ist die Dickste und Gröbste von allen. K. begründet das damit, dass sie auf dem Dorf großgeworden sei. Wäre eine solche Begründung bei uns noch denkbar? Mit dem Singen kriege ich sie dann alle. Da sind sie zuhause, das können sie. Auf einmal funktionieren die Szenen, das Timing, die Geschichten, der Ernst und der Witz. Abholen bei dem, was sie können und lieben.Erschöpft lege ich mich hin. Zu müde, um etwas zu schreiben. Außerdem muss ich den Workshop verarbeiten. Ich schließe die Augen und höre innerlich die nörgelnden russischen Stimmen weiter. Auf diese Weise mache ich das kein zweites Mal. Es müssten schon Schauspieler oder Schauspielschüler sein!Am Abend wieder Mozarts zweiter Satz der Sonate Nr. 16 – berückende Einfachheit und Schönheit.Meine Verdauung ist hier wesentlich besser. Woran mag es liegen? Wie auch früher auf der Krim oder in Ferienlagern haben eklige Klos immer eine direkte Auswirkung auf meinen Darm – ich muss dann tagelang nicht.

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Jochen im Kino. „jedes mal diese Single-Demütigung an der Kasse: ‚Einmal Parkett.‘ ‚Dreimal?‘ ‚Einmal!‘ Wie kann man statt „einmal“ „dreimal“ verstehen? Ich denke, die machen das mit Absicht, aber ich kann es ihnen auch nicht übel nehmen, es gibt eben Berufe, die sich nur durch das Ausleben sadistischer Triebe ertragen lassen.“Wie kann man dieses Nicht-Verstehen nicht verstehen? Jochen ist der einzige Mensch, den ich kenne, der eine am Telefon durchgegebene Telefonnummer nicht sicherheitshalber wiederholt.Marcel lässt sich vom schwulen Charlus demütigen. Er setzt sich dann ausgerechnet auf den Louis-Quatorze-Sessel. Welche Peinlichkeit, die Jochen allerdings nicht in die Liste „Verlorene Praxis“ aufnimmt.

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So, 15.10.06

Bevor ich gegen 8 Uhr aufstehe, lese ich die letzten 20 Seiten des Francis-Krimi zu Ende, die ich gestern Abend nicht mehr geschafft habe. Etwas konstruiert finde ich es dann doch: Bei jedem neu eingeführten Erzähl-Element weiß man schon, dass es früher oder später wieder eingebaut wird. Das neu geschenkte Taschenmesser ist dann auch prompt zur Stelle, als man Fesseln durchschneiden muss. Alles hängt mit allem zusammen. Zu viele Zufälle außerdem, die dann gerade zur rechten Zeit kommen.Durch den Park nähere ich mich langsam dem Meer. Ich merke, dass ich viel zu kalt angezogen bin. Habe mich von der Sonne betrügen lassen. Hoffe auf ein Café, in dem ich etwas warmes zu essen und zu trinken bekomme.Spaziere zum Strand. Das erste Mal seit 1994 wieder am Schwarzen Meer. Ich denke zurück, der Abschied damals war bitter, weil ich wusste, ich würde nicht noch einmal mit meinen Freunden auf die Krim fahren, die Zeit war vorbei. Im Grunde war die Reise mit H., E., K. und den Russen sowieso schon eine Reise zuviel gewesen. Ralf war schon gestorben, es war nicht mehr aufregend. Man sah den Verfall. War vorher das Betrunkensein eine verrückte Ausnahme, ein Über-die-Stränge-Schlagen, war es nun die traurige Regel. V. war über mehrere Tage nicht ansprechbar. Und nun bin ich ein paar Kilometer weiter westlich wieder am Schwarzen Meer, und meine Sehnsucht nach den alten Zeiten hält sich in Grenzen. Ebenso die Wiedersehensfreude. Kaputte Piers, alles schmuddelig. Trotzdem gut, am Meer zu sein. Ich setze mich in ein offenes Restaurant (drinnen darf man nicht sitzen) und esse Schaschlik. Der Preis anschließend utopisch, aber anscheinend wird das Fleisch nach Menge berechnet, gebe ihr trotzdem noch ein stattliches Trinkgeld, denn sie hat sich Mühe gegeben, und lasse so 100 Griwen dort.Treffen mit Frau Köhn und ich weiß nicht wem in einer protestantischen Kirche. Sie hat gerade ihre Probe beendet und bespricht letzte Details mit dem amerikanischen Dirigenten – ein Dreißiger als Protestant so streng ist, dass er – so Frau Köhn – nicht den katholischen Mozart spielen will. Stattdessen studieren sie Haydns „The Creation“ ein. An den hinteren Reihen wartet noch ein stämmiger Mittvierziger Wir wechseln einen kurzen Blick und wissen im Grunde, das wir einander gleich vorgestellt werden sollen, tun dann, als es geschieht, aber überrascht. Er wundert sich, dass die ukrainische Schrift so anders ist als die deutsche. Er scheint bei der Vorbereitung für seinen Aufenthalt in Odessa ein paar Lücken gelassen zu haben. Dadurch, dass er nicht nur einen schweren bayrischen Akzent hat, sondern auch noch gehörig stottert, bleiben einige seiner Fettnäpfchentritte unbemerkt. Dabei entbehrt seine Sprechweise nicht einer unbeabsichtigten Poesie, die an die lautmalerischen Experimente des Expressionismus erinnern. Als ich ihn frage, ob er geflogen sei oder mit dem Auto gefahren, meint er, dass er gehört hätte, eine Autofahrt sei zu anstrengend. „D-d-da fahren die Autos immer in solchen Kolonnollonnollonnen.“ Ich denke, diese Wortneuschöpfung drückt den Charakter einer Kolonne recht treffend aus. H. scheint mit der Regel, nach der man eine fremde Kultur zunächst bestaunt, bevor man sie kritisiert, nicht recht vertraut. Regelrecht belustigt ist er von der ukrainischen Deko-Folklore, besonders angetan haben es ihm die bunten Bommeln an den Stühlen und Lampenschirmen, und abermals glaube ich das Bommeln der Bommeln zu hören, sobald H. „Bommommommeln“ sagt. Wir sind in ein gutes ukrainisches Restaurant eingeladen. Zum Abschluss will ich mir einen Wodka nicht verkneifen und trete in das Fettnäppfchen, einen Stolitschnaja zu bestellen. Als ich zögere, den mir empfohlenen Wodka zu bestellen, bekomme ich 15 Gramm gratis zum Kosten, die mir ja schon genügen würden. Aber jetzt kann ich die 50 Gramm ja schlecht ablehnen. So machen sie einen betrunken, diese Schlawiner.

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Überlegungen des Langzeitstudenten Jochen Schmidt über die Wiedereinschreibung: „Ich bin bestimmt einer der letzten Studenten der HU mit einer fünfstelligen Immatrikulationsnummer. Wahrscheinlich hätten sie den Fachbereich ohne mich längst abgewickelt. Die Professoren leistet man sich nur noch, damit ich irgendwann doch noch mein Examen machen kann. Vielleicht werde ich sie, auf meinem Sterbebett, endlich zu mir rufen, damit sie mir ihre Fragen stellen können. Dann werde ich ihre Hand halten und wir werden gemeinsam schweigen. Ob ich bestanden habe oder nicht, das zu beurteilen, liegt doch gar nicht in unserem Ermessen.“Meine Matrikelnummer war noch vierstellig. Ich hielt mich mit 12 Semestern schon für einen Langzeitstudenten. Aber vielleicht sind sowohl das Beenden als auch das Nichtbeenden des Studiums Formen der Trägheit.

Charlus kritisiert Marcels Rasur, während sie durch sein wertvolles Palais spazieren. Die möglichen Prozeduren einer Einladung zur Prinzessin de Guermantes werden abgewogen. Diese Einladung trifft überraschenderweise nach acht Wochen ein, und schwupps sind wir mit Marcel noch mal bei Herzog und Herzogin.

10.10.-11.10.06

Eine hartes Wochenende liegt hinter mir: Donnerstagabend Chaussee der Enthusiasten, Freitagabend mit Bohni und Stephan beim Kantinenlesen Görlitz, Samstag 87. Geburtstag meiner Oma Ruth Dressler. Am Abend Kantinenlesen, am Sonntag Improtheater-Unterricht. Wie soll man da zum Bloggen kommen! Wieviel Disziplin kann man sich zumuten?Es ist übrigens seltsam, wenn man durch die teils mittelalterlich geprägte Stadt Görlitz latscht, und dann dort anhand der merkwürdigen Kulissen erfährt, dass Tarantino hier einen Kriegsfilm zu drehen beabsichtigt. Und ich hab schon den ersten Filmfehler entdeckt: Im Deutschland der 40er Jahre gab es mit Sicherheit nicht ein derart großes Angebot an Obst und Gemüse, und Rosenkohl wurde definitiv nicht in Kunststoffnetzen mit Plaste-Etikett angeboten. Mann, jetzt muss Quentin den ganzen Film neu drehen!

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Dienstag, 10.10.06

Nach etwas ruhigerer, aber nicht besonders komfortabler Nacht erwache ich gegen 8 Uhr. Notiere Ideen für den Workshop. Frühstück. Unten wird schon geraucht.Juan wartet mit dem Auto.Zu viele Teilnehmer. Ich versuche, den Workshop so anständig wie möglich zu leiten. Aber auf diese Weise werden wir nichts zustande bringen. Die meisten können sich nicht einmal ausprobieren.Von Mittag bis Nachmittag spiele ich mit verschiedenen Menschen hier Gespräch. Im X-Haus lässt mich G. durch die Sekretärin ins Büro rufen, statt selbst zu kommen. Auf sehr nette Art fängt er an, mir all die Sachen, die ich nun vom X-Haus schon weiß, noch einmal zu erzählen. Ich übe mich in Geduld und lächle. Über mich fragt er gar nichts. Ein Vortrag über die Geschichte der Deutschen in Odessa mit Begin bei den Ostgoten. Man hört, dass er diesen Vortrag schon tausendmal gehalten hat. Die ganze Prahlerei über die Entwicklung des X-Haus. Das ist es wohl, was Matze meinte, als er sagte, hier würden ständig Ansprachen gehalten.Am Abend fragt mich K., ob die Unterkunft OK sei. Ich denke, ein zweites Mal lasse ich die Gelegenheit nicht erstreichen und erwähne die Mängel in höflichen Worten. Das war ganz offenbar der falsche Zeitpunkt. K zuckt mit den Schultern und meint, das sei nun mal Odessa und hält mich von nun an wohl für einen anspruchsvollen Westler.Spaziere durch die Rischeljewskaja . Unglaubliche Hektik, die das Warten auf so vieles kontrastiert.

Der Laptopverkäufer ist ein Bewertungsdrängler: „warum bekomme ich keine bewertung von ihnen erbitte um Antwort oder eine Bewertung. „Meine Anregung zur rauchfreien Kantine ist Anlass zu politisch-ideologischer Diskussion. Es werden Opportunismus, Atomkrieg und Vergewaltigung als „Argumente“ in die Runde geworfen, dabei wollte ich nur die Befindlichkeiten abklopfen.

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Jochen beklagt sich, dass niemand von der Chaussee der Enthusiasten seinen Rat angenommen habe, sich die Ausstellung von Sophie Calle anzusehen („Mein Wort gilt nichts.“ Man hört den kleinen Jungen weinen: „Keiner spielt mit mir!“) Dabei hatte ich mir den Termin schon lange notiert, bevor er sie erwähnt hatte. Warum er aber glaubt, sein Wort als Opinion Leader gälte begründungslos, bleibt schleierhaft.Nach der Ausstellung: „Kurzzeitig hatte man draußen wieder diesen ‚Objekt-Blick‘, zum Beispiel an einem U-Bahn-Kiosk, aus dem ein dicker Lüftungsschlauch hing. Ein Künstler hätte es für Kunst halten können.“

Im Salon der Oriane, die ihren eigenen Edikten widerspricht und so „unaufhörlich die Ordnung der Werte bei den Personen ihres Kreises umstürzt.“

***

Mittwoch, 11.10.06

Was soll ich nur tun? Ich muss die Gruppe reduzieren, ohne negativ zu wirken. Vielleicht sollte ich tatsächlich hoffen, dass sich das Problem von allein löst. Ich kann ja keine Maßnahmen treffen, ohne rigide zu wirken. Außerdem nervt die Haltung derjenigen Studenten, die das Ganze eigentlich nicht richtig wollen. „Halbfreiwillig“, wie mir Natalia gestern beim Abendessen gestand – sie haben die Wahl zwischen Musikunterricht bei Nadeshda und Impro bei mir.Auf der Fahrt zum Institut verkündet N. gegenüber T. kühl, dass ich ausziehen will wegen des unbequemen Bettes. Typisches russisches Nörgeln hinterher. Anstatt die Sache klaglos und schnell hinter sich zu bringen, fängt T. auch noch an, mich zu belabern. Will sie wirklich, dass ich ihr den ganzen Scheiß aufzähle, der in ihrem Haus kaputt, verwahrlost und mistig ist?Entgegen aller Ankündigungen ist die Gruppe mindestens genauso voll wie am Vortag. Ich tue mein Bestes.Ausführliche Antwort von Matze, sein zentraler Satz „Zunächst denke ich, immer erst fragen: Was geht? Anstatt zu fragen, was in dem Rahmen nicht geht“, baut mich auf. N. nimmt mich mit auf den Gottesdienst der evangelisch-lutherischen Gemeinde, wo ihr Chor heute singt. Überall geistliche Würdenträger. Bin etwas irritiert. Schließlich stellt sich heraus, dass es die Weihe des neuen Bischofs ist. Eine lange Prozedur mit viel Brimborium. Die Russen singen die deutschen Lieder mit, ebenso Gebete und Glaubensbekenntnis, das ich mir auch mal merken wollte. Sollte mir keiner erzählen, dass das für Außenstehende nicht sektenhaft und fundamentalistisch wirkt.Bischof Günsche, allgemein beliebt, macht, obwohl er in Bayern war einen herb-norddeutschen Ausdruck. Man weiß sofort, dass die Frau mit der roten Brille und dem Kurzhaarschnitt zu ihm gehört. Wahrscheinlich liegt es an dem strengen, skeptischen Gesichtsausdruck. Predigt mit Action: Als er davon spricht, verbinden zu wollen, wo andere teilen, nimmt er die Hand des Übersetzers und die des Gesandten der griechisch-orthodoxen Kirche: Lacher und Applaus. Dabei wirkt es so einstudiert. Hinterher lange Grußansprachen, während derer ich nur noch auf Natalia warte, die im Gemeindehaus eingesperrt war, dann aber anscheinend einen Hinterausgang genommen hat.Nehme ein paar Happen zu mir und spaziere dann Richtung Hafen.DIE TREPPE enttäuscht, man hatte sich das immer viel imposanter vorgestellt, aber der dahinterliegende Industriehafen zerstört den Eindruck. Mir fallen auch wieder ein: Das in „12 Stühle“ erwähnte Erdbeben. Und bei einem Denkmal für Puschkin, dass der ja hier lebte. Entkoppeltes Wissen.

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Jochen „dienstlich“ im Deutschen Theater, oder auch „DT“, wie es von Kennern genannt wird und wurde. Ich war kein Kenner. DT- und BE-Wissen und -Klatsch, das nahm ich damals allerdings wahr, wurde von DDR-Intellektuellen gern zur Markierung der Trennlinie genutzt, hier die Insider, da die Doofen. Die Unterschiede noch feiner als Bourdieu sie beschrieb.

In Orianes Wortwahl „…der ganze provinzielle Ursprung eines Teils der Familie Guermantes, der, länger bodenständig, auch kühner, ungezähmter und herausfordernder geblieben war…“ Ein Adel, der „lieber mit seinen Bauern als mit Bürgern auf gleichem Fuße verkehrt.“Ähnlich gab es solche Typen auch beim oben erwähnten Intellektuellen-Adel der DDR. Die rauchten dann Karo.

*

Streit im Haus:

7.10.-9.10.06

Sa, 7.10.06

Anfrage von einem Wrestler, seine Truppe in Schauspiel, Lockerheit und Improvisation zu coachen. Ich sage zu.
Mich will eine gewisse Nervosität wegen des Odessa-Kurs nicht verlassen. Ich sehe immer mehr, dass mein Russisch-Vokabular bei weitem nicht ausreicht, um schnell und spontan die richtigen Anweisungen zu geben. Falls nun nicht genügend Leute englisch verstehen, werde ich die Hilfe der Dolmetscherin in Anspruch nehmen müssen und kann nur verzögert reagieren. Vielleicht ist es aber auch für mich ein Training, mich mehr zurückzuhalten.

*

J.S.: "Die Intensität von Kinobildern, immer eine Provokation für die Wirklichkeit, die daneben wirkt wie eine zwar durchaus ähnliche, aber ungleich weniger attraktive Schwester." Möglicherweise ist es dieser Film, den er den Enthusiasten so dringend empfiehlt: "sehr zu empfehlender film: "science of sleep", gibts keine ausreden.
Erstaunlich das Selbstbewusstsein als Opinion Leader, dessen Geschmacksurteil keiner Begründung bedarf als die, dass es eben von Jochen Schmidt stammt. Da werde ich wohl meine Reise nach Odessa verschieben müssen, denn die zählt ja als Ausrede auch nicht.

Marcel im Salon der Madame de Guermantes vertieft sich in die Sammlung der Bilder des Malers Elstir und vergisst die Gesellschaft, die eine Dreiviertelstunde mit dem Essen auf ihn wartet. Eine solche Höflichkeit sucht man im Schusterjungen vergebens. Aber wessen Höflichkeit ginge so weit, kaltes Eisbein zu essen? Im Salon gab es bestimmt nur Kuchen.

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So, 8.10.06

Schlage vor, das Kantinenlesen zur Nichtraucher-Veranstaltung zu machen.

*

J.S. "Die große Therapie ist ein Mythos. (…) Man muss an seiner Therapie arbeiten."

Marcel bemüht sich, die Details der aristokratischen Etikette zu verstehen.

J.S.: Es entbehrt "nicht einer gewissen Ironie, wenn ausgerechnet Proust verkündet, dass Verzicht die Qualität eines Buchs ausmacht, denn seit ungefähr vierhundert Seiten hat er bestimmt auf kein Detail mehr verzichtet."

Erstmals erkenne ich ein Objekt aus der Liste "Unklares Inventar", die Jochen bei der Lektüre führt: "Prinzessin Budrulbudur". Dies ist nur eine andere Schreibweise für "Prinzessin Badr el-Budur", nämlich die Prinzessin, in die sich Alâ ed-Dîn verliebt. Also genau jene Geschichte aus den "Tausendundein Nächten", die ich zugunsten dieses Lektüreblogs unterbrochen habe.

***

Mo, 9.10.06

Unruhige Nacht. Ich wache immer wieder zwischendurch auf und denke, es sei zu spät. Selbst als ich auf die Uhr schaue. Eine seltsam negative Aufgeregtheit. Selbstverständlich, als ich dann 5.30 Uhr, eine Stunde vorm Losgehen, aufstehe, bin ich völlig übermüdet. Versuche, mich zu konzentrieren. Die zeitlich Effizienz verlangt mal wieder Multitasking. Es ist unangenehm kühl. Ich frühstücke im Bademantel. Höre Radio Eins – "Der schöne Morgen" läuft also schon schon vor 6.00 Uhr. Mit dem Leben der beiden Moderatoren möchte ich auch nicht tauschen, obwohl ich sie beneide. Die ganze Show über denke ich, was ich anders machen würde. Ihre langweilig-ungebildete und selbstbezogene Art nervt.
Reflexhaft noch mal E-Mails. B. erbittet Fotos. Tue ihm den Gefallen. Den Rest einpacken. Ich stolpere von einer Kleinigkeit zur anderen, obwohl es gar nicht so viele Dinge sind. Wie jedes Mal. Es ist nicht gut, so früh aufzustehen, zu verreisen, zu fliegen.
In der Dunkelheit zum Bahnhof Warschauer. Es ist kalt. Mich schauert bei dem Gedanken an die feuchten Berufsverkehr-Menschen am Ostkreuz. Tatsächlich hat sich die Atmosphäre nicht geändert. Es riecht zum Teil noch so: dick aufgetragenes Parfum, das die unhygienischen Nächte übertünchen soll, jeder Zweite auf dem Bahnsteig raucht. Und auch für mich wäre das vor Jahren ein Rauchmoment gewesen. Ich spüre für einen Moment dem Reflex und der Erinnerung an diesen herb-aromatischen Vergiftungsgeschmack nach.
taz-Lektüre bis Beusselstraße. Bahn doch leerer als befürchtet. Sitzplatz für mich und den Rucksack. Die Journalistin Anna Politkowskaja in Moskau ermordet. Donath deutet es als Zeichen dafür, dass die Demokratie untergeht. Die Bevölkerung lethargisch, die politische Elite korrupt, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis der Mob übernimmt.
Check In, überbrücke das Boarding in einem bayrischen Imbiss mit Wasser und schlechtem Kaffee.
Bin der Einzige, dessen Laptop kontrolliert wird.
Rumpelige Maschine nach Prag. Schlechtes Sandwich, schlechter Nescafé. Und natürlich wie überall zu enge Sitze.
Lockere Kontrolle in Prag, schaue aus den Fenstern, tippe dieses Tagebuch und genieße den Sonnenschein.
Das Flugzeug nach Odessa überrascht mich mit Beinfreiheit. Das allein genügt schon, um alles in mildem Licht erscheinen zu lassen.
Neben mir wieder die zwei schwulen Laberköppe von vorhin, die sich nicht einig darüber waren, ob Odessa nicht doch in Moldawien liege. Einer ist Violinist und die Noten des Mozartschen Violinkonzerts KV 207 liegen auf dem Sitz. Ich spreche ihn an, er spielt sogar in Berlin.
Glücklicherweise verdränge ich es immer wieder – aber ich habe bei Start und Landung auch jedes Mal ein bisschen Absturzangst. Als es in der wackligen Maschine beim Anflug auf Prag anfängt zu ruckeln, beruhigt mich nur das Lächeln der anscheinend absichtlich sichtbar mit dem Gesicht zu den Passagieren sitzen müssenden, Stewardess.
Beim Anflug auf Odessa düsen wir durch malerische Wolkengebirge. Sehr schön anzusehen. Beim Aussteigen bleibe ich vor dem Flugzeug stehen und schaue mich um. Zum ersten Mal seit über zwölf Jahren auf ukrainischem Boden. In einem uralten Hänger, der von einer ebenso alten Knattermaschine gezogen wird, von der ein Deutscher kennerhaft und glaubwürdig behauptet, sie sei aus den 50er Jahren werden wir die 100 Meter zu ollen Flughafengebäude geschafft. Die altbekannten russischen Provisorien. Pseudo-Absperrungen, Tarnanzüge der Sicherheitsleute, das Gepäck wird seltsamerweise durchleuchtet und bei einigen dann auch durchsucht.
Ich latsche mit meinem Kram einfach durch. Die Halle hat eher etwas von einem Provinzbahnhof. An der Tür hinter der Zollabfertigung drängeln sich Familien, kundenerhoffende Taxifahrer, und Profi-Abholer, so wie meiner, der Juan heißt – ein kleiner Kubaner, Mädchen für alles am Bayrischen Haus. Wir unterhalten uns im wechselnden Spanisch-Russisch-Englisch-Deutsch-Kauderwelsch.
Sowjetische Straßen, sowjetische Fahrweise. Die ukrainischen Aufschriften überall müssen die Russen hier hinnehmen.
Er fährt mich zu Tanja, wir biegen in einen Hof auf einer der Hauptstraßen und es ist hier dermaßen zerfallen, wie ich es in den schlimmsten 80ern erwartet hätte – furchtbar verfallener Weg, jedes Teil ist nur notdürftig festgemacht, keinerlei Ambition, etwas zu ändern ist zu erkennen. Dasselbe setzt sich in der Wohnung fort. Ich wohne im Dachgeschoss, dass mit einer Art Leiter zu erreichen ist. Die Decke durchzogen von Nässeflecken, Pressspanverkleidungen, Kram der rumsteht. Wie würde sich mein Hang zur Verwahrlosung auswirken, wenn ich hier aufgewachsen wäre? Die Tür kann man nur schließen, wenn man das Kabel vom Fön dazwischenklemmt. Ich bekomme diese Wohnung, da M. sich gewünscht hatte, lieber privat zu wohnen.
Teetrinken mit T., Smalltalk. Sie wirkt in allem, was sie sagt, angepisst oder verbittert.

Sie und später auch Natalia im Bayrischen Haus betonen immer wieder, wie toll das im letzten Jahr mit M. gewesen sei. Ich nehme es fast als Drohung wahr: Wehe, wenn es diesmal nicht genau so abläuft.

*

Der falsche Film, die Lautsprecher rauschten, der Ton falsch justiert. Scheiterte daran das Kennenlernen?

Der Gegenclan der de Guermantes, die Courvoisiers, hätten nicht die "Feinheit des Gehörs", um Imitationen genießen zu können.

1.10.-6.10.06

Pressemeldungen zufolge ist der Verlauf von Marx‘ Kapital in den letzten Monaten stark angestiegen. Im Jahr 2006 wurden davon weniger Exemplare verkauft als vom Buch Chaussee der Enthusiasten. Bildung kann ja nie schaden, aber wer hier rasche Erkenntnis erwartet, ist schief gewickelt. Im Band I werden ja zunächst die Produktionsprozesse und die Mehrwerttheorie erklärt. Die ganze Frage des Finanzkapitals, des Bankensystems usw., also gerade das, worum es im Moment geht, wird im III. Band behandelt. Und hier ist es ausgerechnet der Abschnitt V, welcher vom über 70jährigen Friedrich Engels aus Marx‘ Skizzen, umständlichen Berechnungen usw. zusammengefriemelt werden musste. Angeblich hat Engels an diesem Abschnitt allein drei Jahre gesessen, da er aber im Winter wegen seiner Augenschwäche nicht daran arbeiten konnte, musste er jedes Jahr von vorn beginnen, die Krakeleien von Marx neu diktieren, die so entstandenen neuen Manuskriptseiten neu ordnen und dann feststellen, dass es besser sei, einfach selber alles von vorn zu beginnen. In seinem Alter keine leichte Aufgabe: "So arbeiten die Meynertschen Assoziationsfasern mit einer gewissen fatalen Bedächtigkeit." Und wenn wir schließlich beim entscheidenden Kapitel "Kredit und fiktives Kapital" angekommen sind, was müssen wir da als erstes lesen? "Die eingehende Analyse des Kreditwesens und der Instrumente, die es schafft (Kreditgeld usw.) liegt außerhalb unseres Planes." Pech gehabt. Dennoch tut die Lektüre mal wieder gut, auch wenn sie bei der Analyse der Geldfunktion hakt. Da empfiehlt sich schon eher Luhmanns "Wirtschaft der Gesellschaft", obgleich man auch hier den ideologischen Gips ein wenig abklopfen muss. Denn es ist natürlich nicht allein das politische System, das in der modernen Gesellschaft überfordert wird, auch dem Wirtschaftssystem wurde zu viel zugemutet: Wieviele Ökonomen braucht man um eine Glühlampe einzuschrauben? Keinen, der Markt wird’s schon richten.

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Mo, 1.10.06

Volker will einen Monitor geschenkt haben. Ich tippe auf Film-Arbeiten. Für diese Anfrage hätte man ihm vor 10 Jahren einen Vogel gezeigt.
Mein Neffe Nils, der heute Geburtstag hat, fürchtet sich immer noch vor mir. Er hat schon gesagt: „Dan nicht“, als die Rede davon war, dass ich kommen soll. Das Auto, das ich ihm dann schenke, versteckt er unter seinem Bett. Ein richtiger Charakter ist er geworden. Sehr auf Freude angelegt, manchmal auch ein wenig Angst. Echte Wutausbrüche habe ich noch gar nicht bei ihm gesehen. (Die sollten erst später kommen.) Er zählt an seinen Fingern bis neun, dann kommt die zwölf. Allerdings benutzt er die Finger willkürlich, eher rhythmisch. Vor seinem imaginären Feind "Schnapp" hat er noch Angst. Eduard kam auf die Idee, dass dieser nicht mehr durch Uta, sondern durch Nils selber weggeschickt werden solle. Schnapp machte sich rar, bis es vor kurzem noch einen Höhepunkt gab: Die komplette Schnapp-Familie Mama Schnapp, Papa Schnapp, Oma Schnapp tauchten auf. Und eine imaginäre Wespe!
Treffen mit D., den ich so lange nicht mehr gesehen habe. Glücklicherweise mehr als nur ein Update der letzten Jahre. Um Freundschaften zu pflegen braucht man gemeinsame freudige Erlebnisse.

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Wer muss sich wie im Treppenhaus verhalten? Wird Jochen von der Nachbarin eher zurechtgewiesen als die Parterrebewohner, weil diese aggressiver wirken? Würden ihn weniger Leute kennen, wenn er im Parterre wohnte und dann nur schnell in die Wohnung huschte? Meine Erfahrung sagt mir das Gegenteil. Je weiter unten man im Haus wohnt, umso mehr kennen einen die Leute. Ich kenne die privaten Details der jetzigen Parterrebewohner besser als die meiner Nachbarn, ich weiß, was sie beruflich machen, worüber sie sich ärgern, woraus sie Freude ziehen, wer von ihnen raucht und die Folgen ihrer unheilbaren Krankheiten.

Marcels Großmutter wird sterben. "Ich begriff, dass meine Mutter diesen [Gesichts-] Ausdruck seit Jahren für einen ungewissen Schicksalstag schon vollkommen fertig in sich trug." – Ist es das, was Marcel ständig enttäuscht? Die permanenten Authentizitätserwartungen, die niemand erfüllen kann, am wenigsten er selber?

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2.10.06

Noch ein Bekannter, der mich ohne zu fragen in seinen Newsletter-Verteiler aufgenommen hat. Wenn es ein Freund oder ein Feind wäre, könnte man ihn bitten, das zu unterlassen. So aber sähe es so aus, als interessiere man sich nicht für ihn.
Der neue Titel für die Dunkeltheater-Show wird vom Veranstalter ignoriert. Später werden sie uns vorwerfen, nichts vorgeschlagen zu haben.
Quälende Organisation der Weihnachtsfeier. Fußballspiele, Jobs, Familiäre Verpflichtungen machen es schwierig, aber dennoch sollte es "spontan" sein, nicht so verplant, sonst wäre es unnatürlich. Um einen Satz von weiter oben zu zitieren: "Die permanenten Authentizitätserwartungen, die niemand erfüllen kann, am wenigsten er selber"
Kündige meine Wohnung, in der ich nun mit kurzen Unterbrechungen seit November 1991 gewohnt habe – 15 Jahre!

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Romananfang J.S.: "Oft bestellte er im Restaurant dasselbe wie seine Freunde, nur um sicherzugehen, dass sie nichts Besseres bekamen als er."

Blutegelbehandlung der Großmutter. Diese ist ja nun ziemlich aus der Mode gekommen, zumal sie vor allem im 19. Jahrhundert übertrieben wurde. Dabei war sie gar nicht mal so unzweckmäßig, da sich in den vom Egel eingespritzten Wirkstoffen auch Entzündungshemmer befinden. Merke: Der Egel ist die Aspirin der Vormoderne.

Würde des Doktors beim Geldempfang. Er "trat in denkbar bester Form wieder ab, indem er schlicht das Kuvert mit dem Honorar einsteckte, das man ihm übergab. Es sah dabei so aus, als habe er es überhaupt nicht bemerkt, und wir selbst fragten uns einen Augenblick, ob wir es ihm denn wohl gegeben hätten, mit einer so taschenspielerhaften Geschicklichkeit ließ er es verschwinden"
Das erinnert doch zu sehr an Wilhelm Busch, als dass ich mir das Bild verkneifen könnte:

"Der Doktor, würdig wie er war
nimmt in Empfang sein Honorar."

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Di, 3.10.06
Alle zwei Wochen bekomme ich eine "witzig" formulierte E-Mail mit einer Text-Kostprobe und der Bitte, eingeladen zu werden. Noch unangenehmer sind "Agentinnen", die sich dann als die Freundin oder Schwester des Autoren entpuppen, die fordern, dass ihr Klient beim Kantinenlesen auftritt und auf eine freundliche Absage pampig reagieren.

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Eine Liste von 18 Dingen, die Jochen glücklich machen. Davon

  • fünf technische Errungenschaften

  • vier medizinische Gegebenheiten, Umstände oder Gegebenheiten

  • eine Personengruppe

  • vier biographische Umstände

  • ein Lebensmittel

  • ein Kunstwerk

Überraschend taucht Albertine wieder bei Marcel auf. Er wünscht sich, sie zu küssen, aber "nichts verhindert so erfolgreich wie intensives Wünschen, dass die Sachen, die man sagt, auch nur im entferntesten denen gleichen, die man denkt."
Das ist ja nun mal eine erstaunliche Erkenntnis für ein Gemüt wie Proust. Die Konsequenz, das zu angestrengte Wünschen fahrenzulassen, sieht er aber nicht. Sich zu öffnen für die Überraschung. Handeln statt Wünschen. Es scheint fast, als wolle er enttäuscht werden.

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Mi, 4.10.06

Vor fünf Jahren bot mir die Agentin M. an, mich zu vertreten. Skeptisch gab ich ihr meine Telefonnummer und Mail-Adresse. Seitdem bekomme ich ihre Werbemails für Künstler, zu denen ich nicht gehöre.
Werde kurz nach 9.00 Uhr vom Telefon geweckt. Ein Anruf aus der WBM, um einen Termin zur Abnahme der Wohnung auszumachen. Fertige sie im Bett ab. Was kann sie dafür. Als ich im Büro gearbeitet habe, waren Anrufe auch das erste, was ich erledigt habe.
Stehe nach kurzer Ruhe auf und jogge zum Bäcker in der Lehmbruchstraße. Die Brötchen sind so gut dort – ein Jammer, dass ich das erst jetzt, so kurz vor dem Wegzug entdecke.
Will mit X darüber diskutieren, wie schwierig es ist, in der Improvisation auf immernegative Figuren zu reagieren. X geht beleidigt, ohne zu antworten.
Zuhause noch ein Streit um Kleinigkeiten. Am Ende schlafen wir aber friedlich ein. Meine Tage sollten schöner sein.

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Eine Liste von sechzehn Dingen, die Jochen unangenehm sind. Davon
– sechzehn Unannehmlichkeit physischer Natur
Die Pankowerin schreibe, sie sei es möglicherweise nicht wert. (Da müssten eigentlich schon die Alarmglocken läuten.)

Marcels Gedanke, es fehle einem ein Organ zum Küssen, inspiriert Jochen zur Idee für ein Sachbuch: "Die Welt der Liebkosungen", mit allen in der Tierwelt vorkommenden Sabber-, Rüttel- und Stupsvarianten und den dazugehörigen Spezialorganen. Beim Menschen in Ermangelung einer Kussvorrichtung eben die Lippen.
Sie hatte "getan". Unklar, ob Marcel und Albertine nun Sex hatten oder nur einander geküsst. Vielleicht ergibt sich ja das eine aus dem anderen zwangsläufig und braucht von Proust gar nicht erst erwähnt zu werden, so wie ein amerikanisches Mädchen ganz selbstverständlich mit dem Jungen "zusammen" ist, wenn sie miteinander im Kino oder Eisessen waren.

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Do, 5.10.06

Der Japaner fragt nach den LPs. Ein weiterer Ebay-Käufer, der sich meine CDs billig gesichert hat, kommt, um sie persönlich abzuholen. Er begutachtet schamlos meine Wohnung und fragt, ob ich nicht noch andere Dinge zu verkaufen habe.
Volker kündigt eine lange Geschichte an, die "kein Brüller" sei, ist sie dann aber doch.
Preiserhöhung bei der Chaussee von drei auf vier Euro. Die Show dann sensationell gut. Keine Beschwerden über zu hohen Eintrittspreis, durchweg gute Texte, sehr witzige Ansagen, die Bö zu fünft plus Andrés fabelhaft, ein Ereignis. Im Verlauf der nächsten Monate verlieren wir ungefähr 5 % der Zuschauer. Ob das mit dem Eintrittspreis zu tun hat, wissen wir nicht. So viele Zuschauer wie an diesem Abend haben wir bis zum 3.1.2008 nicht mehr.

 

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J.S: "Ich war nach der Wende enttäuscht, als ich erfuhr, dass es bei der Stasi keine Aufzeichnungen über mich gab." Ich auch. Es gab nur ein Kärtchen über einen Vorgang mit der Referenz zu "E." Wahrscheinlich der E. aus der Parallelklasse, der noch zu EOS-Zeiten einen Ausreiseantrag gestellt hatte. Aber den kannte ich gar nicht richtig. Interessant hätte ich es aber auch gefunden, wenn ich als IM geführt worden wäre, den man heimlich abgeschöpft hat. Oder gab es so was nur in der Phantasie Gysis?
Jochen kennt die Autonummer des Familien-Trabis noch auswendig. Ich sogar von zweien: "IM 51-89" und "IW 96-44". Ich war der Einzige in der Familie, der bemerkte, dass die Summen der beiden zweistelligen Zahlen dieselbe ist 51+89=140 und 96+44=140. Zauberei! Ich kannte auch alle 44 Namen aus unserem Haus. Heute bekomme ich nur mit Mühe die der Bewohner vom Parterre zusammen.

Die drei Lieben – Albertine, Madame de Guermantes, Gilbertes – mit denen Marcel auf verschiedene Weise und gleichzeitig zu tun hat, scheinen ihn zu überfordern. Er vergleicht sie mit den Skizzen eines Malers, der auf dem Weg zum vollkommenen Werk ist. Als sei die Skizze "nur die Skizze", als sei sie, da sie einem anderen Werk dient, weniger wert.

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Fr, 6.10.06

Mail von B., die gern mit uns auftreten würde und dies in den folgenden Monaten immer wieder von sich behauptet, aber nie Zeit hat.
M. will ein Klassentreffen organisieren.
Die Aymara in den Anden deuten nach hinten, wenn sie die Zukunft bezeichnen wollen, da man sie ja nicht sehen kann.

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J.S.: "Nichts ist so langweilig, wie die Zeitung von heute. Dagegen ist die Zeitung von gestern ist eine berauschende Lektüre und Fernsehen von gestern eine verstörende Erfahrung."
Jochen hat seinen Fernseher eingemottet. "Das Fernsehen hat seinen besten Zuschauer verloren. Und ich glaube, es hat sich nie ganz davon erholt."

M.P.: "Die Ideen, die mich heimgesucht hatten, verflüchtigten sich jetzt rasch. Sie sind wie Göttinnen, die zuweilen geruhen, einem einsamen Sterblichen an der Biegung des Weges sichtbar zu erscheinen, sogar in seinem Zimmer, in das sie, während er schläft, im Türrahmen stehend, ihm ihre Verkündigung tragen. Doch sobald man zu zweit ist, verschwinden sie; Menschen, die stets in Gesellschaft leben, bekommen sie nie zu Gesicht."
Dazu J.S.: "Scheußliche Wahrheit, wie ein erbarmungsloser Urteilsspruch für jeden, der vorhatte, sich durch Schreiben auf die Menschen zuzubewegen." Die darauffolgenden Sätze des Blogs sind im Buch hinweglektoriert: "Aber Isolation muss ja auch nicht die einzige denkbare Methode sein. Vielleicht gibt es auch geselligere Arbeits- und Denkformen."
Warum?

25.9.-30.9.06

Nachdem ich beim Kantinenlesen das Publikum ermahnt hatte, in dieser infektiösen Zeit schön darauf zu achten, sich nicht mit den Händen in Nase und Augen zu wischen, was viel gefährlicher sei, als sich vor dem Essen die Ende nicht zu waschen, hat es mich nun selbst erwischt. Ich alter Augenwischer. Außerdem fummle ich auch gern am Mikroständer rum. Hängt das miteinander zusammen? Ich weiß es nicht. Healthy Living, die Gesundheitszeitschrift für die Frau um die Dreißig, die ich da meine Freundin sie abonniert hat, mitlese, schreibt, lange Bettaufenthalte verzögerten die Genesung. Ich vermute, dass stressige Arbeit aber mindestens genauso schlimm ist. Entspannung und Bewegung, darauf kömmt es an. (Im Übrigen sollte ich ehrlich sein: Meine Freundin wollte die Zeitschrift schon mehrmals abbestellen. Ich riet ihr davon ab. So frauenlastig die Themen, so albern das Styling, so oberflächlich die Berichte, es finden sich doch immer wieder zwei, drei kleine Beiträge, aus denen man lernt. Oder auch nicht, siehe oben.

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Mo, 25.9.06

Lade Kathrin Passig zum Kantinenlesen ein.
Stein sucht Duschke über Weber.
Ich werde von einer Besucherin per Mail ausgequetscht: "Bin außerdem nicht wirklich überzeugt, das man Improvisation lernen kann, entweder man ist schlagfertig und hat kreative Gedanken und diese noch dazu sehr schnell, oder eben nicht. Oder liege ich da falsch?." Ich antworte: "Dass man Improvisation lernen kann, sehe ich immer wieder – auch wenn es sicherlich wie überall mehr oder weniger Talentierte dafür gibt. Der Witz ist: Wir improvisieren sowieso ständig – in jedem alltäglichen Gespräch. Improvisation lernen heißt nichts weiter, als die Barrieren, die einen hemmen wegzuräumen und auf den kreativen Fluss zu vertrauen." – Vielleicht etwas vereinfacht, denn das Handwerk der jeweiligen Kunst – in unserem Fall Schauspiel und Storytelling – muss man ja auch lernen.
Ausrede bei einer Ebayversteigerung, ich hätte wegen einer Verletzung die Platten nicht früher versenden können. Kann mich, wenn ich so etwas schreibe, eines gewissen Aberglaubens nicht erwehren.

Ich müsste D. endlich den Geburtstagsbrief schreiben. Bei den letzten Malen glaubte ich immer wieder zu erkennen, wie fremd ihm hier alles geworden sei. Und natürlich hat man als Weggereister immer das Gefühl, zuhause habe sich nichts geändert, man sich selber aber schon.
Ich stehe vorsichtig auf und gehe eine Etage höher auf Toilette. Es schmerzt so gut wie gar nicht. Es ist zwar eine ordentliche Belastung, aber eher wie nach harter Arbeit, so als hätte ich am Tag zuvor beim Umzug geholfen. Ein Lob dem Franzbranntwein.
M. kann für die nächsten Monate kein Improtheater mehr spielen. C. hat sich zurückgezogen. Diskussion, ob man sich nun zur Amateurszene hin öffnet oder die verbleibenden Kräfte nutzt, um voranzukommen. Schwierig wird die Diskussion dadurch, dass die Positionen geradezu ideologisch vorgetragen werden, die gegenseitige Abgrenzung scheint wichtiger als die gemeinsame Lösung. Angenehme Pantomime-Probe zu viert. Am besten sind wir, wenn wir produktiv sind. Bartuschka feilt an meinen Mädchenhaftigkeiten in der Pantomime – der kleine Finger, etwas zu weiche Bewegungen, zu forcierter Tock, die die Bewegung clownesk erscheinen lässt. Außerdem Details: Auch ein Schlüssel hat ein Volumen. Zwei Varianten des Auf-der-Stelle-Gehens, Treppensteigen, Wiederholung der "Mauer". Varianten des Tür-Öffnens.

*

Jochen ärgert sich auf amüsante Weise über den Film "Das Parfüm", ohne ihn zu nennen. Er wirft der Geschichte Vorhersagbarkeit vor. Ich glaube, es ist eher das schlechte Timing und mangelndes Selbstvertrauen – einerseits klebt er sklavisch an der Romanvorlage und hakt hektisch die Handlungsstationen ab, dann wieder will er ihn zusätzlich aufpeppen und referiert wieder und wieder auf den ersten Mord. Die bunte üppige Ausstattung kann nicht viel retten. Dustin Hoffman macht sich seit Jahren nur noch zum Clown. J.S.: "Man hätte bei der Ausstattung viel Geld sparen können, denn daß man sich in "Frankreich" befand, wurde ja, wie immer in deutschen Synchronfassungen, schon aus der Tatsache deutlich, daß die Töchter ihre Väter "Papá" nannten."
Dass das Allegretto in der 10. Sinfonie einer der abgründigsten Sätze von Schostakowitsch sei, bezeichnet Jochen als "Nutzloses Wissen". Ist denn nicht allein das Nutzlose schön?

Die Beschreibung der Pariser Salons langweilt also Jochen. Man hatte darauf fast gewartet…

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Di, 26.9.06

Verkaufe nun auch liebgewonnene CDs bei Ebay, beginne mit 15 Stück, sie nehmen nur Platz weg, es gibt andere Möglichkeiten der Aufbewahrung…
Bohni anscheinend der Einzige, der noch nie eine Bahngeschichte geschrieben hat.
Pinnacle Studio hat zwar eine Handvoll netter Features wie die Szenen-Erkennung, aber es frisst dermaßen viel Arbeitsspeicher, dass normales Arbeiten kaum möglich ist. Sicherungskopie nicht wiederherstellbar.
Vergesse meinen Termin bei der Pass-Stelle.
Guter Tritt beim Radfahren. Marathonschmerzen kaum bemerkbar.
Essen unter Freunden von Freunden. X verlässt nach ein paar negativen Sprüchen den Raum, angeblich, so S, weil dieses Gespräch eines sei, das er nicht dominieren könne.

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Sie sei gern allein. J.S.: "Das war ich bis vor kurzem auch."

Die langwierigen Namedropping-Passagen bei Proust seien nur dazu da, unter den Lesern die Spreu vom Weizen zu trennen, "wenn man uns dafür mit einem kleinen Satz belohnt, nicht einmal einem besonderen Satz, nur einem schlichten und wahren Gedanken". Was wäre dann der Unterschied zu einem Autor, der seine Aphorismensammlung in einem Telefonbuch versteckt?
Redewendungen seien wie eine Krankheit, z.B. O-Saft, "auf jeden" und "an Ostern". Letzteres aber eine regionale Wendung. Man wird nur fuchsig, wenn solche Wendungen die anderen verdrängen. Manchmal benutzt man ja schon in einer Art vorauseilendem Gehorsam das "Viertel vor Acht" statt "Dreiviertel Acht", einfach weil die meisten Anwesenden einen sonst nicht verstehen würden, oder man deren Fragen erklären müsste. Anpassung wird so zur Sprecheffizienz. Vielleicht aber reagiert man ja nur auf die Verdrängung der eigenen Sprache verärgert und nimmt die Breschen, die das Hochdeutsche in Süddeutschland schlägt, gar nicht wahr.

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Mi, 27.9.06

Arbeite von 9 bis 18 Uhr am Film "Business in Mallorca", unterbrochen nur vom Mittagessen und ein paar Dehnübungen.
Show im Zebrano fällt aus. Wenn’s schon knirscht, dann richtig.

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Antisemitische Stimmung im Salon. Dilemma, ob der Jude Bloch, der so viel für den Salon bedeutet, weiterhin eingeladen werden soll. Alle reden, außer Marcel, dem man die Antworten aus dem Munde nimmt, da man befürchtet, das Gespräch gerate ins Stocken.

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Do, 28.9.06

Ein Japaner ersteigert 26 Vinylplatten, ohne zu wissen, wieviel der Transport kostet. In den folgenden Wochen gehen diese Platten mehrmals um den Globus wegen eines Schreibfehlers in der Adresse.
Zusage vom Bayrischen Haus Odessa für den Improtheater-Workshop. Sie wollen einen detaillierten Lehrplan. Scherzkekse – ich weiß ja nicht einmal, wie gut die Studenten sind. Alteuropäisches Erziehungssystem – der Lernende als Trivialmaschine. Ich buche meinen Flug.
Eine jener Ulkigkeiten, die meine Biographen nachdem ich tot bin, bestimmt nicht mehr rekapitulieren können, wird der Umstand sein, dass ich mich immer nur mit vorläufigen Reisepässen durch die Länder dieser Welt schlug. Den einzigen dauerhaften Pass bekam ich im November 1989 von den DDR ausgestellt, optimistisch mit dem Auslaufdatum November 1999 versehen.
Ein außerordentlich guter und gut besuchter Abend bei der Chaussee, trotz meiner eher mickrigen Geschichte. Die schönen Abende verschmelzen irgendwann auch zu einem Gesamteindruck. Es wird immer schwieriger, sich darauf zu konzentrieren, wie schön der Abend gerade ist. Irgendwann werden wir dieser Zeit hinterhertrauern.

*

Kinder seien eher als Erwachsene zu spielerischer Abstraktion fähig. "Mit Sand und zwei Stöckchen kann man "Nudeln-mit-Tomatensauce-und-Hustenbonbons-Essen" und Zähneputzen spielen, und es wirkt nicht unrealistischer, als in der Kirche in Gestalt einer Oblate Jesus zu verspeisen." (Finde das Stilblütchen)
Die Trägheit, Abstraktionen überhaupt nur mitzudenken, erleben wir am Schlimmsten im Fernsehen. Aber auch beim Improvisationstheater gibt es immer wieder Zuschauer, die sich veralbert vorkommen, wenn nicht alles 1:1 nachgespielt wird.

Marcel erbt von Onkel Adolphe die Aktfotosammlung, die dieser seinen Eltern nicht schicken wollte, aber eben auch nicht dem Sohn. Ich hatte keinen Onkel und besitze auch keine Aktfotosammlung, die ich meinem Neffen vererben könnte, nur ein Autogramm auf einem Foto von Eva-Maria Hagen, sie ist auf dem Foto jünger als ihre Enkelin heute.

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Fr, 29.9.06

Der Japaner kommentiert jeden einzelnen Schritt der Transaktion per Mail und will auch über meine Schritte minutiös informiert werden. Ich wäre ja bereit dazu, wenn er nur verständliches Englisch schreiben oder einfaches Englisch verstehen würde.
Mit dem Rad in die Harzer Straße, wo ich den Mietvertrag unterzeichne – ein Schlussstrich unter das Leben im Friedrichshain. Die Verwaltungsangestellten und überhaupt die ganze Atmosphäre wieder unangenehm. Man wird im Vorzimmer abgefertigt. Und das auch noch im Stehen. Kein gemeinsames Gespräch am Tisch. Der Empfangstresen wie eine Abwehrbarriere. Als ob Freundlichkeit was kosten würde.
Stelle den Mallorca-Film bei YouTube ein.
Ziel-Video-Clip vom Marathon. Obwohl ich mich viel positiver gefühlt habe, sehe ich da auch nicht besser aus als beim letzten Mal – ein x-beiniger, kranker Storch.
Sorgenvoll gehe ich ins Bett und werde von meiner schlafenden Gefährtin weggekickt.

*

J.S. über Mark Benecke: "Wie anregend neugierige Menschen sind!"

Ende von Marcels Salonbesuch. Ein windiger Bursche namens Charlus hakt sich bei ihm ein und führt "abscheuliche und an Wahnsinn grenzende Reden". Berührt ihn am Kinn und rät ihm zur Rasur. Hochstatusgesten.

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Sa, 30.9.06

Unruhig wie ich einschlief, erwache ich. Die Freundin und die Jugendlichen draußen machen Geräusche. Stehe früh auf, frühstücke, Zeitung ist noch keine da. Lese ein altes Didedags-Mosaik-Heft. Ein Gag im letzten Heft: In Bobs Krankenzimmer heißt ein Zimmergenosse mit strubbligen Haaren Marc Bolan.
Kaufe den Laptop (auf dem ich heute – Oktober 2008 noch schreibe) für 453 Euro von einem überparfümierten Katzenhalter in Marzahn, wo ich ihn Tage später selbst abhole. Der Kauf von Second Hand Produkten über Ebay und früher "Zweite Hand" hat mich in Berliner Wohnungen geführt, die ich sonst nie betreten hätte. So müssen sich Klempner und Zähler-Ableser fühlen. Die kann nichts mehr schocken.
Treffen zum gemeinsamen Essen. XY erwartbar negativ und emotional aufgeladen. Als sie im Gehen auf dem Flur für sich aber laut und vernehmlich sagt: "Wieder drei Stunden Lebenszeit!", wissen wir, es ist für sie vorbei. Welche Respektlosigkeit gegenüber den anderen! Welcher Mangel an Eleganz beim Abgang!
Nach dem Kantinenlesen Diskussion mit … über Sterilisierung beim Mann. Er hätte es fast gemacht. Ich winde mich schon beim Gedanken.

*

Über die Schwierigkeit, Komplimente anzunehmen. Komplimente, die beleidigen. Komplimente-Verteiler, die man in Zukunft enttäuschen muss. Loben, wie schon vor ein paar Tagen hier erwähnt, ist eine der fünf Sprachen der Liebe. Anscheinend ist man für diejenigen Sprachen auch empfänglich, die man selber gut beherrscht. Das Irritierende war für mich früher immer, dass ich nicht wusste, wie ich darauf antworten sollte. Man hatte den Lober im Verdacht, etwas bezwecken zu wollen. Auch heute noch bemerke ich an mir den Reflex, mich herauszuwinden, vor allem wenn ich für Äußerlichkeiten gelobt werde. Dabei ist es so einfach. Wenn man "Danke!" sagt, sind alle glücklich. Schwierig auch, wenn man für Dinge gelobt wird, mit denen man selber nicht recht zufrieden ist, z.B. mit einer mäßig gelungenen Show. Aber warum dem Zuschauer die Unzufriedenheit mit Details auf die Nase binden? Warum seine Freude zerstören? Auch hier genügt ein "Danke". Wenn man es eine Weile geübt hat, macht es sogar Spaß.

In der Krankheit sei der Körper der taube Feind, dem man nicht zureden könne. Eine der schwächsten Beobachtungen Prousts bisher. Denn wenn er das sagt, hat er es offenbar noch nicht einmal ernsthaft versucht. Aber warum sollte er es tun, wenn er ihn so oder so als Feind betrachtet?… Weiterlesen

23.9. – 24.9.06

Dateien nicht gesichert. Muss den Blog noch mal tippen. Frustrierender geht’s nicht.

23.9.2006

Nach dem Kantinenlesen im Schusterjungen. Der Betreiber weiß schon, dass ein Lauf ansteht, wenn ich am Vorabend Apfelschorle statt Bürgerbräu bestelle.

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Kettenreaktion, bei Jochen, da der Drucker nicht kompatibel ist: Er kann seine Mails, die er, da er kein Mailprogram benutzt, auf dem Server belässt, nicht ausdrucken und muss nun entscheiden, welche Mails für immer verschwinden, dadurch würden Existenzen ausgelöscht. Warum er 2002 aufgehört hat, Outlook Express zu nutzen? Oder spielt er mit dem Gedanken, die Mails dereinst in die Gesammelte Werke Ausgabe aufzunehmen. Überhaupt sollte mal jemand eine Lanze für Outlook Express brechen. Schöne Volltextsuche. Einfacher handhabbar als Thunderbird, sicherer als Outlook. Man muss nur aufpassen, dass das Denken in Volltextsuche nicht auf andere Wahrnehmungsbereiche überschwappt. Manchmal fällt mir ein Zitat aus einem Buch, das ich gerade lese, ein und will dieses Zitat dann per Volltextsuche aufspüren. Manchmal streite ich mich mit meiner Freundin: "Doch", sagt sie, "das hast du gesagt." – "Hab ich nicht!" – "Doch!" Man kann es leider nicht per Volltextsuche überprüfen. Manchmal frage ich mich, ob ich schon einen bestimmten Gedanken gedacht habe, aber auch mein Gehirn verfügt nicht über dieses schöne Outlook Express Feature.

Problematik des Schenkens, das erpressbar mache. Dazu zitiert Jochen Adorno: "Die Spende ist mit Demütigung durch Einteilen, gerechtes Abwägen, kurz durch die Behandlung des Beschenkten als Objekt notwendig verbunden."
Ich hatte hier schon geschrieben, dass das Schenken ja eine der fünf Sprachen der Liebe ist. Sind Misstrauen und Berechnung Teil des Schenkens, verliert es völlig seinen Wert und erstarrt zur Konvention, weshalb der Schenk-Exzess zu Weihnachten auch so abstoßend wirkt.

***

So, 24.9.06

Marathon. Meine Aufzeichnungen zeigen, wieviel anstrengender es doch 2006 im Vergleich zu 2008 war.

Eine leichte innere Unruhe lässt mich schon 6.20 Uhr aufwachen, versuche noch weiterzudösen, was nicht recht gelingen mag. Stehe also auf, und versuche, den Tag ruhig anzugehen. Gönne mir eine Tasse Kaffee und verpflichte mich, noch vor dem Lauf genügend Wasser zu mir zu nehmen.
Trainingshose verschwunden, also Leggins, darüber die kurze Hose. Laufshirt, Termo-Shirt, Trainingsjacke, Laufschuhe. Wähle doch die alte Armbanduhr, obwohl ich am Abend zuvor beschlossen hatte, die Stoppuhr mitzunehmen, fürchte aber, ich komme dann auf dem Lauf mit den vielen Modi nicht klar. Traubenzucker, 5 Euro, Hausschlüssel, Schnapper, Pflaster, Wasserflasche. Befestige Startnummer und Chip.
Zum S-Bahnhof. Wetter etwa so wie im letzten Jahr, vielleicht sogar 1-2 Grad wärmer. Gute Luft. Versuche, mich auf diese Weise positiv zu stimulieren.
Auf dem Gelände wieder zu wenig Dixie-Klos. Schlangen von bis zu 10-12 Leuten davor – eine halbe Stunde vor Beginn. Warum müssen sie ausgerechnet daran sparen? Geselle mich zu den Buschpinklern, und kurz vor dem Start nutze ich die inzwischen freien Klos für letztmaliges Abschütteln. Brustwarzen abkleben fällt bei meiner Brustwolle aus.
Startfeld sehr dicht gedrängt. Besonders Block H, wo es diesmal keine Lautsprecher gibt. Wir kriegen nichts mit von dem, was vorne passiert. Startschuss für unser Feld ca. 9.15 Uhr. Ich gehe 9.17 Uhr über die Linie.
Bemühe mich um lockeres Tempo. Bin mir bis zum Start nicht klar darüber, welche Zeit ich anpeilen soll. 4.15 Stunden zu schnell. 4.30 vielleicht zu wenig. Deren Tempo ist mir zu locker. Zu Beginn durchschnittliches Tempo von ca. 6:15 Minuten pro Kilometer, ohne dass irgendeine Konditionsleistung zu spüren wäre. 30 Sekunden pissen in Moabit, definitiv kein Nervositätspissen, sondern satter Strahl. Nach 10 Kilometern melden sich allerdings rechter Fuß und Zeigezeh sowie linkes Knie. Versuche, sie zu ignorieren. Geht aber nicht. Rechne damit, bei zu großen Beschwerden aufgeben zu müssen. Halte aber mein Tempo, das ich immer noch als locker empfinde, durch. Uli schaut, wie angekündigt, aus seinem Fenster. Vielleicht hilft für den Zeigezeh ein Pflaster. Trage es bei km 19 auf, wo Steffi mit Eltern und Nachbarn wartet. Alle starren auf meinen Fuß. Steffi reicht mir eine Schorle ohne CO2. Das hilft tatsächlich, wie Dirk sagte. Es sind gar nicht so sehr die 15-30 Sekunden, die man an den Getränkeständen verliert, sondern der damit verbundene Stress. Ca. bei km 24 verschlucke ich mich dann böse an der Schorle. Verliere dadurch ca. 20-30 Sekunden. Bei 28 km noch keine größeren Ermüdungserscheinungen. Bin voller Hoffnung, im letzten Drittel durch Willensanstrengung letzte Kräfte mobilisieren zu können. Wieder drückt die Blase stark, letzte Gelegenheit, da nach dem Wilden Eber keine Büsche mehr kommen. Wieder 30 Sekunden. Wilder Eber. Von nun an beginnt der Lärm zu nerven, vor allem aber dumme Moderatoren, die die Läufer dazu auffordern, im Takt der Musik zu laufen. Bei km 33 spüre ich die zunehmenden Anstrengungen, ich verenge den Blick und nehme Trinkpausen auch als kurze Gehpausen wahr. Auf km 34 – der Mann mit dem Hammer. Ich muss mein Tempo drastisch reduzieren. Die 4:30-Läufer überholen mich zwischen km 34 und 36. Versuche, an ihnen dranzubleiben, aber so lahm wie sie mir zu Beginn erschienen, so utopisch kommt mir ihr Tempo jetzt vor. Versuche nun, mich darauf zu konzentrieren, so wenig wie möglich zu gehen. Von Beginn an, als ich die Probleme im Knie und in den Kniekehlen merkte, immer wieder Anfersen-Lauf. Ab km 25 Dehnen. Nun alle 1 km.(Das habe ich 2008 bei jedem km getan und bin dadurch wesentlich besser durchgelaufen.) Ungefähr bei km 37 ein Krampf, als ich die Ferse ans Gesäß ziehe. Auf dem Kudamm soll ich einer älteren Dame erklären, wie man sich für den Lauf bewirbt, während ich mich dehne. Da die 4:30 nun für mich erledigt sind, setze ich mir ein neues Ziel. Könnte es mir einfach machen und die letzten 8 km gehen, da würde ich auch nur knapp über 5 h bleiben. Aber ich will auch meinen Willen fordern. Also Ziel 1: unter der Zeit des letzten Jahres bleiben, Ziel 2: Unter 4: 40 bleiben. Potsdamer Platz extrem heiß und unangenehm.

Laufe in eine Dusche, und meine Schuhe saugen sich in einer tiefen Pfütze voll. Immer wieder versuche ich, mir einen persönlichen Pacer auszuspähen, denn es gibt einige Läufer, die ich immer wieder sichte. Aber ich habe keine Kraft, mich dann konsequent an einen dranzuhängen, und wahrscheinlich sind die auch kaputt. Steffi und die Eltern dann Leipziger Straße, wo sie auch fremde Leute anfeuern. Laufe schön joggend vorbei, Steffi ausdauernd eine ganze Weile mit. Diesmal nicht über Gendarmenmarkt, sondern über Breite Straße, und so zieht sich die Leipziger Straße endlos hin. Als ich die Breite Straße erreiche, bin ich eigentlich völlig erschöpft, und die Beine schmerzen stark. Nehme mir nun ca. alle 400 Meter eine Dehnpause. Aber die letzten 1.000 Meter ziehe ich ohne Pause durch. Auf den letzten 200 Metern gelingt mir sogar eine Art Endspurt, der vom Tempo aber kaum schneller als mein Anfangstempo ist. Komme dann bei 4:37 ins Ziel. Nicht ganz so kaputt wie im letzten Jahr. Übelkeit setzt dennoch ein. Mir wird schlecht, wenn ich die Lebensmittel schon sehe. Mache dann große Bögen um die Dixie-Klos. Eine alte Frau, vielleicht sogar die mit 73 älteste Teilnehmerin kommt mit mir ins Ziel. Wir beglückwünschen uns. Ich klopfe einer Weinenden auf die Schulter. Der Weg bis zu den Umkleidewagen ist eine Qual. Setze mich dann – 20 Minuten nachdem ich ins Ziel gekommen bin, das erste Mal vor dem LKW ab. Ziehe mich um. Schleichend zum Ausgang und zum Bahnhof Friedrichstraße. Kurzer Wortwechsel mit T.L., der auch um die 4:30 lief, aber nicht so erschöpft wirkt.
Hitze in der S-Bahn. Den herbeigebeteten Sitzplatz erwische ich glücklicherweise. Tröste mich mit dem Gedanken, dass es letztes Jahr alles noch wesentlich schlimmer war. Warschauer Str. Ziehe mich am Handlauf die Treppe hoch, aber auch das geht besser als vermutet. Nur das Gehen so langsam, dass mich eine Frau auf Krücken überholt. Beim Libanesen wartet Steffi mit einem Falafel in der Hand, sie hat die Tür mit dem Schnapper nicht aufgekriegt.
Zusammen hoch. Ich lege mich hin, und nach 30 Minuten unter die Dusche. Dann die ersehnte Massage von Steffi mit Franz-Branntwein. Rücken, Hals, Waden, Waden, Waden, Füße. Tee ans Bett. Als die Übelkeit weg ist, Brötchen mit Mandel-Paprika-Creme und Brühe. Ich messe Temperatur: 37,3°, die sich auch nicht steigern. Auch dies besser als im letzten Jahr. Puls schwankt zwischen 100 und 108 und geht im Laufe des Abends auf 90 runter. Zwar auch dies besser als 2005, aber bezweifle, ob das gesund ist. Steffi sucht im Internet die Ergebnisse von Dirk (4:05), Manuela (4:31) und meines (4:37). Was ich als Endspurt empfunden habe, waren anscheinend knapp 15 Minuten auf den letzten 2,2 km.
Schlafe zwischendurch. Später holt Steffi uns noch Gemüse- und Tomatensuppe vom Italiener.
All diese Leiden blieben mir 2008 erspart!

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Kein Wort zum Marathon bei Jochen. Stattdessen Gedanken übers Bücken beim Tischtennis, das auch bei uns ein entscheidender Begleiter durch die Frühpubertät war. Ein egalisierender Sport, vor allem beim Chinesisch. Es gab die Gewinner, und es machte nichts, wenn man den schlechten Spielern ab und zu mal einen Punkt gönnte. Teilweise standen wir zu zwölft an der Platte. Quatschen und Tratschen. Als Tischtennis allerdings mit 15 Jahren als Sport seinen Reiz für mich verlor, hatte ich da nichts mehr . Die Platten als Unterlage für schnellen Geschlechtsverkehr nutzten dann die, die nie ein Match gewonnen hatten.

Marcels These: Die soziale Umwelt des Schriftstellers sollte nicht zu anregend sein. "Gott will, daß ein paar gut geschriebene Bücher erscheinen, und zu diesem Zweck füllt er das Herz solcher Frauen wie Madame Leroi mit solcher Art von Verachtung an, denn er weiß, daß, lüden sie eine Madame de Villeparisis zu sich ein, diese sofort ihr Schreibzeug im Stich und für acht Uhr anspannen ließe."

21.-22.9.06

21.9.2006

Es dauert immer mehrere Tage, bis ich wieder eine Grundordnung in der Wohnung habe. Zeitungen und Post stapeln sich, Mails und AB-Nachrichten müssen beantwortet werden. Wäsche waschen. Noch ein bisschen zu verwirrt, um die morgendlichen alltäglichen Handlungen einfach abzuspulen. Bewege mich in dem zuhause üblichen Tempo, aber der Kopf kommt nicht mit. Außerdem liegt noch viel herum. Muss mich ein wenig bremsen.
Frühstück auf dem Balkon. Eigentlich betreibe ich dabei immer wieder Multitasking – essen, Zeitung lesen, Radio hören. Radio wahrscheinlich das Schlimmste. Lektüre sollte ich auch verschieben.
Am Nachmittag zur Wohnungsgenossenschaft, um mich nun auch offiziell als Nachmieter von Utas Wohnung zu bewerben. Kleide mich seriös. Jackett, Rasur, Hemd. Die schicken Schuhe leider kaputt, so wird es ein Joschka-Fischer-Junior-Look. Werde in der Empfangshalle von der Empfangsdame abgekanzelt, die zwischen mir und ihrer Vorgesetzten hin und her eisbärt, um die Kommunikation am Laufen zu halten. Auch wenn die Marktverhältnisse nun mal so sind, dass die Vermieter am längeren Hebel sitzen, könnten sie sich doch dennoch um Freundlichkeit bemühen. Sie wollen mich schon wieder wegschicken, um irgendwelche Fragen beim nächsten Mal zu klären, aber ich beharre darauf, alles sofort zu klären. Einkommensfrage. Ich versuche, ihr zu erklären, das Künstler nicht notwendigerweise arm sind, aber sie ist sehr verschlossen. Ich versuche die Kommunikation so anzulegen, als ob sie mir immer zustimmen würde, und wir ein kleines gemeinsames Problemchen zusammen lösen. Aber im Grunde wird dort Bürokratie gespielt wie in einem Entwicklungsland. Sie wollen eine Ausweiskopie von Uta, die dort schon seit acht Jahren wohnt.
Post von der Rentenbehörde. Meine Rente betrüge, wenn sich mein Einkommen weiter so wie in den letzten fünf Jahren gestaltet, 220 Euro. Davon könnte nicht mal Sarrazin leben.
Chaussee mit Kathrin Passig. Ihr erster Text schlägt gleich ein wie eine Bombe, vor allem bei uns. Darüber, wie man einen Text schreibt, weil man mit Jochen Schmidt ins Bett will. wie sie dann darüber schreibt, dass die beiden überhaupt nicht zusammenpassen, zeigt, wie genau sie ihn beobachtet hat, und das kann sie ohne Faszination nicht getan haben. Kurz zuvor hat er noch von ihrem Esprit geschwärmt.

 

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J.S.: "Der männliche Körper ist wie ein Turm, nimmt man ein Steinchen heraus, fällt alles in sich zusammen." Unklar, ob das im Widerspruch steht zu dem wenige Wochen zuvor geäußerten Satz: "Der männliche Körper lässt sich zum Glück durch Sport beliebig verschönern."
Jochen läuft also wegen eine Katarrhs den Marathon nicht mit und wird, so schreibt er, da die "Serie nun gerissen" ist, das nie wieder tun.
J.S.: "Wie ein Militärstratege die Landschaft intuitiv als Aufmarschgebiet mustert, ein Geologe ihr Informationen zur Erdgeschichte entnimmt und ein Tourist den kürzesten Weg sie nach Aussichtspunkten absucht, sieht der Läufer überall nur Laufstrecken."

 

Marcel hat schon lange beschlossen, Schriftsteller zu sein, ohne auch nur eine Seite geschrieben zu haben, Verwandte und Freunde werden darauf vorbereitet, und Alkohol als Vermeidungsdroge hemmungslos konsumiert. Ein derartiger Schriftstellertypus wird es dann, wenn er überhaupt je zu schreiben beginnt, auch nicht unter der Seitenzahl 1.500 machen, die Recherche ist von ihm also eher zu erwarten, als, sagen wir "The Catcher in the Rye".

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22.9.06

Musikalische Improshow im Bühnenrausch. Sie setzen um, was wir vor drei Jahren monatelang geprobt haben und was dann wegen zu hoher künstlerischer Ansprüche geplatzt ist.

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Wie geht man mit früheren emotionalen Verletzungen um? Dem Inneren Kind mit Engelsenergien begegnen, wie es der Flyer im Bioladen verspricht? Ihm aus dem Weg gehen? Oder Schreiben?

Auf der Bühne stehende werden angebetet, muss Marcel feststellen, egal ob sie Pickel haben oder sonstige Ekelhaftigkeiten. Dasselbe, so Jochen, könne man auch von Polizistinnen, Krankenschwestern, Lehrerinnen und Kellnerinnen behaupten, und zwar, weil sie beruflich bedingt Distanz wahren.… Weiterlesen

16.9.-20.9.06

Warum streiche ich Texte in Büchern nur mit radierbaren Stiften an? Es schockt mich jedes Mal, wenn jemand ein schönes Buch mit Kugelschreiber oder Textmarker anstreicht. Andererseits habe ich noch nie eine Anstreichung ausradiert.

Sa, 16.9.06

Traum: Ich will nach Westberlin, kenne einen Übergang, an dem keine Grenzer stehen, aber es dauert alles sehr lange. Dann wieder fällt mir ein, dass man ja am Bahnhof Friedrichstraße seit einiger Zeit ganz locker über die Grenze kommt – mit der Bahn!
6 Uhr morgens. Ich kann seit einer Stunde nicht mehr schlafen. Schlafstörungen habe ich sowieso nur morgens. Ziehe mich an, esse eine Banane und jogge los. Die Stadt macht einen ganz anderen Eindruck. Der schöne Morgenduft verdrängt den Staub, es hat geregnet in der Nacht, Müllautos, ein paar übriggebliebene Pärchen, die Arm in Arm spazieren gehen oder auf der Strandtreppe knutschen, eine Lehrerin hält ein Schwätzchen mit dem Straßenkehrer, Morgenbars mit Frühaufstehern und deutschen Absacker-Trinkern, Lieferwagen, laufe hinter Son Moll weiter und kann die Kurve nicht so knapp nehmen, wie ich wollte, aber so laufe ich dann nur eine Runde, recht angenehm aber auch unerwartet anstrengend. Um ein abschließendes Bad zu nehmen ist es zu kühl. Abstecher zu einem früh öffnenden spanischen Bäcker, der angeblich Biowaren verkauft, was ich bezweifle.
Der Mensch ist dem Menschen der Vorfahre des besten Freundes des Menschen. (Kommentar Oktober 08: Was habe ich damit gemeint?)
Max Goldt, weist die Behauptung zurück, er schreibe Alltagstexte. Prinzessin Diana und Tagespolitik – das sei Alltag. Er hingegen versuche, das Nichtalltägliche, Außergewöhnliche, Persönliche aufzufangen.

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Jochen zitiert das Hubschrauberbeispiel, das ich gestern nannte im Zusammenhang mit lärmenden Bauarbeitern: "Zen-Buddhisten können angeblich das Geräusch rotierender Hubschrauberpropeller aus ihrem Bewusstsein ausblenden, aber warum sollte man zwanzig Jahre meditieren, wenn man mit einem gezielten Schuss dasselbe erreichen könnte?
Sichfügen als eine Methode, dem Glücklichsein näher zu kommen. So wie sich Jochen im November 1989 dem Einberufungsbefehl fügte. Auch ich überlegte gestern, warum ich mir nicht eines meiner Wehwehchen zunutze gemacht hatte, um ausgemustert zu werden. Aber eine Mischung aus Opportunismus, Pflichtgehorsam und Faulheit führte dazu, dass auch ich mich fügte.
Jochen listet Schlafsorten auf, darunter "die gute Kindesmüdigkeit". Die man ja auch immer noch erlebt, wenn man einen ganzen Tag lang physisch aktiv war. Wie sehr zählt man den Schlaf zum eigenen Leben? Das Traumerleben wird fortgewischt. Gibt es Arbeitgeber, die einen einstellen, weil man sich mit einem Lebenslauf mit besonders kreativen Träumen beworben hat?

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So, 17.9.06

10 km Joggen. Ruhiges Schwimmen in großen, aber nicht stürmischen Wellen, sie heben und senken einen angenehm beim Schwimmen.
Ins seit über einer Woche anvisierte China-Restaurant. Es sieht nicht vielversprechend aus. Billige Preise, wenig Publikum, abblätternde Farbe. Der Trittbelag auf der Treppe mit Gafferband befestigt. Alles wirkt wie billiger Ramsch, der hier schon seit zwanzig Jahren vergammelt. Skeptisch setzen wir uns. Das Essen hält dann die bösen Versprechen des Ambientes: Schleimig-durchwachsenes Rindfleisch. Ich esse drei Happen, halte mich dann an den Paprika und den Reis, der uns extra berechnet wird.

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Jochen schwänzt Proust.

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Mo, 18.9.06

Traum: Fahre in einem luxuriösen Zug und sehe "Spiel mir das Lied vom Tod" auf einer Leinwand. Mitten im Film werden heruntergekommene Gebäude aus Berlin gezeigt, die zum Teil noch Ruinen sind.
Kurztrip nach Arta.

 

Pseudo-Dokumentation über die mallorquinischen Langschwanzaffen im berühmten Affenzwinger von Arta.

Wieder in Cala de Rajada. Aufnahmen für den Kurzfilm "Business in Mallorca"

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Der schöne Satz aus einem Brief "Immerfort fallen die Äpfel von oben nach unten mit diesem dummen Geräusch" erweist sich als Produkt von mangelnder Leseaufmerksamkeit und blühender Phantasie. Sie schrieb "mit einem dumpfen Geräusch". Jochen dazu: "Poesie ist immer nur ein Missverständnis." Vielleicht aber entsteht sie auch nur dann, wenn man nicht zu viel will und nicht zu viel meint. Gerade nach Impro-Shows erlebt man es immer wieder, dass einen die Zuschauer für die Bedeutung bestimmter Szenen loben, wie clever man das gespielt habe usw. Man nickt höflich und fragt sich, wovon sie eigentlich reden.

Marcel im Garnisonsstädtchen. Habe ich etwas überlesen? Bruchstückhaft die Story serviert zu bekommen hat natürlich auch seinen Reiz. Es wäre vielleicht interessant, nach der "Schmidt-liest-Proust"-Lektüre meine Vorstellung davon mit dem Roman zu vergleichen. Es ist schon schwer, die Verwandtschaftsverhältnisse und die Natur der sonstigen Beziehungen zwischen den Figuren aus Jochens Notizen herauszufiltern. Denn es geht ihm ja um anderes.
Garnisonsstädtchen = homoerotischer Military-Chic?

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Di, 19.9.06

Jochen beantwortet meine Bitte um Tips für Odessa: "alles wichtige stand im blog."

Schade, dass uns die Idee für den Kurzfilm erst so kurz vor der Abreise gekommen ist. Wir verbringen nun fast den ganzen Tag mit Filmen. Leider nicht genügend Zeit, um die Ideen zu diskutieren. Mangel an Zeit ist die Quelle für Streit. Immerhin macht uns das Drehen so viel Spaß, dass wir die Konflikte verlachen.

 

 

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J.S.: "Erst wenn Teile meines Gefühlslebens einschlafen, sehe ich, wie fremde Gefühle auf mich und wie ich auf andere wirke." ???

Marcel lernt, wie Kriegskunst debattiert wird. Madame de Gourmantes kann er fast vergessen.

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Mi, 20.9.06

Wecker piepst um 5 Uhr. Dusche, räume Frühstück ein letztes Mal auf die Terrasse. Wie immer beim übermüdeten Aufstehen eine ganze Reihe überflüssiger Bewegungen und Gänge.
Gutes, ruhiges gemeinsames Frühstück in der morgendlichen Dunkelheit.
Dann wird es doch einen Tick später. Gisi kommt noch einmal raus, um uns zu sagen, wir seien zu spät dran und uns im selben Atemzug noch zu fragen, ob wir noch eine Tasse Tee haben wollen.
Fürs Filmen ist es eigentlich zu dunkel. Eine kurze Aufnahme versuche ich trotzdem.
Rückfahrt nach Palma. Schöner Nebel in den Senken und auf den Feldern. Für Steffi ist es anstrengend, im Dunkeln zu fahren. Es dämmert, und als wir am Flughafen San Juan ankommen, ist die Sonne bereits aufgegangen. In dem Moment, als wir aus dem Auto aussteigen, wird sie hektisch und lässt sich nur widerwillig filmen.

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Jochen wieder krank. Er erinnert sich empört an einen Arzt, der ihm vor einem Jahr "Globus hystericus" diagnostizierte. Das Leiden der Hypochonder. Sie wollen eine anständige Krankheit, d.h. eine Krankschreibung mit ordentlicher Diagnose, die nicht allzu sehr von der Selbstdiagnose abweichen darf, und anständige Tabletten, die verschreibungspflichtig sind und die Nebenwirkungen haben, an denen man leiden wird. Im Umkehrschluss sind psychosomatische Krankheiten weniger wert. Ein ärztlicher Hinweis wie "mehr Trinken" oder "mehr Bewegung" scheint unangemessen, denn was geht den Arzt das an – er soll mir Zeug zum Einnehmen verschreiben und sich aus meinem Privatleben raushalten.

Marcel telefoniert zum ersten Mal mit seiner Großmutter. Wann habe ich das erste Mal mit meiner telefoniert? Ich erinnere mich nicht. Aber Telefone waren anscheinend in der DDR so rar wie im Frankreich zu Zeiten Prousts.

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12.9.-15.9.06

Di, 12.9.06

Eigentlich wollten wir den Sonnenaufgang sehen, aber das Wetter lässt es nicht zu. Kann man am Meer nur Untergänge sehen. Stehe trotzdem früh auf. Im Walkman Tokio Hotel und Morrisey. Was fand Lottmann noch mal an Tokio Hotel gut? Dass sie ihre Songs selber schreiben?
Auch Volker reiht sich ein in die Liste der höflichen Beschwerdeführer gegen die Spammer des Internationalen Literaturfestivals: pr@literaturfestival.com ; webmaster@literaturfestival.com info@literaturfestival.com; beschwerdeabteilung@literaturfestival.com. Ebenfalls erfolglos. Einen Tag später rastet er aus, als man uns erneut bespammt, und das, obwohl er am Festival teilnimmt.
Am Cala Gat wäre das Baden zu eklig, es schwimmt immer noch der Müll von gestern in der Bucht.
Spazieren den Strand wieder Richtung Son Moll, wo das Meer kräftig spritzt. Ich und ein anderer Deutscher, sind die einzigen, die sich hineinwagen.

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DIE WELT DER GUERMANTES

Jochen ventiliert die Möglichkeit einer Performance, literarische Werke parallel zu ihrer Erzählzeit zu lesen. Bei Zeitsprüngen in der Erzählhandlung von zwei Monaten müsse man dann eben zwei Monate warten. (Das könnte bei Proust schwierig werden, da er ja oft mehrere Seiten der Schilderung eine momentanen Eindrucks widmet). Ob das eine künstlerische Performance sei, entscheide dann die Künstlersozialkasse. In der Beschreibung des sozialen Systems KUNST vergaß Luhmann tatsächlich die KSK als Mitspieler. Sie beobachtet sozusagen mal mit ökonomischem Monitor, mal mit kunstinternen Begriffen, setzt aber juristische Definitionen für die Kunst, die wiederum für den Einzelnen ökonomische Konsequenzen haben können, egal was die Kritiker sagen oder ob sie überhaupt was sagen.

„Die Familie ist umgezogen“.
Guermantes?

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Essen die mallorquinischen Brötchen, die uns der Vermieter mitbringt, weil er glaubt, sie seien besser. Er irrt.
Carsten Neumann ist der Einzige aus meiner alten Schulklasse, dessen Geburtstag ich nie vergesse. Aber ich habe ihn seit 1983 nicht mehr gesehen außer einmal, als er in einem roten Cabrio langsam an mir vorbeifuhr, ohne mich zu erkennen.

15 km joggen. Treffen Oliver Feistmandl, den Maler dieser seltsamen Comic-Fische, den wir auf der AIDA kennengelernt haben und um den es einen kleinen Hype zu geben scheint, zumindest verkauft er seinen Kram entsprechend. Auch er kennt Mallorca seit seiner Kindheit und kommt seit 20 Jahren immer wieder hier her. Titel für eine Diplomarbeit: „Die Westdeutschen und Mallorca – eine ethno-historische Studie“.
„Mind-Boggling“ von Max Goldt, das er zu der Zeit geschrieben haben muss, als ich erstmals durch Timo Rehm auf ihn stieß.

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Jochen über nervöse Handlungen: Selbstberührungen, Fingerknacken, Zappeln. Leise Geräusche stören mehr als Flughafenlärm. „Die Leistung, die Klänge eines Klaviers als wohltuend zu empfinden, erbringt ja mein Bewusstsein, es kann also das gleiche auch mit der Tröte vom Eisauto tun.“ Welche sicherlich dissonanter und obertonärmer klingt als das Klavier. Dennoch – Thich Nath Hanh gelang es sogar durch Meditation die Geräusche von Hubschraubern, die ihn einst im Vietnamkrieg traumatisierten, positiv zu besetzen.

Marcel dringt nun in die für ihn völlig fremde und aufregende Welt des französischen Hochadels ein, so wie einst Jochen in die Welt der Westdeutschen.
Gab es Adlige im Osten? Jochen fällt Manfred von Ardenne ein. Noch bekannter dürfte allerdings Karl-Eduard von Schnitzler gewesen sein.

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Do, 14.9.06

Spaziere mit Mozart auf den Ohren zum Bäcker. Versuche es mit der Es-Dur-Sinfonie. Wenn bei Mozart die Pauken ins Spiel kommen, verliere ich schon die Lust bei dem Pathos, das sie suggerieren und für das Beethoven dann die Lorbeeren erntete.
Während ich im Wasser bin, beginnt am Strand eine Fotosession. Er hat eine etwas schwächliche Stimme und brüllt ihr über eine Entfernung von ca. 10 Metern Kommandos zu, die manchmal vom Meeresrauschen übertönt werden. Durch seine Anstrengungen und auch durch einen seltsamen Unterton wirkt es alles sehr autoritär und etwas unprofessionell. Das Model hat eine modelhafte Rundum-Bräune, modelhafte Blondhaare, ein Bauchnabelpiercing und weiß, wie man Model-Posen einnimmt. Der blaue Bikini wird dann ausgezogen, ein paar Nacktfotos, ein pinker Bikini. Angegeilte Klischee-Fotos für den Kalender. Sie ahmen die Posen nach, die man schon kennt. Das seltsame Genre der Mode-Fotos, die mit am Meer laufenden Models spielen.

*

Jochen liest bei der Chaussee einen proust-inspirierten Text, und ich kann ihn nicht hören. „Wie alle Texte, die mir gelungen vorkommen, hat er sich von ganz allein geschrieben, er war schon da, ich musste ihn nur noch ausformulieren.“ Wie Michelangelos Statue, die sich schon im Stein befindet, er muss sie nur befreien. Kreative Trance, wie sie Nachmanovitch beschreibt.

Jochen markiert eine verlorene Praxis: „Im Theater die Muskeln seines Gesichts zur Unbeweglichkeit zwingen, um, wenn auch unbemerkt, einen Protest zu dokumentieren.“ Dabei tun wir das bei der Chaussee fast unwillkürlich bei den schlechten Gastbeiträgen am Offenen Mikro, vor allem wenn das Publikum von unserer Meinung abweicht, sitzen wir mit starren Gesichtern da, dabei wollen wir doch wenigstens höflich sein.

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Fr, 15.9.06

Mittagessen im Olivos. Trotz besseren Wissens bestelle ich mir eine Lasagne. Wie dumm! Bei einem Spanier eine gute Zubereitung eines italienischen Gerichtes zu erwarten! Aber die spanischen Alternativen wären Tortilla (die ich schon nicht mehr sehen kann) oder Fisch gewesen, und soll ich hier wirklich Schnitzel bestellen? Mampfe sie in mich rein. Ein paar Tisch weiter kollabiert eine Dame. Als man sie nach drei Minuten hochwuchtet, ist ihr Gesicht graugelb. Wie soll man sich da verhalten? Hinstarren ist taktlos, aber seinen Erdbeerkuchen mampfen und Smalltalk führen erscheint ebenfalls grob.
Hinter der Cala Llitera kommt uns ein Paar mit einem Hund entgegen, der uns kurz mustert und uns dann folgt. Er gehörte gar nicht dem Paar und sein Folgen ist für einen Hund bemerkenswert unaufdringlich. Manchmal läuft er uns voraus. Wenn wir stehenbleiben, legt er sich auch mal hin. Als wir von einer Klippe hinaus aufs Meer schauen, tut er das auch, als teile er mit uns diese Melancholie, die uns Menschen überkommt, wenn man auf die Weite des Meeres blickt. Ein kleiner wacher Hund, sehr lebendig, mit sympathischen Augen, der sich zu keinem Moment einzuschleimen versucht. Man wird ständig von Entgegenkommenden auf das kleine niedliche Tier angesprochen. Wie werden wir ihn los. Er hält sich etwas stärker an Steffi. Wir gehen testhalber verschiedene Wege, er folgt ihr. Seine höfliche Treue bahnt ihm einen Weg in mein Herz. Aber die Befürchtung, dass wir in nicht loswerden, wird von einer Dame am Strand genährt, die uns in beruhigendem Ton erzählt, vor ihrem Haus säßen auch immer ein paar Hunde, denen sie zu essen gäbe. Nach ½ Stunde hecken wir den Plan aus, dass Steffi verschwindet und ich den Hund zu mir befehle und dann selbst verschwinde. Der erste Teil gelingt. Als ich davonrenne, mache ich mich zum Gespött der Straße. Dann bleibe ich stehen, er sitzt mir lieb gegenüber, und mit einer herrischen Geste schicke ich ihn weg. Er zögert noch kurz, legt den Kopf schief, als könne er es nicht verstehen, ich sage „Los!“ dann rennt er weg, und dreht sich nicht mehr um. Ich krieg mich vor Traurigkeit nicht mehr ein, selbst beim Schrieben dieser Zeilen stehen dem Hundeverächter die Tränen in den Augen. Wenn es je ein Hund geschafft hätte, meine Liebe zu gewinnen, dann dieser.

*

Die Lektüre der UEFA-Cup-Ergebnisse ist inzwischen weniger an die Fußball-Begeisterung als an das Fernweh nach den Städten gekoppelt, in denen die Mannschaften üblicherweise trainieren und aus denen von Zeit zu Zeit auch ein wichtiger Spieler der jeweiligen Mannschaft kommt.

Isolation durch Ohrstöpsel, um die Liebe zu konservieren.

9.9.06 – 11.9.06

Fr, 9.9. 06
Vor ein paar Tagen war die Chaussee für Jochen nur ein Knochenjob, jetzt schreibt er liebevoll: „wie sehr die show therapie und heimat ist, ich könnte mir kaum vorstellen, wie man noch ohne das vor sich hin leben sollte.“
Wir haben uns darauf geeinigt, den Eintrittspreis zu erhöhen, aber beim RAW darauf zu drängen, dass die Toiletten saniert werden. In den folgenden zwei Jahren sagt man uns immer wieder zu, das zu tun. Wie nett!

Jogge morgens zum Bäcker, um Brötchen zu holen. Unschöne Situation beim Supermarkt, als ich, nachdem ich mein Obst bezahlt habe, nach der Tüte greife, die mein Vorgänger liegen gelassen hat. Als der Verkäufer sie mir wegzieht, deute ich auf mein Brot und er ereifert sich darüber, dass ich eine Tüte haben will für Einkäufe, die ich nicht in ihrem Supermarkt gemacht habe, statt sie mir zu verkaufen oder zu verschenken. Ich frage mich, warum es ihm gelingt, mir 10 Minuten lang die Laune zu verderben.
Die Beziehungsstreits hier im Urlaub sehe ich als Testlauf fürs Zusammenziehen.
Verbringe den Tag damit, alte Texte zu korrigieren.
Blitzlektüre des Feng-Shui-Buchs. Egal, ob das nun wirklich von den Chinesen stammt oder eine von Westeuropäern aufgeschäumte Bestattungs-Lehre ist – die Bilder sind wirkungsmächtiger, als wenn man sagen würde: Räum mal dein Zimmer auf und häng statt der Zierwaffen ein grünes Tuch an die Wand. Einen echten Esoteriker macht aus, dass er den Hokuspokus wörtlich nimmt, an Geist-Schildkröten und „verborgene Schwingungen“ glaubt.
Pünktlich 18.45 Uhr verlassen die Urlauber den Strand. In den Hotels wird gleich das Abendbuffet eröffnet.
Abends weiter im Buch über Zeit. Regeln des Wartens. Derjenige der warten lässt, signalisiert einen höheren Status. Wer einen höheren Status hat, kann sich auch unvermeidliches Warten versüßen (z.B. in der VIP-Lounge im Flughafen) oder abnehmen (z.B. bei Behörden) lassen. In Brasilien wird demzufolge Pünktlichkeit mit Erfolglosigkeit assoziiert. Meine sich herauskristallisierende Regel: Sei selber über-pünktlich und sei so großzügig wie möglich mit der Unpünktlichkeit anderer. Schwierig nur, wenn durch Unpünktlichkeit Kooperation maßgeblich zerstört wird.

*

Wie sehr die Rezeption eines Werkes beeinflusst wird durch den seelischen Zustand. Das ist vor allem bei Kritikern ärgerlich, die nicht in der Lage sind, ihre Gemütsverfassung zu reflektieren.
Jochen fragt lieber nicht nach, mit wem „die Pankowerin“ an die Ostsee gefahren ist. Sie schreibt ihm (SMS oder E-Mail?) „Schwimme nicht weit raus, tauche aber tief.“ Wenn er damals nur ihre Worte verstanden hätte.

Marcel ärgert sich über die neumodischen Sandwiches, die nichts sind im Vergleich zu den von ihm geliebten Törtchen und Kuchen.
JS: „Zum Glück hat Marcel nicht in der DDR gelebt und mitansehen müssen, wie mehr als nur Kuchen und Törtchen vom Markt verschwanden.“
Das Glück des Jochen Schmidt, der spendable Westverwandte hatte und sich nicht mit dem Plunder des Ostens – Ostjeans, Ostschokolade, Ost-Füller – zufriedengeben musste und diesem jetzt hinterhertrauern darf.

***

Sa, 9.9.06

Kleine unhörbare Mücken, die einem die Nacht vermiesen.
Traum über Bohni und Oz, die über das furchtbare Kantinenlesen bei der Radio Eins Party herziehen. Sitzen in einem Raum, und Flake und Paul von Feeling B tauchen auf, später auch Aljoscha mit Rastazöpfen, besoffen wie immer. Ich denke, der war doch schon tot und vermute, dass ich mich ja dann wohl in einem Traum befinden muss. Wenn das aber so ist, dann werde ich, so denke ich, mir auch Ralf herbeiwünschen können. Es funktioniert nicht.
FAZ – Belangloses. Bildunterschrift zu jubelnden schwedischen WM-Fans: Glückliche Schweden. Attraktiver Immobilienmarkt in Schweden wegen steigender Mieten. Ist die PDS in Mecklenburg doppelzüngig, weil sie gleichzeitig Oppositionspartei und Regierungspartei spielt? Als Höhepunkt das lange Interview mit einer sich souverän gebenden Natascha Kampusch. Widerwärtiger noch als BILD sind die profilsüchtigen Psychiater, die sich mit ihren Ferndiagnosen vor die Kameras drängeln.
Gegen 16.20 Uhr begebe ich mich auf einen längeren Lauf. Angepeilt sind 80-110 Minuten. Bis zum großen Strand von Cala Ratjada, dann quer durch die Stadt, so weit an die äußeren Grenzen, bis die Schnellstraßen beginnen, quer durch staubige Wege. Landgüter von Wohlabenden, Pferdehöfe, dann wird es staubig, eine Wasseraufbereitungsanlage, komme in Capdepera heraus und verliere langsam die Orientierung, will einen großen Bogen laufen, um nicht einfach wieder zurückzulatschen, und weiß am Ende nach ca. einer Stunde gar nicht mehr, wo ich bin. Immer am Wasser lang. Denke, da wo die Massen herkommen, wird sich schon Cala de Ratjada befinden. Habe auch keine Karte im Kopf. Komme dann tatsächlich an der Hafenseite heraus, laufe weiter bis zur Cala Gat, wo ich mit Steffi verabredet bin, die von der anderen Seite gerade ankommt. Ca. 80-85 Minuten Auf einer sechs Meter hohen Klippe sonnt sich ein vielleicht 25jähriges Mädchen, es geht sehr steil hinab, sie weckt Beschützerinstinkte.
Im Wasser toben sechs Männer im Alter von 25 bis 45. Tätowiert, biertrinkend, zu Leibesfülle neigend, aber nicht völlig sich gehen lassend. Spekuliere, wie sie zusammengehören könnten. Vielleicht Bundeswehr.
Schwimme noch ¼ Stunde.

*

Ein Journalist verrät Jochen einen Teil der Geschichte. Ist es egal, ob man den Verlauf der Story kennt? Das kindliche „Noch mal“. Das schöne Musikstück hört man immer wieder gern, manchmal funktioniert es bei Filmen, seltener bei Büchern. Geschichten bei Lesebühnen funktionieren selten mehr als drei Mal.

Marcel nun in Albertine verliebt. Man achtet aus egoistischen Gründen mehr auf sich selbst. Er will sie küssen, aber sie „schellt mit aller Macht“.

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So, 10.9.06

Matze verzichtet auf die Reise nach Odessa und lässt mich an seiner Stelle fahren, zwei Monate nach Jochen. Werde Russen das Improvisieren beibringen müssen.
Steffi hat eine Aussichtsplattform entdeckt. Mir ist es zu hell, und die Aussicht beeindruckt die mehr als mich. Als Liebesbeweis bleibe ich eine Stunde mit ihr da hocken.


Weiter im Zeit-Buch. Man muss sich durch viel Anekdotisches kämpfen. Dann ein schönes Kapitel über den seltsamen Umgang der Japaner mit der Zeit. Anscheinend gelingt es ihnen, in kürzesten Augenblicken zwischen ruhig und schnell hin und herzuschalten. Darüberhinaus puffert ein ausgeprägtes Sozialverständnis und Zusammengehörigkeitsgefühl zu Gruppe und Firma die Auswirkungen schnellen Arbeitens und die hohen Arbeitsstunden ab. Es scheint sogar so, als sei nicht das schnelle Arbeiten an sich schädlich, sondern das so oft damit verbundene Konkurrenzdenken und die Feindseligkeit. Außerdem kann man von ihnen lernen, Wege nicht nur als Mittel zum Zweck, sondern als solche zu genießen. Jede Stufe ist ein Wert für sich. Entscheidend sind sie Zwischenräume.
Es gilt, die Fähigkeit zu trainieren, den Geist und Körper umstellen zu können von schnell auf langsam und umgekehrt. Wie im Kampfsport, im Tanz und im Theater.
Immer wieder: Aufmerksamkeit und Achtsamkeit für den Moment – aber woher nehmen, wenn man z.B. gerade an Schmerzen leidet? Aufmerksamkeit ist ja auch harte Arbeit.
Spazieren wieder zur Stadt. Abendessen in einem der billigeren Restaurants, da wir annehmen, dass es ohnehin überall gleich billig schmeckt. Was für ein Irrtum. Schlechter geht’s kaum. Nehmen es mit Humor.
Unangenehme Nacht. Wir werden von Mücken geplagt und können uns nicht wehren. Verstecken uns trotz der Hitze untern den Decken und ziehen deswegen durch unseren Schweiß, der auch das Anti-Mücken-Spray überdeckt, die Mücken an.

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Jochen schwänzt die Lektüre.

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Mo, 11.9.06

Die Restaurants sind hier nicht darauf ausgerichtet, dass Leute wiederkommen, die mehr wollen als Geld sparen, nachhaltige Bewirtschaftung der auf einer Insel sinnlich absehbar begrenzten Ressourcen gibt es nicht.
Südwind hat Müll in die Bucht Cala Gat getrieben. Seltsame Aktivitäten, die von den Besatzungen der beiden Boote ausgehen. Alles wirkt sehr umständlich. Vom einen Boot brauchen sie fast eine Stunde, bis drei Schnorchler ablegen und zur Klippe schwimmen, das andere Boot braucht auch lange, bis endlich ein Schlauchboot mit zwei Männern ablegt.
Als Levinaus dem Reisetrance zurück an die Uni kommt, rutscht er sofort wieder in die alten Muster. Er stellt sich dann die Aufgabe, vor jeder zu erledigenden Sache, sich zu fragen, ob er sie a) machen muss und ob er sie b) machen möchte. Die Quote von a) ist erstaunlich niedrig, die von b) erstaunlich hoch. Wir haben es also in der Hand, wie sehr wir gestresst sind.

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Jochen erinnert sich der alten Klettergerüste, die sich logischerweise da am besten anfühlten, wo die Schutzfarbe abgegriffen war.

Dass Jochen bisher bei Proust noch keine Stil-Zitate erwähnt hat, lässt darauf schließen, dass er sie nicht erkennt oder nicht die entsprechende Brille trägt.

3.9.-7.9.06

So, 3.9.06

Kaufe bei Ebay „Laws of Form“ von George Spencer Brown

Impro-Coaching. Meine Beobachtungen werden immer schärfer. Die Coachings erreichen selbst die Qualität einer guten Improvisation – gute Eleganz und totaler Flow.
Laufe die große Runde durch die Rummelsburger Bucht und Friedrichshain. Die neuen Adidas-Schuhe sind eine große Enttäuschung. Schmerzen in Füßen und Knien. Ich werde sie zurückgeben.
Für Jochen sei das Auftreten derzeit harte Arbeit, ein Job, meint er.
Eine weitere Enttäuschung: „Drei Farben: Blau“. Schöne Farbspiele und gutes Schauspiel, und doch langweile ich mich zu Tode. Frau verliert Ehemann und Tochter. Bezwingt stark ihr Leiden und bemüht sich um Härte, ist aber sehr zart. Am Ende ist sie noch stärker und zarter. Müsste mir noch mal erklären lassen, wer den warum gut fand. Ich fühle mich wie früher, wenn meine Eltern französische Filme geguckt haben und dabei sichtlich mitgenommen waren, während ich nur mit den Schultern zuckte, wenn der Liebhaber von Romy Schneider beim Autounfall stirbt.

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Die Tragödie des Jahres beginnt bei Jochen, so wie bei Tragödien üblich, mit einem schönen Abend: „Am Morgen gemeinsam aus dem Haus. Plötzlich will sie, dass ich schon vorfahre, damit eine Kollegin mich nicht sieht. Seitdem ist alles anders, aber nicht besser. Jetzt bin ich der, der wartet.

Der Reiz des Zustandswechsels der Seele beim Verlieben.
„… dass die Seelenbewegungen, die uns ein an sich ganz unbedeutendes Mädchen verschafft, uns vielleicht erlauben können, tiefere Bezirke unseres Innern in unser Bewusstsein hinaufzuführen, persönlichere, entlegenere, wesentlichere Regionen, als das Vergnügen der Unterhaltung mit einem bedeutenden Mann…“

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Mo, 4.9.06

Letzte Mails vor der Abreise. Bläschen im Mund noch größer und schmerzhafter. Brötchen bei Kaisers, die ich dann später kaum runterkriege. Behandlung mit der Zaubercreme der Eltern, die tatsächlich wirkt.
Rückgabe der Adidas-Schuhe kein Problem. Fußknochen schmerzen nach wie vor. Probiere Asics aus, der Verkäufer bestärkt mich, ohne meine Absicht zu kennen. Sie passen gut. Gleich das gute Laufgefühl wie bei den Schuhen 2001.
Impro-Auftritt in L. Vorbereitungsroutinen – C. braucht ihren mindestens 15 Minuten dauernden Soundcheck wie andere ein physisches Warm Up. Es gäbe nichts schlimmeres, als wenn die Mikros von vornherein OK wären. Das Publikum jubelt. C. + M. genießen den Zuspruch, ich halte mich zurück. N. nach dem Auftritt schweigsam. Er wird wissen, warum.

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J.S.: „Im Rahmen eines Studiums der Literaturwissenschaften müssten die Studenten eigentlich zum Durchleben von emotionalen Grenzsituationen angehalten werden, damit sie die Komplexität bekommen, die man braucht, um große Texte zu verstehen.“

In der Hoffnung, die jungen schönen Mädchen wiederzusehen, verzichtete Marcel lang auf den Besuch beim Maler Elstir. Jetzt trifft er sie ausgerechnet hier bei ihm.

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Di, 5.9.06

XXX konnte ihre Eitelkeit kaum verbergen. Seltsam, wie Eitelkeit, Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex Hand in Hand gehen. Großzügigkeit, Bescheidenheit, Dankbarkeit, Selbstbewusstsein wären angebracht.
Easy Jet. Unterer Mittelstand, der es auch nicht so dicke hat, und deshalb billiges Fliegen zu schätzen weiß. So wie wir. Wir sind die letzten. Sitzen hintereinander. Ich immerhin im Gang, aber Sitze so eng, dass ich mir entweder die Knie abklemme oder die Beine in den Gang halten muss. Nach einer guten Stunde schlafe ich ein und wache im 5-Minuten-Takt wieder auf.
Zum ersten Mal in Mallorca. Osküste – Cala de Rajada. Preise und Angebote zweisprachig Deutsch/Spanisch oder Deutsch/Katalan. Hungrig und in der zweifelhaften Hoffnung, etwas anderes zu finden, gehen wir Richtung Hauptstraße. Dort noch schlimmer. Man sieht keine Spanier auf der Straße. Nur deutsche Touristen. Die Straße gesäumt von Touristenbedarf-Läden, Zeitungskiosken und Restaurants, deren Angebot bis hin zum Döner-Imbiss auf deutsche Bedürfnisse orientiert sind. Die wenigen Spanier, die man überhaupt zu Gesicht bekommt, sind Bedienung, Verkäufer und Dienstleistende. Wir nehmen es zur Kenntnis und versuchen, uns innerlich so zu justieren, dass wir die folgenden Tage unbeschwert überstehen.

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Jochen arbeitet sich an einem rumänischen Storytelling-Überflieger ab.

Marcels erotische Wünsche schrumpfen zusammen, wenn sie erfüllbar werden.
Jochen zieht Freud zu Rate, der dieses Verhalten mit dem Abgrenzen der Mutter vergleicht. Ich denke, man braucht nicht unbedingt das freudianische Märchenbuch. Dem Schwärmen liegt die Angst zugrunde, dass die Wirklichkeit enttäuschen könnte. Die Angst kann ja so weit gehen, dass man sich absichtlich schwierige oder im Ausland lebende Frauen sucht, mit denen die Beziehung praktisch von vornherein auf Zerstörung angelegt ist. Und natürlich ist die Angst auch manchmal berechtigt, aber eben auch nur dann, wenn man überhaupt Erwartungen hegt, anstatt Erwartungen abzulegen, aber wer ist so frei?

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Mi, 6.9.06

In fünf Minuten lese ich die Kurzversion des Buchs „Die fünf Sprachen der Liebe“. Es sind diese:
– Körperliche Nähe
– Beschenken
– Miteinander Dinge tun
– Füreinander Dinge tun
– Einander loben
These des Buches: Wir sprechen verschiedene Sprachen der Liebe und sind für verschiedene Sprachen empfänglich. Ich spreche wahrscheinlich die Sprache der Nähe und des Füreinander, es hapert beim Schenken und beim Loben. Aufs Schenken reagiere ich gehemmt, und es fällt mir auch schwer zu schenken. Es fällt mir manchmal sogar schwer, das Schenken als Liebesbeweis anzusehen, es erscheint mir oft wie ein Surrogat. Loben auch ein heikler Punkt: Inzwischen kann ich Lob akzeptieren, aber es euphorisiert mich nicht. (Oktober 2008: Wie sich das geändert hat!)

Volker und Jochen loben sich gegenseitig:
Jochen: „die cartoons sind echt klasse, sieht professionell und trotzdem eigenwillig aus und sind außerdem witzig, mehr davon!“
(Aus diesen entwickelt Volker später die Cartoonserie „Kloß und Spinne“)
Volker: Vielen Dank. Eine gute Gelegenheit, auch ein Lob loszuwerden: Das Proustblog ist nach wie vor meine liebste Internetlektüre auch wenn ich die Sache, die sich mit der Handlung des Buches beschäftigen nur überfliege
Vorsichtig joggen. Ruhige 40 Minuten auf sehr hügligem Gebiet. Wahrscheinlich sind es kaum mehr als5-6 Kilometer. Aber die Fußknochen tun immer noch weh.
Gemeinsam in die Stadt zum Hafen. Kleinere Straßen sind schon angenehmer, doch am Hafen selbst wieder Touristenhölle. Einfallslose Restaurants. Alle mit exakt demselben Angebot: Suppen, Vorspeisen, Omelettes, Paella, Fleisch, Fisch. Setzen uns in eines der etwas ruhigeren und werden schlecht bedient. Es gibt keine Getränkekarte, bestellte Oliven werden nicht serviert, die Bedienung verschüttet Wasser auf Steffi, und ihr einziger Kommentar lautet: „Ui!“
Hinter uns eine deutsche Familie, zwei Eltern, die ihre beiden Kinder Dorothea und Julius halbherzig von jeder Aktivität abzuhalten versucht.

Ruhige Bucht Cala Gat am Nachmittag. Das Wasser ist warm und klar.
Überlege, wann ich das letzte Mal im Meer geschwommen bin. Es dauert eine Weile, bis ich herausfinde, dass es 2004 in Sharm El Sheik war, wo ich in der Shark Bay schnorchelte.
Die alten Uhren im Kloster zeigten sie die Zeit nicht an, sondern verkündeten sie. Clock – Clocke – Glocke.

*

J.S: Man meidet Mitmenschen, um das anstrengende Nachjustieren der Selbstwahrnehmung zu vermeiden.
Bei Frasier gebe es eine Folge, in der ihm in einem Holzhäuschen in den Bergen alles Exfrauen erscheinen. Horst Evers hat dieses Grauen noch verschärfter dargestellt: Er ist in einem Café mit seiner Ex verabredet. Als er dorthin kommt, sitzt nicht nur sie am Tisch, sondern laute dickliche Typen mit Haarausfall und rotem Hemd.

Die Begegnung mit Albertine kann er nur als Foto-Negativ erfahren, den Genuss hätte man nur allein daheim in der Dunkelkammer.

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Do, 7.9.06

M. hat seine Diplomarbeit abgegeben, die der Grund für seine lange Unzufriedenheit war. Er weiß noch nicht, dass er in eine Nachstudiumsdepression verfallen wird.
Die Ebay-Auktion der 37 Vinylplatten hat 48 Euro gebracht. Mehr als erwartet. Wenn man andererseits bedenkt, wie oft ich den Zwanziger in der Hand zweifelnd geknüllt habe.
Jochen mailt dem „Internationalen Literaturfestival“ zum vierten Mal, dass Sie aufhören sollen, uns ihren Spam zu schicken. Das wird auch in den folgenden Jahren nichts bringen.

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Für Jochen ist es unklar, dass sich „Ausländerinnen“ darüber ärgern, wenn er sich über ihre hübschen Fehler amüsiert. Das ging mir eine Weile auch so, bis ich es umgekehrt erlebte. Man legt alle sprachliche Kraft aber eben auch emotionales Engagement in das Bemühen, dem anderen etwas mitzuteilen, dem das dann weniger wichtig ist als sein privates linguistisches Amüsement.

J.S.: „Schade, dass aus Prousts Zeit ausgerechnet das Diabolo überlebt hat und nicht zum Beispiel das Korsett.“
M.P.: „Wie bei einer Pflanze, an der die Blüten zu verschiedener Zeit zu Früchten reifen, sah ich am Strande von Balbec bereits die alten Damen, die harten Fruchtschoten, die schwammigen Wurzelknollen vor Augen, zu denen meine Freundinnen eines Tages zwangsläufig werden mussten.

29.8.-2.9.06

Träume, ich liefe den Marathon in Badehose.

Passend zur Diskussion bei der Chaussee und zum gegenwärtigen Thema in "Schmidt liest Proust" das Gespräch von Gottschalk und Reich-Ranicki:

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Di, 29.8.06

Die Anfrage, ob ich eventuell als Comedian und Animateur auf der Internationalen Flugausstellung auftreten möchte, habe ich nach kurzem Zögern zugesagt, schon weil ich wissen will, ob ich das kann und um Neues auszuprobieren. Werde nervös und notiere Gag-Ideen übers Fliegen, Flugzeuge usw. Erst als zwei Tage später de Absage kommt, wird mir klar, dass IFA die Abkürzung für Internationale FUNKausstellung ist.
Verabschiede mich von 37 Vinylplatten, die ich bei Ebay anbiete. Spiegellektüre. Interview mit Rushdie, der wohl anscheinend von seinen Ausflügen ins konservative Lager kuriert ist. Hat man tatsächlich als Liberaler eine so andere Wahrnehmung, nur weil man in den USA wohnt, so dass man wirklich glauben konnte, die Invasion in den Irak war gerechtfertigt?
Stelle Youtube-Video über die Räumung der Yorckstr. 60 ein.

 

U. erzählt, Oma gebe jetzt schon ihr Geld an uns, da sie es "mit warmen Händen" geben möchte. Eine Formulierung, die mich zutiefst irritiert, da sie sofort das Gegenbild – die kalten Hände eines Toten – evoziert.
Schmerzen in den Beinen. Hoffe, es ist kein Muskelfaserriss, der den Marathon verderben würde.

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Elitismus läge "an den Mitmenschen, die sich disqualifizieren". Wovon? Disqualifiziert sich etwa ein Kind durch seine Unwissenheit. Qualifiziert es sich wiederum durch seine Neugier? Für wen zählt man selber zum Mob?
J.S.: "Irgendwann wird mich die Anstrengung aber überfordern, die man aufbringen muss, um nicht elitär zu wirken." Vielleicht ist das der Punkt, an dem einen so ein Gleichmut befällt, dass diese Kategorien irrelevant werden.

Baron de Guermantes war einst "tonangebend": "Ob er zum Kuchenessen anstatt eines Löffels eine Gabel benutzte oder ein selbsterfundenes Essgerät, das er für seinen persönlichen Gebrauch bei einem Goldschmied hatte herstellen lassen, es war von dem Augenblick an nicht mehr erlaubt, anderes zu verwenden." Ist das nun bewundernswert, wenn das die "tonangebende" Leistung der kulturellen Elite ist?

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Mi, 30.8.06

Anfrage einer jungen Designerin, fürs Dunkeltheater ein Corporate Design zu erstellen – kostenlos. Wer weiß, wen wir drauf eingegangen wären, würden wir heute vielleicht noch regelmäßig spielen?
Vor dem Auftritt in die Sauna, so dass es mir gelingt, mich so zu entspannen, dass ich die Negativität meiner Kollegen auf der Bühne mit einem Lächeln wegstecke.

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J.S: "Ich kann für Menschen erst etwas empfinden, wenn sie etwas preisgegeben haben, was sie an sich nicht verstehen." Die große Leistung von Jochen und Stephan bei der Chaussee – immer wieder die eigenen Schwachstellen sichtbar zu machen, ohne dabei peinlich zu sein. In dieser Schonungslosigkeit sind diese beiden die einzigen Lesebühnenautoren, die dazu in der Lage sind.

Marcel erkennt, dass "Frauen auf Männer, mit denen sie leben, verfeinernd einwirken können." Und wieweit ist das umgekehrt der Fall?

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Do, 31.8.06

Im Theater sei eingebrochen worden, es fehlen Kasse, Lichtpult, Boxen. Wir suchen die Schuld zunächst bei uns – haben wir nicht abgeschlossen? Aber die Diebe kamen über den Hof.
Chaussee mit vielen guten Beiträgen, aber irgendwie nicht richtig rund. Jeder ein bisschen für sich. Nach dem Yorckstraßen-Video kommt tatsächlich in der Pause ein Hausbesetzer-Typ auf mich zu, der mich auffordert, mich zu positionieren. Immer wieder interessant, dass Ambivalenz für viele nur schwer auszuhalten ist.

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J.S.: "Bücher sind wie Gesprächspartner, die nicht weglaufen können, die Leser bürden ihnen ihr Seelenleben auf, und ihre Identifikation mit dem Buch ist vielleicht eine genauso fehlgeleitete Projektion wie die eines Stalkers mit seinem Opfer."

M.P.: "Ich befand mich in einer jener Perioden der Jugend, die, nicht von einer speziellen Liebe beherrscht, allem offen stehen."

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Fr, 1.9.06

Mit seinem Vorschlag, den Eintrittspreis auf 4 Euro bei der Chaussee zu erhöhen, löst J. eine längere interne Debatte aus. Am Ende entscheiden wir mit 4:2 Stimmen dafür.
Meine Stimme immer noch angegriffen vom stimmlich ungestützten Schreiausbruch auf der Bühne am Mittwochabend.
Bei einigen Impro-Spielern sehe ich schon vor der Show, wenn sie unfokussiert sind.

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Auf einer Party trifft Jochen den "Sänger einer Rockband, die man als Jugendlicher gehört hat."
Wer mag es sein? Von den Ostdeutschen könnte es eigentlich nur eine Band aus dem Untergrund sein. Eine Band wie Rockhaus hätte Jochen schon aus Peinlichkeitsgründen nie gehört. Eigentlich kommt nur Frank Trötsch in Frage.

Es deutet sich an, Marcel könnte eines Tages einen Roman schreiben.

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Sa, 2.9.08

Ein Tag ohne Einträge in meinem Tagebuch.Coaching der Peperonis und anschließend Kantinenlesen überfordert meine Kondition.

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Jochen schwänzt die Proustlektüre wegen eines Fußballturniers.

***… Weiterlesen

23.8.-28.8.2006

Mi, 23.8.06

Aufwachen mit einem sehr realistischen Traum: Eine Punkerin fragt mich, ob sie und ihre zwei Freunde nicht im Fortgeschrittenen-Workshop mitmachen dürfen. Während ich schon halbwach überlege, wieviel ich heute laufen will, denke ich noch unterbewusst, welche Antwort ich ihnen geben soll („Nur wenn ihr hart an euch arbeitet“).
Laufen auf der nach wie vor gesperrten Laufbahn. Es ist trüb und etwas kühl, fast ideal. Wie immer auf der Bahn verzähle ich mich dann mit den gelaufenen Runden, wenn ich es nicht mal mehr von der Zeit rekonstruieren kann. Lauf-Forum: Wenn man zu viel reines Wasser trinkt, kommt es zu einer sogenannten Elektrolyt-Verschiebung. Deshalb also lieber die Tees trinken und zwischendurch auch Banane essen. Schicke den Link an Jochen. Bei Knieproblemen wird Aqua-Jogging empfohlen.
Unterdurchschnittliche Impro-Show. E. im Zuschauerraum. Fühlt sich berechtigt, Statements abzugeben, statt Fragen zu stellen. Versuche, mich nicht auf Statusspielchen zwischen Improexperten einzulassen. Das amerikanische Improtheater sei in der Krise. Dass ich nicht lache.
Mail an die Bayrische Wasserschutzpolizei, seit wann auf dem Starnberger See von der Polizei Motorboote benutzt werden.

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Während ich beim Laufen Glück habe, wird Jochen in "Alt-Lipchen" vom Regen überrascht. Jauche-Jens überholt ihn. "Jauche geht immer."

J.S.: "Wir leben nicht nur in der Gegenwart (vielleicht sogar nie), sondern wir sind eine Vielzahl von verschütteten Ichs, die wachgerufen werden können. Alle, die in einem langen Leben zusammenkommen, zu verwalten, erfordert Kraft."

Proust enttäuscht von der sich prosaisch darbietenden Kirche in Balbec, von der er sich ein derart romantisches Bild gemalt hat, dass es ohnehin nur enttäuscht werden kann.

Eine Konstante bei Chaussee-Reisen in Ostdeutschland: Wir werden auf dem Bahnhof abgeholt und in zwei Autos aufgeteilt. Jochen fährt stets mit dem Veranstalter oder dessen Beauftragten und quetscht ihn über die Stadt aus: Wieviele Abgewanderte, wieviel ist von der (DDR-)Architektur übriggeblieben, welche Teile der Stadt wurden bombardiert, welche warum nicht, usw. So viele Fragen, auf die man nicht kommen würde. Es lohnt sich, sich an Jochens Fersen zu heften.

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Do, 24.8.06

Jochen und Bohni fehlen deutlich bei der Chaussee. Ihre Vertretungen sind nicht in Form: Ermüdend bzw. unverständlich.

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Jochen glaubt, sich zu erkälten.
Erkenntnisgewinne auf dem Lande in den Bereichen Ökologie, Landwirtschaft, Zoll, Drogen, Medizin, Psychologie, Selbstverteidigung.

Die Enttäuschungen habe sich Proust selbst zuzuschreiben: "Selbst schuld, wer verreist."
In der Tat muss man das Reisen in Zeiten des Reisens neu definieren. Am besten geht’s wohl noch dem, der einfache Ziele hat – Baden, Klettern usw. Man kann höchstens Pech mit dem Wetter haben. Alles andere kann man vorher in Erfahrung bringen. Aber wer wirklich etwas entdecken will, hat es schon schwerer. Auf der Suche vor Ort lässt sich die Authentizität von der Lüge schwerer unterscheiden als in der Bibliothek. Und wenn sich das Falsche so sehr eingefressen hat, löst es das Authentische schon wieder ab, das Authentische existiert nur noch als Zitat. Nickend-kennerhaft schlendern die Touristen durch die Hackeschen Höfe und die Sophienstraße, während ihnen die Touristenführer anhand der renovierten Fassaden das 20er-Jahre-Berlin erklären. An der Oberfläche der renovierten Architektur entzündet sich die Phantasie, der Reisende glaubt, Einblicke bekommen zu haben, hakt den Punkt "Hackescher Markt" ab, und weiter geht’s zur Synagoge in der Oranienburger Straße. Der Geschäftsreisende wiederum, der kaum Zeit zwischen zwei Terminen hat, sollte penibel darauf achten, ein passendes Restaurant in der Umgebung zu finden, sonst ruiniert er sich den Darm. Zur Not tut’s auch ein McDonalds, das Personal hat Englisch zu sprechen, in der Nachttischschublade liegt Gideons Neues Testament.
Freunde besuchen – das lass ich gelten.

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Fr, 25.8.06

Der Fernseher ging für 13, der Videorekorder für 25 Euro bei Ebay weg. In der DDR hätte man dafür vier Monatsgehälter hinlegen müssen.
Das war nach der Wende das Irritierende, und bis heute hadere ich damit: Dass jetzt der Luxus billig und die Lebenshaltungskosten teuer sind.

Seit Jahren bemühe ich mich recht erfolgreich, nicht zu lästern. Nun konnte ich Anfang der Woche doch nicht an mich halten, und prompt stellte sich heraus, dass mein Gesprächspartner der Freund des von mir Belästerten war. Jetzt rudere ich zurück, der Freund akzeptier und ich hoffe, gelernt zu haben.
Abends bei den Gorillas, die eine nette Show spielen. Vielleicht die beste in den letzten Monaten. Gute Figuren, elegantes Improvisieren. Klarheit und Überraschungen, Freude auch beim Scheitern. U. hat einen Auftritt mit uns abgesagt, um hier auszuhelfen, was ich wahrscheinlich auch getan hätte. Ich würde auch von jedem der Bö-Spieler behaupten, dass er sich gut einfügt. Das Verrückte aber ist, dass die Gorillas als Gruppe so gut funktionieren. Eine solche Show würde die nur selten hinkriegen. So wie es auch bei der Chaussee der Enthusiasten funktioniert: Man kann ein oder zwei Gäste einladen und erwarten, dass sie an dem Abend ihr Bestes geben, und die Show wird immer noch als solche zu erkennen sein. Aber die Gäste auf sich gestellt, könnten es nicht.

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Zeit für Jochen, aus "Alt-Lipchen" abzureisen, bevor er institutionalisiert beobachtet wird wie das Postauto.
Marcel versucht, Kontakt zu finden, aber "Die Madame entfernte sich, und ich blieb in meiner Einsamkeit zurück wie ein Schiffbrüchiger, der geglaubt hat, ein Schiff nähme Kurs auf ihn, nachdem es dann wieder verschwunden ist, ohne Anker zu werfen." Ein Bild, dass Proust noch nutzen konnte, für uns ist es inzwischen nur noch als Karikatur vorstellbar – das Subgenre der Schiffbrüchigenwitze – 2qm große Insel mit genau einer Palme.

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Sa, 26.8.06

Mit Hilfe vom Carsten Joost (inzwischen bekannt durch seine Inititative "Mediapree versenken") hatten wir vor Jahren bei einer Show spontan eine Stumm-Version von Schneewittchen synchronisiert. Ich stelle sie bei Youtube ein.

 

Meine Anfrage nach Motorbooten der Wasserschutzpolizei wird nichtbeantwortend beantwortet: "laut unseren Aufzeichungen wurde am 15.03.1947 auf Erlaß der Westallierten die ‚Waterpolice‘ u. a. auch für den Starnberger See gegründet. Seit dieser Zeit verrichten die Beamten der Wasserschutzpolizei ihren dienst auf den oberbayerischen Gewässern." Vor 1945 also nichts…

Abends reißt Jochen mit seinen Texten und seiner guten Laune die Kantinenlesen-Show.

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Zeitangabe: Jochen arbeitet drei Stunden an 20 Proust-Seiten. Ich arbeite drei Stunden an 20 Schmidt-Seiten.
Nachdem ihm am Vortag auf S. 811 der erste Druckfehler aufgefallen ist, unterlaufen ihm oder seinen Lektoren nun auf S. 105 gleich zwei:
"Ist denn der kampf (sic!) um Eu-Fördermittel noch ein dramatischer Stoff wie die Bodenreform für "Die Umsiedlerei" (Dieser Fehler bei einem Müller-Kenner muss Absicht oder Sabotage sein!).

Prousts Fähigkeit, "in die Ferne zu blicken", dabei doch so viel wahrzunehmen und später rekapitulieren zu können. Könnte fast eine Selbstbeschreibung Jochens sein. Oder ist Proust nicht mit Notizbuch rumgerannt?

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So, 27.8.06

S-Bahn-Fahrt zum Trainingslauf im Grunewald. Immer mehr Läufer steigen zu. In Ostbahnhof zwei Frauen. Eine sehr fett und unproportioniert, dass man ihr raten möchte ab und zu Sport zu treiben, sie redet von nichts als Sport und Laufen. Denke schon wieder, dass es diese Frauen sein werden, die mich später durch ihre Figur und ihr Tempo demütigen werden. Tatsächlich sehe ich eine von ihnen später wieder, sie hat sich ca. 2 Liter Getränke um ihren Wanst geschnallt und leidet nach 15 km, dass es ein Jammer ist.
Jochen wartet vor den Toiletten.
Brauche drei Stunden und es dauert bis zum späten Abend, bis mein Puls sich normalisiert.

 

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Auch Jochen Schmerzen. Aber am Abend noch "mit dieser blonden Zuschauerin" zu einem Tanzstück ins Dock 11. Dürfte FIGURE 8 RACE Remix gewesen sein.

Marcels "Verweile doch, du bist so schön"-Moment.

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Mo, 28.8.06

Jochen mailt, Kathrin Passig hat für die Chaussee zugesagt, da sie nun verstanden habe, dass er "der mit proust und der mit der chaussee" ist.
Seit Donnerstag stelle ich die Preisfrage, welche Filmfigur "Gustav von Bier" ist. Jede Woche lasse ich mehr Informationen durchblicken. Bis zum Jahresende schafft es niemand, da die Figur nicht zu googeln ist. August Bier, der deutsche Arzt, ist es nicht, auch wenn der Mailschreiber damit näher liegt, als er glaubt.

Immer noch Nackenschmerzen, die in den Kopf strahlen.

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"Wie bei jedem Buch, das einem gefällt, lebt man ja in der Illusion, es sei nur für einen selbst geschrieben." Unklar. Ich genieße das Wissen, dass sich Tausende andere Eingeweihter diesen Genuss teilen.

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14.8.-22.8.06

Mo, 14.8.06

Jochen versucht, Kathrin Passig als Gast in die Chaussee zu lotsen, was sich schwierig gestaltet, da wir einerseits immer nur Gäste haben, wenn sie einen von uns vertreten, andererseits will jeder Kathrin Passig erleben.

Schwanke, ob ich aus der BÖ austreten soll oder häufigere Proben vorschlage. Entscheide ich (noch) für Zweiteres. Skizziere ein Format für eine improvisierte Musik-Show. Das Problem bei so etwas ist, dass die große Strukturalisierung und Formalisierung solcher Shows und Formate den Improgedanken etwas in den Hintergrund treten lassen.
Abends 9 km Tempolauf.

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Jochen notiert Familiengeschichten über die Flucht (mütterlicher- oder väterlicherseits?). Davon gibt es bei uns keine. Mein Vater floh als Dreijähriger aus dem östlichen Teil Görlitz‘. Da lebte seine Mutter schon nicht mehr. Er selbst hat nur vage Erinnerungen an eine Explosion auf einem Bahnhof.

Man erinnert sich besser an Gesichter aus der Kindheit als an das der Geliebten, und zwar je mehr man sich auf sie zu konzentrieren versucht. Der Mona-Lisa-Effekt: Man sieht das Lächeln nur, wenn man nicht darauf fokussiert. Betrachtet man den und genauer, wirkt er nicht gerade lächelnd.

J.S.: Unsere Defizite sind unsere größte Ressource.

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Di, 15.8.06

Bestellungen bei Amazon:

  • Kari Hotakainen: "Buster Keaton. Leben und Werke." – Etikettenschwindel, wie sich später zeigt.

  • Alan Wykes: "Reichsführer SS Himmler." – Etwas zu locker-flockig für meinen Geschmack.

  • Sanford Meisner: "Sanford Meisner on Acting" – Ich vertiefe mich.

  • Edward Dwight Easty: "On Method Acting" – Schöne Einblicke und Details

  • Anne Bogart: "The Viewpoints Book: A Practical Guide to Viewpoints and Composition" – Öffnet Türen und Welten.

Lauf 9km
Verkaufe  Fernseher und den Videorekorder – beides vor fünf Jahren bei Ebay gekauft und so gut wie nie verwendet – bei Ebay.
M. ist es seltsamerweise nicht peinlich, mir Werbe-Mail für ihr Buch zu schicken.

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Jochen in der Bahn nach "Alt-Lipchen". Wenn einem, wie zu Prousts Zeiten die Stellung ansehbar wäre, würde es genügen, ein Passfoto einzureichen.
Vielleicht liegen deshalb die typischen Hochstaplerromane und -streiche in jener Zeit: Kellers "Kleider machen Leute" bis Hauptmann von Köpenick. Manns "Krull" wirkt schon etwas antiquiert. Und dass jemand wie Gert Postel es in den 90ern noch schaffte, lag sicherlich vor allem an dem verstaubten Hierarchieverhalten in Krankenhäusern.
Jochen meint, man könne sich nur durch verschiedene Arten, die Zigarette zu halten, distinguieren. Ich sollte ein Video drehen: "Hundertzweiundzwanzig Arten, eine Zigarette zu halten." Leider bin trockener Raucher.
So konsequent naiv liest er Proust denn doch nicht. Albertine würde "ganz am Rande" eingeführt. Woher weiß er, dass sie noch eine wichtige Rolle spielen wird? Aus Proust-Essays? Es entmutigt: Was muss man über Proust wissen, wenn man "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" lesen will?

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Mi, 16.8.06

Improtheater, sagt Randy Dixon, ist wie Rückwärtsgehen, man ist im Moment und behält dennoch alles im Blick, was geschehen ist. Die Aymara in den Anden deuten, wenn sie von der Vergangenheit sprechen, nach vorn. Die Zukunft liegt für sie im Rücken. Man kann die Zukunft nicht kennen.
Mail von K., dessen seltenen Familiennamen ich in einer fiktiven im Salbader online veröffentlichten Kurzgeschichte verwendet habe. Er bittet mich, das zu ändern. Ich halte den Wunsch für absurd, aber warum soll man nicht jemandem einen Gefallen tun? Bitte den Redakteur und den Administrator um eine kleine Änderung, die dies zum Anlass nehmen, dem armen Teenager Grundsatzreferate zu schreiben.
Ersteigere bei Ebay von Robert Butler "Die Gestapo". Noch ein Nazibuch. Steffi findet es abtörnend, wenn mich morgens der Postbote klingelt, um ein Buchpäckchen abzugeben, und uns nach dem Öffnen des Päckchens Gestapofressen vom Cover anglotzen.
Am Nachmittag klingelt Frau G. an der Tür, ich überreiche ihr ihr Paket. Sie fragt mich, ob ich noch lange hier wohnen bleibe. Es entspinnt sich ein 20minütiges Gespräch. Ich stehe ihr mit meinem stinkenden Lauf-T-Shirt gegenüber, dass ich mir in der Eile übergeworfen hatte. Sie sagt, dass sie wegen der guten Verkehrsanbindung nicht wegziehen wolle. Im Osten wäre alles noch einfacher gewesen, da habe man kurz vor den Wahlen eine Eingabe geschrieben, das habe dann meistens geholfen. Heute brauche man Geld.

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Jochen kann es nicht ertragen, dass seine Tochter "Die Raupe Nimmersatt" dem "Angsthasen" vorzieht. "Wie der Erbe eines Firmenimperiums, der die Tradition des Hauses aufgibt, um stattdessen Tanzkritiker zu werden." Meint der Autor Jochen Schmidt hier den Tanzkritiker Jochen Schmidt?

M.P.: "Man muss zu dem Schluss kommen, dass eine solche Unterwerfung (gemeint ist die intellektuelle Unterwerfung Swanns unter Odettes Ignoranz) der Elite unter die Gewöhnlichkeit in vielen Ehen die Regel ist.

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Do, 17.8.06

10km-Lauf.
Rekordverdächtige Besucherzahlen bei Chaussee. Eine so gute Show, dass niemand von den Zuschauern das interne Knistern bemerkt.

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J.S.: "Der männliche Körper lässt sich zum Glück durch Sport beliebig verschönern."

M.P.: "Wenn die Wirklichkeit sich genau nach dem formt, was wir so lange geträumt haben und sich vollkommen damit deckt, ergibt sich zweifellos, daß sie uns die Formen ebenjenes Traums verbirgt und sich mit ihnen verbindet wie zwei ganz gleiche aufeinandergelegte Figuren, die nur noch eine bilden, während wir, damit unsere Freude ihren vollen Sinn bekäme, gern sähen, daß unser Wunschbild an allen Punkten in dem Augenblick, so wir daran rühren wollen – um ganz sicher zu sein, daß es das richtige ist -, die Eigenschaft des Ungreifbaren behält."

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Fr, 18.8.06

Ich schicke einen Text an den Salbader. Vorerst zum letzten Mal.
Der Tag wird aufgefressen von der Dispo fürs Kantinenlesen.

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Jochen schummelt neuere Gedanken ins Buch, die im Blog nicht vorkamen: Die Missverständnisse zu "Kings of Queens" und "Königs WURSTERhausen". Das Buch wird dadurch nicht schlechter.

Über Journalisten, die das Wahre, Authentische des Autors hervorzerren wollen.
Ich breche inzwischen Interviews so schnell und höflich wie möglich ab, wenn eine der Fragen lautet: "Kann man sagen, Sie sind ein …?" Billiger Journalismus will andauernd etikettieren. Die Ekligsten unter den Billigjournalisten wollen auch noch, dass man sich deren klebrige, selbstgebastelten Etiketten selber anpappt.
Das Interview von Gottschalk mit Kinski bei "Na sowas!" wurde berühmt, weil Kinski mal nicht ausgerastet ist. Wenn ich Kinskis Ausbrüche oft nicht verstanden habe, hier hätte ich es ihm verziehen. Gottschalk schon damals schmierig antatschend und tarnt Belanglosigkeiten als Fragen, auf die es keine Antworten gibt: "Sie sind also kein von sich aus stressiger Mensch?" Oder komplette Doofheiten: "Wir Deutschen sind ja auf unsere paar internationalen Stars stolz."

 

Sa, 19.8.06

Kann mich nicht zum Laufen überwinden.
Entdecke Brookers bei Youtube. Meine Befürchtung, dass sie ihr verrücktes Charisma eines Tages amerikanisch eindampfen lässt, soll sich noch bestätigen, aber sie kehrt zurück zu den Wurzeln.
Wenn ich schon unmotiviert bin, will ich doch wenigstens verstehen, was man an Ballerspielen wie Unreal Tournament gutfinden kann. Lade eine Demoversion runter und komme damit nicht klar.
Beim Kantinenlesen singe ich Mozart – ein kleines Sakrileg, etwas Fremdes vorzutragen. Aber einmal pro Jahr darf man es sich herausnehmen, vor allem im Mozartjahr, besonders wenn es mit meinen Mozartanekdoten verknüpft ist.
Gespräch im "Schusterjungen": Thomas Mann schrieb jeden Morgen 1,5 Stunden. Am Nachmittag nahm er sich dieselbe Zeit, um das Geschriebene zu korrigieren. Allgemeine Faszination, vermutlich weil es so plausibel und gleichzeitig unaufwendig klingt – das gigantische Werk Manns haben alle im Hinterkopf. S. meint, ab September täte er das auch. Bin skeptisch: S. ist ein Wenigschreiber.

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Jochen joggt 2 Stunden in "Alt-Lipchen".
Auch er unmotiviert, aber eher was Proust betrifft, da er einen negativen Kommentar im Blog erhalten hat.
Marcel dramaturgisiert Dialoge, "die den Swanns hätten gefallen können." Vielleicht eine Phase, durch die jeder Jugendliche durch muss, bevor er in der Lage ist, sich in Gesprächen zu öffnen?

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20.8.06

Joggen nach Mariendorf. Auf der Hälfte der Strecke ein dringendes Bedürfnis. Kein Restaurant o.ä. in der Nähe, wo ich auf die Toilette könnte. Schlage mich ins Gebüsch und behelfe mir mit einem Teil des kopierten Stadtplans, den ich dabeihabe, um mir den Weg durch die unbekannten Teile Westberlins zu bahnen.
Am Abend Improshow von Kollegen. Ich versuche, nicht mit Lob zu geizen.

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Untersuchung von Details des Hauses in "Alt-Lipchen": "Jedes Detail am Haus ist eine Lösung für ein Wohnproblem, das sich früher einmal gestellt hat, und auch, wenn man es nicht mehr kennt, weil die Erbauer des Hauses nicht mehr leben, muss man die Lösung respektieren.

"Jeder Besuch, den ich Madame Swann machte, ohne Gilberte zu sehen, war grausam für mich, aber ich fühlte, dass er um ebensoviel das Bild verschönte, dass Gilberte von mir in ihrer Vorstellung trug."

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Mo, 21.8.06

Frühstück in Steffis WG besteht immer aus Toast, was mich unbefriedigt lässt.
Mein PC hat einen Virus. Alle Versuche, das Problem zu lösen, scheinen es zu verschlimmern.
Mail von Jochen, er wolle unter den schwierigen Umständen, die die Radio-Eins-Party bereitet, nicht auftreten, bereitet mir physische Schmerzen. Warum, weiß ich heute nicht mehr.
Abends sehe ich, nachdem ich mir nun jeden Tag eine halbe Stunde davon angetan habe, den Rest des langweiligen "Signs" von Shyamalan. Frage mich, wie es sein kann, dass jemand einerseits so eine Grütze, dann aber wiederum Meiserwerke wie "Sixth Sense" und "Village" erschafft. Am Ende tauchen auch noch die Außerirdischen auf, und die sehen aus, als hätte man ihr Design einem polnischen Karnevalsverein überlassen.

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J.S.: "Wie Thomas Mann mit sechs Kindern so dicke Bücher schreiben konnte, ist mir ein Rätsel." Er laboriert also an derselben Frage wie wir vor zwei Tagen im Schusterjungen. Aber bei ihm bin ich optimistisch – er könnte auch schreiben, wenn er als Kindergärtner arbeiten müsste.

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Di, 22.8.06

Bei den Surfpoeten wird Rauchverbot eingeführt. (Ein halbes Jahr später wird bei Stein Lungenkrebs diagnostiziert.)
Magazin Neon. Ein Ableger vom Stern über einige meiner aktuellen Themen: Paarurlaub und Kritikfähigkeit. Über beides nur Binsenweisheiten. Häppchenjournalismus für BWL-Erstsemestermädchen.

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J.S.: Almodovar muss sich nicht von Franco distanzieren, wenn seine Filme in der spanischen Provinz der 70er Jahre spielen. Aber uns haut man jede Kindheitsgeschichte als DDR-Nostalgie um die Ohren.

An etwas anderes als an die Geliebte zu denken, sind für Marcel: "Terraingewinne der Liebe gegenüber."… Weiterlesen

12.8.-13.8.06

Gestern aus Versehen 15 Seiten "zu viel" gelesen. Wie konnte das geschehen? Schmidt liest Proust beginnt auf Seite 15. Am ersten Tag las ich zwanzig Seiten, also bis Seite 35. Am zweiten Tag dachte ich nicht lang nach und glaubte, nun "wieder 35 Seiten" bearbeiten zu müssen. Erst als ich fertig war und mich wunderte, warum es so lange gedauert hatte, bemerkte ich das Versehen.

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Sa, 12.8.06

R. kommt betrunken zum Kantinenlesen und kippt allein während der ersten Showhälfte zwei Wodka und zwei große Bier. Seinen letzten Text muss er abbrechen. Ab wann darf ich etwas sagen? Ich organisiere und moderiere zwar die Show, aber es ist eine gemeinsame Veranstaltung der Lesebühnen. Manchmal wünsche ich, jemand anders würde all diese organisatorischen Dinge und die Verantwortung übernehmen, ich könnte mich zurücklehnen und mich wie alle anderen aufs Vorlesen und Rummäkeln beschränken.
Versuche M. ein neues Projekt schmackhaft zu machen und frage, wie weit ich dabei auf ihn bauen könne. Er erzählt nur, wozu er derzeit nicht in der Lage ist.

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Jochen zögert, nach der Rückkehr von einer größeren Reise den Zustand der Wohnung zu verändern, die ja ein Zeugnis davon abliefert, wie man gelebt hat, bevor man abgereist ist. Bei mir völlig anders. Ich bin, nachdem ich Stapel von alter Wäsche, Post, Zeitungen und mitgebrachtem Plunder errichtet habe, jedes Mal tagelang damit beschäftigt, diese Berge abzutragen. Von den Aufgabenbergen ganz abgesehen. Ein bekanntes Sachbearbeiter-Phänomen: Der Aufgabenberg zerstört den Erholungseffekt innerhalb von zwei Tagen.

J.S.: "Die Tragik der mit einem reichen Innenleben Ausgestatteten, sie stehen im Gespräch immer als Idioten da, nur weil sie sich nicht unter ihrem Niveau ausdrücken wollen. Entweder, man liest nur noch ab, was man schriftlich vorformuliert hat, oder man schweigt. Gut reden können doch nur die, denen ihre Gedankengänge nicht ständig die Sätze verkomplizieren." (Man finde die beiden Kommafehler.) Sie stehen nicht nur wie Idioten da, sie sind auch welche. Gedanken zu formulieren muss trainiert werden, sage ich mir jede Woche, wenn ich meine Ähms bei den Anmoderationen höre.

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So, 13.8.06

Ich schaue morgens dem strömenden Sommerregen zu. Erwäge, auf dem Balkon zu frühstücken, entscheide mich dann aber dagegen.
Lade Chaussee-Filmchen bei Youtube hoch. Schon jetzt ahnt man, wie unmodern diese Technologie bald sein wird. Das Hochladen dauert selbst mit DSL ewig, die Qualität ist miserabel. Von 2006 bis 2008 ändert sich nichts daran, außer dass Google Youtube übernimmt, dabei lässt Google-Video die längeren Filmclips zu. Aber gegen die Vernetzung der Youtube-Community kommt auch Google nicht an.

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Welche Rolle spielen die Zitate in einer wissenschaftlichen Arbeit? Jochen hält es für zumutbar, dem Professor statt des Exzerpts das gelesene Exemplar mit den Anstreichungen zu geben: "Dass ich alles für ihn abgetippt hatte, war doch nur ein Zugeständnis an universitäre Gepflogenheiten gewesen."

Warum hat Swann Odette geheiratet, warum hat er sie je geliebt? In literarischen Werken und im Film habe ich mich das häufig gefragt: Warum liebt Paula den Spießer Paul? Warum liebt Alexis Sorbas den betulichen Engländer Basil?
Proust: "Zweifellos begreifen nur wenige Menschen, welchen rein subjektiven Charakter das Phänomen der Liebe besitzt (sic!) und wie sie sich gern aus Elementen, die in ihrer Mehrzahl aus uns selber stammen, eine deutlich von derjenigen, die im wirklichen Leben den gleichen Namen trägt, unterschiedene Ersatzperson schafft."
Die Liebe so dinglich zu begreifen führt bei Proust offenbar zu all dem Leid. Solange wir die Liebe als Sache verstehen, als Phänomen, das uns erfasst und uns verlässt, ist sie wahrlich eine Grippe. Erst wenn wir zu lieben in der Lage sind, wenn wir verstehen, dass Liebe uns nicht überfällt, sondern Aktivität braucht, sind wir vielleicht in der Lage, sie ansatzweise zu erfassen. Oder anders gesagt: Von nüscht kommt nüscht.

29.7. – 11.8.06

Gelernt: Der Ökonomie-Nobelpreis wurde erst 1968 gestiftet und 1969 vergeben, das Geld kommt nicht aus der Nobel-Stiftung, sondern von der schwedischen Reichsbank.
Außer Laktose, Lakritz und Paprika vertrage ich auch Kohlrabi nicht. Schön wäre, wenn ich auf etwas allergisch wäre, was ich ohnehin nicht mag, z.B. Brachsen.
Schöner Satz bei Wikipedia: „Wie alle Weißfische (Gesamtheit aller Karpfenfische mit Ausnahme von Karpfen) neigen Brachsen bei Überpopulation zur Verbuttung.“

Geschichtsklitterung: Per Bote erreicht mich eine bei Ebay ersteigerte CD von Kurt Schwaen, der sich allmählich in meiner Lieblingskomponistenhierarchie nach oben arbeitet und drauf und dran ist, Eisler von seinem angestammten Platz unter den Modernen zu vertreiben. Und dann entdecke ich in der Erläuterung zur Aufnahme des Violinkonzertes, dieses sei am 28./29.6.1989 in Chemnitz aufgenommen. Aber zu jener Zeit gab es gar keine Stadt dieses Namens in der DDR, wenn man mal vom Ortsteil der Gemeinde Blankenburg (Bezirk Neubrandenburg) absieht, die aber keine Robert-Schumann-Philharmonie beherbergte. Mein Konflikt: Wie benenne ich den mp3-tag – historisch korrekt oder CD-korrekt? Schließlich will ich die CD-Infos ja auch so exakt wie möglich speichern.

In einer Besprechung von „Schmidt liest Proust“ wird Odessa der Krim zugeordnet. Wenn ich so etwas lese, muss ich viel guten Willen aufbringen, um den Rest noch ernstnehmen zu können.

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Sa, 29.7.06

In der Zeitung zwei Seiten zu den Wahlen im Kongo. Schaffe die Hälfte. Dann ist es mir zu wirr. Man mag dem nicht mehr folgen. Vielleicht lässt sich auch keine gute Reportage darüber schreiben, weil es keine schöne Gut/Böse-Trennung gibt.
Seit dem Aufstehen mit freiem Oberkörper in der Wohnung. Aus dem Blickwinkel nehme ich die vereinzelten weißen Brusthaare wahr, deren Existenz sich nicht mehr leugnen lässt, ein einzelnes Härchen lässt sich nicht mehr belächeln und herauszupfen, es hat inzwischen schon zu viele Verbündete. Nicht Anzeichen von Verfall, sondern realer Verfall. Wäre es nicht so heiß, dass ich halbnackt herumlaufe, wäre mir meine Alterung gar nicht aufgefallen. Ich habe schließlich kein Bad, geschweige denn ein Bad mit gnadenlos gut ausgeleuchteten Spiegeln, wie einige Hotels sie bereitstellen.
Gedankensplitter zum Unterschied zwischen Lesebühnen einerseits und Kabarett/Comedy andererseits: Die Themen des Kabaretts und der Comedy wurden durch die Lesebühnen unterlaufen. Das alte Kabarett orientierte sich an der Tagespolitik und tut es heute noch. Es ist grundsätzlich SPD-nah und tut niemandem wirklich weh. Das typische Comedy-Thema ist die Beziehung zwischen Männern und Frauen. In der älteren Comedy der Seitensprung eines Ehepartners oder die tausendfach verschmunzelten typischen Eigenschaften von Mann (kann nicht zuhören), Frau (kann sich nicht für das richtige Kleid entscheiden), Schwiegermutter (nörgelt rum). Die neuere Comedy löst sich von der Ehe und thematisiert das Physische zwischen Männern und Frauen, somit hat es auch einen Hang zum Ekligen. (Während ich dieses schrieb, dachte ich nicht an Barth.)
Bei den Lesebühnen ist all das zwar auch immer wieder zu finden, aber sie haben sich von den Schemata gelöst. Vor allem durch die tendenzielle Identität von Autor und lyrischem Ich werden größere Themen auf den Alltag runtergebrochen: Thematisiert wird also nicht die Reform der Arbeitspolitik, sondern wie diese am eigenen Leib zu erfahren ist. Nicht die Mann/Frau-Schemata werden reproduziert, sondern die eigene Erfahrung in den Wirren des Geschlechterkampfes.
Tube hilft mir, meine Tagebuch-Dateien zu retten.

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Der Aufwand, alles was er in Odessa wahrnimmt, ins Russlandtypische einzuordnen, überträgt sich auf Jochens Proust-Lektüre. Franzosen werden als typisch russisch zugeordnet. Vielleicht liegt es daran, dass es sich bei Frankreich und Russland um zwei Wälzer-Schreiber-Nationen handelt. Da schreiben doch die Amis zu jener Zeit schon effektiver. Und die Iren schöner. Nichts gegen Proust.

Vorteil des Nuschelns: Falscher Inhalt (Proust) oder falsche Grammatik (Schmidt) wird überhört. Ist es nicht überhaupt die Angst vor falschen Aussagen oder falscher Grammatik, die uns ins Nuscheln und Stottern treibt?

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So, 30.7.06

H. beschwert sich über das „lahme Publikum“ einer Lesebühne. Der seltsame Reflex der Bühnenkünstler, die Schuld zunächst beim Publikum zu suchen.
In der Hasenheide „Der ewige Gärtner“ mit Ralph Fiennes. Beeindruckende Afrika-Bilder. Faszination und Abstoßendes. Aber das Problem wie bei so vielen Polit-Thrillern – man versteht im Film die Verwicklungen nicht mehr, wenn zu viele Personen, Firmen, Interessen und Produkte auf den Markt kommen. Und das Schlimme ist dann, dass die Informationen immer in einem Affentempo abgeliefert werden. Erwarten sie, dass man den Film mehrmals sieht oder das Buch liest? Auf der Flucht im Sudan, als die Banditen schon angaloppiert kommen. Könnte man mal als Parodie in einer Impro-Szene bringen.

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Jochen schaut „wie in der Kindheit“ sowjetische Filme, während draußen die Sonne scheint. Da muss wohl gerade im ZDF nichts losgewesen sein. Russenfilme waren doch immer nur der letzte Notanker, wenn man nicht vor lauter Langeweile doch nach draußen zum Spielen ging. Irritierend, dass sie ihre Hausmeister und Lehrer immer mit Vor- und Vatersnamen ansprachen, oft in jenem jammernden Ton: „Och bütteeee, Jelena Nikolajewna!“ Ältere Menschen nannten sie „Onkelchen“, Polizisten sprachen die Bürger mit „Bürger“ an. (Sagten sie grashdanin oder towarisch?)

Swann verpasst Odette und lernt erst jetzt den Wert der Möglichkeit, ihr zu begegnen, schätzen.

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Mo, 31.7.06

Lakonischer Kommentar zu meinem Youtube-Video über die Gewalt gegen weißrussische Oppositionelle: Lukashenko: JOHN 3:16. Da hat man was zu knobeln. Nachdem ich herausfinde, dass der Kommentator Lukashenko in die Nähe zu Jesus stellt, muss ich nur noch eruieren, ob er das ironisch meint, dafür klicke ich auf sein User-Porträt: Ein venezolanischer Fan von allerlei Sozialismuskitsch. Habe ich jetzt etwas gelernt?
In der taz ein Interview mit Falk Walter, dem Betreiber von Badeschiff und Admiralspalast. Er ist mit 20 Jahren über die Mongolei aus der DDR in den Westen geflüchtet. Eine Idee, auf die man auch erst mal kommen muss. Badeschiff und Admiralspalast ähnlich visionär.
Laufe am Nachmittag 10 km.

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Jochen joggt morgens 20 km.

Er vermutet, Proust habe „bewusst ein Gebirge von Blumenmalereien vor dem Leser aufgetürmt, um die Spreu vom Weizen zu trennen.“
Eco zu Der Name der Rose: „Wer die Abtei betreten und darin sieben Tage verbringen will, muss ihren Rhythmus akzeptieren. Wenn ihm das nicht gelingt, wird er niemals imstande sein, das Buch bis zu Ende zu lesen. Die ersten hundert Seiten haben daher die Funktion einer Abbuße oder Initiation, und wer sie nicht mag, hat Pech gehabt und bleibt draußen, zu Füßen des Berges.“

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Di, 1.8.06

Ich wäre nicht zum Agenten geboren. So viel mir auch an „Free Play“ liegt ziehen, mich die Absagen der Verlage (und noch mehr ihre fehlenden Reaktionen nach anfänglicher Begeisterung) runter. Frage nun bei O.W.Barth und Klett-Cotta an. Die Lektorin von O.W.Barth sehr begeistert. Voraussetzung sei aber, dass das Wort „Zen“ im Titel auftauche.
(Ein halbes Jahr später erst bekomme ich Antwort vom Verlag. Die Lektorin ist verstorben. Ihr Nachfolger hat sich beim Aufräumen ihres Schreibtischs in das Manuskript verliebt und will das Buch herausbringen. Er wird allerdings auf den Titel Das Tao der Kreativität bestehen.)
Treffe meine alte Freundin L., die nun schon seit zwei Jahren in Beirut lebt und nach Ausbruch des Konflikts hierbleiben muss. An die alten DDR-Zeiten denkt sie nicht zurück. Zu alten Freunden sucht sie keinen Kontakt. Ich werte das als Kompliment.
Loose Change fasziniert. Unterschwellig spürt man die Verschwörungstheorien. Aber vieles passt einfach zu gut. In den Wochen darauf, sammle ich Gegenargumente.
Mein Freund Ralf Petry wäre 38 geworden, wenn er nicht mit 24 verunglückt wäre. Denke immer noch jeden Tag an ihn.

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Jochen schaut einen Film über einen russischen Journalisten in Sibirien. Das Bild „friert ein“. Fünfzehn Minuten. Er ist sich nicht sicher, ob es „eine avantgardistische Pointe des Regisseurs, seinen Film so zu beenden“ sei.

Party-Gesetze vs. Salon-Gesetze. Man muss sich amüsiert zeigen, aber nicht zu engagiert, um nicht lächerlich zu wirken.

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Mi, 2.8.06

Ein Autor fragt wegen dem Offenen Mikro bei der Chaussee an. Nicht zum ersten Mal. Er ist nicht wirklich schlecht, aber er wird uns wieder fünf Minuten langweilen. Lieber einen skandalösen schlechten Autor, der Leben in die Bude bringt, wie z.B. jenen abgewrackten Opernsänger mit christlicher Message und mangelnder Scheu vor schlimmsten Wortspielen. Und wer hat die Höflichkeit, dem Langweiler zuzusagen? Dan.

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„Ein schlimmes Stadium von Eifersucht hat man erreicht, wenn man sich nachträglich über die Genüsse ärgert, die einem eine Frau ermöglicht hat, weil man weiß, dass der nächste sie auch bekommen wird.“

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Do, 3.8.06

L. besucht mit ihrer Schwester die Chaussee. Mein Text eher politisches Kabarett. Jochens Abwesenheit senkt das intellektuelle Niveau der Show. Fast immer. Meinen Kollegen scheinen die Autoren-Gäste egal zu sein.
Der angemeldete Open-Mike-Gast kommt nicht, stattdessen Trash vom Feinsten. Einer der RAW-Verrückten springt auf die Bühne und verkündet, er sei der Indianer Hokahe. Man wartet, dass es anfängt, aber dann stellt sich heraus, dass seine Vorbereitungen die eigentliche Nummer sind.

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Jochen sammelt deprimierende Fakten über Gogol.

Swann beleidigt Odette „auf so sublime Weise, dass sie es gar nicht bemerkt.“ Beleidigung als Selbstbefriedigung, als Nicht-Kommunikation.
„Liebe zählt zu den Künsten, in denen man erfolglos bleibt, wenn man seine Emotionen nicht zu kontrollieren weiß.“ Ich würde sagen, man muss auf die positiven Elemente des Liebens fokussieren, wenn man die Liebe nähren will. Gier, Habsucht, Dünkel löschen sie aus.

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Fr, 4.8.06

Schlage der Chaussee einen Termin für ein gemeinsames Essen vor, der Bö einen Termin für eine Probenfahrt. M. meint, er sei dann in Odessa!

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Jochen besucht das Odessaer Literaturmuseum (in dem ich, was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, wenige Monate später auftreten werde), die Museums-Aufpasserinnen immer im Rücken. Wüsste Jochen, dass dies ein kleines theatrales Statusspiel ist, das man einfach mitspielen kann, wäre es ihm vielleicht nicht ganz so unangenehm.

Odettes Person nimmt in Swanns Liebe nicht mehr viel Platz ein. Unklar – wird die Liebe zu einer allesumschlingenden Geilheit oder erweitert sie sich zum universalen Lieben?

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Sa, 5.8.06

Einer der seltenen Tage, an denen ich als Zweiter aufstehe. Trübe und warm – das richtige Wetter für ein Balkonfrühstück.

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Jochen besichtigt die Champagnerfabrik in Odessa. Seit mir im Jahre 1991 ein Winzer auf der Krim einen Kanister Essig als Wein verkauft hat, steh ich der Ukrainischen Wein- und Champagner-Industrie skeptisch gegenüber.

Bewunderung des Stils der Dienerschaft bei der Marquise de Saint-Euverte. Jochen vermutet, deren ihn an das Haus am Eaton Place erinnernde aristokratische Manieren verdanken sich u.a. dem Wunsch, eines Tages aufzusteigen. Das bezweifle ich, denn auch in der stratifizierten Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts, hat der Diener kaum die Chance aufzusteigen, es sei denn, in der Dienerhierarchie.

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So, 6.8.06

„Klaus ist tot“ in den Sophiensälen. Das Stück. 5 Schauspieler, drei männlich, zwei weiblich. Sie geben sich nacheinander Lektionen, die typischen Schauspieler- und Tänzerübungen, die sie auch brillant ausführen, die aber eben lange nicht so unterhaltsam sind wie Johnstones Games und denen man vor allem immer wieder das Geprobte und Choreographierte anmerkt. Tod als übergreifendes Thema, aber da hätten wir wahrscheinlich einen schöneren Harold hingekriegt. Ein Madrigal zwischengeschoben. Ein bisschen Contact Impro. So gut die Schauspieler auch sind, so gut sie auch tanzen – ich langweile mich. Dann denke ich, warum wird so ein Werk in der Presse durchgelobt, wo doch ein Abend bei der Chaussee der Enthusiasten oder ein guter Harold viel reichhaltiger sind? Vielleicht ist es auch ein gewisser Werkfetischismus des zuschauenden Kritikers, der über das Flüchtige ja kaum schreiben kann, denn beim nächsten Mal wird alles ganz anders sein.

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Jochen reist nach Wilkowo. Die Reiseleiterin, die pausenlos in ihr rückkoppelndes Megafon schwatzt, wäre für mich eine Herausforderung, überhaupt an einer solchen Reise teilzunehmen. Ein abzuschaffender Beruf: Reiseleiterin.

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Mo, 7.8.06

Überaus kooperative Mail der Betreiber der Alten Kantine. Sie sind von allen, mit denen ich bisher zu tun habe und hatte, die professionellsten und kooperativsten Partner.

Im Café Zapata lässt man mich nicht zu Laura Veirs ein. Ich höre sie da drinnen singen. Schön und unschuldig, denn sie weiß ja nicht, dass ihr größter Fan in Deutschland draußen vor der Tür wartet.

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Jochen wagt einen Blick in die Zukunft nach dem Ende der Lektüre: „Da ich dann besser als jeder andere über die seelischen Hintergründe der Liebe informiert sein werde, werde ich mich nie mehr verlieben.“ Er ahnt noch nicht, was für Qualen ihn im Spätwinter noch erwarten.

Swanns Eifersucht war „berechtigt“. (Das Ganze erinnert inzwischen schon an die Brest-Episode aus „Müller haut uns raus“.) Aber dennoch ist Eifersucht nicht Teil der Liebe, sondern ihr Gegenteil, was weder Swann noch Marcel noch Jochen zu sehen scheinen.

Di, 8.8.06

Stephan erneuert einen Vorschlag zum „Photoshooting“ für die Chaussee. (Er ahnt nicht: Es wird noch bis Winter dauern, dass wir uns einigen können.)

Mein alter Freund V. hat sich vor einem halben Jahr von seiner Frau getrennt. Ich erfahre das von ihr.

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Man wird in Odessa von Kioskmädchen ignoriert, die lieber Geld zählen oder das Rechnungsbuch kontrollieren als Gespräche mit Kunden zu führen. (Einer der wenigen Odessa-Einträge, die ich schon damals zeitgleich lese. Ich weiß noch nicht, dass ich schon bald ebenfalls diese Erfahrung machen werde.)

Swann unterstellt der Frau, ihn nur zu sich gerufen zu haben, um den Liebhaber, der sich irgendwo in der Wohnung versteckt hat, eifersüchtig zu machen. Jochen hält das für zu weitgehend. Mir ist das allerdings schon widerfahren, ich sage nicht, aus welcher Perspektive.)

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Mi, 9.8.06

2. Versuch, das Format „4.000 Hubschrauber“ zu spielen. Etwas mehr Erfolg.

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Ein ukrainischer Fernsehsender nur übers Jagen und Angeln. Wer außer Jochen würde sich davon faszinieren lassen? Ich kenne sonst keinen, der solch eine offene Neugierde besäße.

Die Übelkeits-Reaktionen auf die Ankündigung, nach Venedig fahren zu dürfen, verhindern, dass Marcel als Kind Venedig sieht.

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Do, 10.8.06

Genickstarre und Schiefhals. Ich lasse mich von einer Chiropraktikerin einrenken, mir von einem weiteren Arzt eine Spritze geben und von einer Chinesin Akkupunkturnadeln einpieksen. Am Abend sind die Schmerzen weg, und ich weiß nicht, welchem der 3 Ärzte ich danken soll. Tippe auf die Chinesin. Das Erlebnis führt zu einem meiner erfolgreichsten Texte des Jahres. Orientiere mich beim Schreiben mal zur Abwechslung an Zeisig und Evers.

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Jochen liest oder bloggt Proust im Flugzeug zwischen Warschau und Berlin. Russische Männer und Frauen passen nicht zueinander. Die einen lassen sich extrem gehen, die anderen takeln sich extrem heraus. Frauenüberschuss?

Zeitsprung bei Proust: Statt Kutschen fahren nun Automobile. Seitdem das Auto den Straßenverkehr dominiert, hat sich bei uns nur wenig verändert. Dagegen Telekommunikation. An die einfach vor sich hin plappernden Menschen auf der Straße werde ich mich wohl nie gewöhnen. Dafür werden meine Enkel nicht wissen, dass es mal eine Zeit gab, in der dies ein untrüglicher Indikator für geistige Gestörtheit war.

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Fr, 11.8.06

Nehme alle positive Energie zusammen und formuliere einen Rettungsbrief an die Bö-Spieler. (Die Gruppe wird noch 1/2 Jahr weiterleben.)
Lese nach Jahren wieder einmal in Robinsons Chaplin-Biografie: Robinson, der Biograph, hält den Boxkampf in City Lights für den Höhepunkt des Slapsticktanzes.

Diese Sequenz war die letzte gedrehte, und sie hat ihm offensichtlich ungeheuren Spaß gemacht. Ein atemberaubendes Spiel der Kombination von choreographischen Einzel-Elementen. Ausgangssituation: Charlie versteckt sich so, dass immer der Ringrichter zwischen ihm und seinem übermächtigen Gegner ist. Hält dieses Spiel an, weil der Boxer sich beschwert oder der Ringrichter die Kämpfer zurückweist, schlägt er zu und klammert sich augenblicklich an den Gegner wie ein ängstliches Kind an seinen Vater, woraufhin sie getrennt werden. Mit zunehmenden Runden werden die beiden Elemente Dazwischengehen und Klammern immer mehr variiert. Gerechtfertigt werden die verrückten Variationen einfach dadurch, dass durch die Schläge – ähnlich wie bei Trunkenheit – man sich nur noch reflexhaft an Bewegungsabläufen orientiert, ohne sie zu interpretieren oder zu reflektieren.

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Im Schatten junger Mädchenblüte

Jochen: „Dass große Kunst sich den Grenzen der menschlichen Wahrnehmung unterordnen muss, ist ein Makel.“
Nein, genau darin liegt der Reiz. Das Halberstadtsche Orgelprojekt ist ja vor allem reizvoll in der Imagination. Dass das tatsächlich aufgeführt wird, ist eigentlich lächerlich.

„Marcel will nicht Botschafter werden, weil er dann später in irgendeine Hautstadt geschickt würde, fern von Gilberte.“ Das war auch für mich 1996 der Grund, mich nicht für den höheren Dienst im AA zu bewerben. Ein halbes Jahr später zerbrach die Beziehung.… Weiterlesen

18.7. – 28.7.06

Wie war das, als Jochen Schmidt vor über zwei Jahren uns mit seiner Ankündigung überraschte, ein halbes Jahr lang Proust nicht nur lesen, sondern auch bloggen zu wollen? Habe damals punktuell mitgelesen. Aber was habe ich damals getan? Hier mein kleines Zwischenprojekt Richter liest „Schmidt liest Proust“, eine Beobachtung dritter Ordnung und gleichzeitig eine Reflexion.

18.7.06

Ich jogge durch Rummelsburg und Friedrichshain. Es ist seit Monaten die gleiche Strecke, mal mit einer größeren, mal mit einer kleineren Schleife: Revaler Str., Bahnhofstr., Markgrafendamm, Rummelsburger Bucht. Am östlichen Ende die letzten Reste des Rummelsburger Gefängnisses, in dem für politische Gefangene vergleichsweise angenehme Bedingungen herrschten. „Alle wollten nach Rummelsburg“, sagte mir ein Ex-Gefangener, der auch Bautzen und Hohenschönhausen durchgemacht hatte und später mit einem jener berüchtigten „Frischer Fisch“-Transporter an die Grenze gekarrt wurde. Weiter durch mein früheres Wohngebiet Frankfurter Allee Süd. Schöner, grüner ist es hier geworden, aber fremd. „Lauter Russen“, denke ich und in meinem Jogging-Dschumm erschrecke ich mich nicht vor dem Gedanken. Eine größere Schleife heute durch die Parkaue. Dahinter treffe ich eine frühere Kollegin, die ich das letzte Mal vor zwei Jahren gesehen hatte, da war sie schwanger und zog ins Ruhrgebiet um. Überlege kurz, ob ich meinen Lauf unterbreche, es wäre nicht schlimm, jetzt nur kurz zu winken. Aber ich bleibe stehen. Kurzer Smalltalk. Ich frage, wie es dem Kind und dem Freund geht. Vom Freund getrennt, das Kind war eine Fehlgeburt. Schwierig, jetzt einfach weiterzujoggen. Vorsichtig steuere ich das Gespräch in harmlosere Gewässer, verabschiede mich und laufe über die Proskauer und Simon-Dach-Str. zurück in die Libauer.

Mail von Jochen an Chaussee: Er will mit dem Disco-Auflegen verschnaufen und mag drumnbass.

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Jochen über Bücher in den Regalen der Eltern, die man nie las. Ich erinnere mich an Balzac, Strittmatter und Prus. Von letzterem ist „Pharao“, und mein Vater glaubte, dass es dieser Autor sei, dem sich Jochen nun zuwende.

Prousts Überlegungen zur Rekonstruktion der Wirklichkeit beim Erwachen kann ich nur erahnen. Wenn man neueren Studien und Prognosen glaubt, wird dereinst jeder Dritte von uns tagtäglich und andauernd damit beschäftigt sein, herauszufinden, wo er ist, was er hier soll und wer die ganzen Leute sind.

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19.7.06

Mail von Jochen: Link zu einem Blog-Eintrag, in dem mich jemand lobt.

Schwimmen im Prinzenbad. Durchsage, man solle seine Kleidungsstücke nicht unbeaufsichtigt lassen. Als ich auf dem Wasser zurück zu meinen Sachen komme, kommentiert ein Türke sarkastisch, es sei wohl schon blöd, wenn man allein schwimmen gehe. Mache ihn instinktiv für das Verschwinden meines Geldes und meiner Uhr verantwortlich, die dann aber auf wunderbare Weise sich doch anfinden.

Morgens korrigiere ich den Text eines Impro-Schauspielers, den ich sehr schätze, mittags sehe ich die Performance eines Improvisationslehrers, abends schaue ich den Improvisationskollegen im Zebrano zu. Drei Enttäuschungen, und jedes Mal stehe ich vor dem Problem, Feedback abgeben zu müssen. Morgens erbeten, mittags erwartet, abends notwendig.
Ich gestalte meine Website um.
Ich will eine Woche Erholungsurlaub in der Nähe von Berlin machen, finde aber nichts passendes

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Proust führt Gedanken über Tanten aus. Ich kann nicht mitreden. Ich hatte nie eine.

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20.7.06

Chaussee ohne Robert und Jochen. Ich singe anlässlich von Rudi Carrells Tod und am heißesten Tag des Jahres „Wann wird mal wieder richtig Sommer“.
Entscheide mich für Urlaub zuhause, den ich so für mich definiere, dass ich die Auftritte zwar noch mitmache, aber nicht ans Telefon gehe und keine E-Mails beantworte.

*

Jochen reist nach „Alt-Lipchen“ . Warum er diesem Ort ein so seltsames Pseudonym zuschustert, ist mir nicht klar. Vielleicht eine Gewohnheit, weil ihm seine erste große Erzählung Glück gebracht hat. Vielleicht aber auch ein Anflug von Größenwahn: Die schönen Texte, in denen das Dorf auftaucht, werden eines Tages so berühmt, dass Massen dorthin pilgern. Das gälte es zu verhindern.

Sollen beschreibende Zeilen übersprungen werden?, fragt sich Jochen bei ausschweifenden Beschreibungen Prousts. Ich frage mich, wie die meisten Leser des Proust-Blogs, ob man nicht überhaupt die Zeilen zu Proust überspringen soll.

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21.7.06

Ich wache so auf, wie ich eingeschlafen bin – nackt auf der Decke. Selbst nachts ist es zu heiß. Erinnere mich an Ghana. Wenn es möglich war, hat man einen Ventilator angestellt, der auch die malariaübertragenden Mücken vertrieb. Meistens jedoch lag man ohne Ventilator unterm Moskitonetz.
Nach dem Morgenjoggen Pause. Zum Plötzensee, angeblich kann man da gut baden. Eine Enttäuschung. Es gibt an der Südseite ein großes Strandbad ohne Schatten, der Rest ist Landschaftsschutzgebiet, wo man nicht baden darf und wegen der steilen Abhänge auch kaum kann. Finde dann aber eine halbwegs nutzbare Stelle: Handhabbare Schräge, genug Schatten. Springe sofort rein. Unglaublich warmes Wasser. Selbst beim Abtauchen nur wenig Kühlung. 10 Minuten schwimme ich hin und her. Liege auf dem Rücken und drifte, Fußschläge, wie im Trance. Nach ein oder zwei Minuten sehe ich mich um, und habe kurzzeitig die Orientierung verloren wie im Halbschlaf.
Fahre ins Nikolaiviertel, das ich – ich kann mir nicht helfen – mag. Im „Nussbaum“ beginne ich Feuchtwangers „Jüdin von Toledo“. Zwanzig Seiten.
Am Abend beginne ich noch einmal mit Rushdies „Mitternachtskindern“.
Weder Rushdie noch Feuchtwanger werde ich weiterlesen.
Am Nachmittag im Kalender ein Termin mit einer Bettina notiert. Unklar.

*

Jochen sympathisiert mit der hypochondrischen Tante Marcels. Wäre auch seltsam, wenn er das nicht täte.

***

22.7.06

Wache nachts auf. Diesmal noch in Tagesbekleidung. Was war los? Die Hitze scheint wie eine bewusstseinsverändernde Droge zu wirken.
Gibt es eine Dissertation über die Rolle von Hitze in der Literatur. Erinnere mich an „Abbitte“ von McEwan und „Satanische Verse“ von Rushdie. Beides in England. In beiden Fällen trägt sie zur Eskalation bei.
Beschränke meinen Urlaub auf Reduzierung der Kommunikation.
Notiere lange Reflexionen zur unbefriedigenden Situation meiner Improtheater-Aktivitäten.
Das Trinkwasser wird beim Joggen warm.
Am Abend Kantinenlesen. Volker Strübing rettet die Show.
In der Ecke vom Schusterjungen hockt der ehemalige Betreiber des Restaurant „S.“ und lächelt mit einer Mischung aus Verschmitztheit und Verzweiflung. Wird man eines Tages selbst irgendwo so sitzen, beglotzt von Leuten, die einen früher mal nett ansprachen? Krass exponiertes Versagertum gepaart mit Verzweiflung und schlechter Laune stößt ab.
Wer wird der letzte Überlebende der Lesebühnen? Irgendwann werden wir jährlich jemanden zu Grabe tragen. Stephan? Jung, aber behindert. Jochen – fit, aber ständig krank?

*

Jochen rekapituliert die Wirkung MZ-fahrender Jugendlicher, die ich ähnlich wie er abwechselnd als Indianer oder Dummköpfe wahrnahm.

Proust liebt Abenteuerromane. Mein Trash sind die 1001 Nächte.

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23.7.06

Ich habe am Abend zuvor in der Kantine das Netzteil meines Laptop liegengelassen. Was schreibt man, wenn man weiß, dass die Batterien gleich alle sind? Was schreibt man, wenn man weiß, dass die eigenen Batterien gleich alle sind? Schreibt man dann überhaupt noch? Wägt man jedes Wort ab, weil es das letzte sein könnte?
Gedanken zu einem Roman, der in den 40ern spielt. Wo haben die Bauarbeiter auf Kleinbaustellen vor der Erfindung der Dixie-Klos hingekackt?

*

Jochen findet einen Brief der Architektin des Hauses und des Gartens in „Alt-Lipchen“, in dem er sich gerade aufhält. Es gibt Berufe, die ich nie hätte ausüben wollen (z.B. Arzt – zu eklig), andere hätte ich nie ausüben können. Letztere haben fast alle mit räumlichem Vorstellungsvermögen zu tun.

Bloch kann nicht beantworten, ob es gerade geregnet hat, da er nur im Geistigen lebt. Die Geringschätzung des Körperlichen hat mich, als ich 17 war, auch bei Hamlet fasziniert. Pubertäres Erwehren gegen den Körper. Dies zu überwinden, kann eine der anspruchsvollsten Aufgaben des Erwachsenwerdens sein. Gerade für Intellektuelle, die in der Lage sind, sich diese Haltung schönzureden.

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24.7.06

Mail an Reinhard Kleist, von dem ich einen kleinen Cartoon gesehen habe, der mich sofort begeistert hat. Ich frage ihn, ob er an einer Zusammenarbeit interessiert ist. Er antwortet nicht. Ich weiß noch nicht, dass er schon berühmt ist und an CASH arbeitet.
Wäge Pro und Contra ab, mit Steffi zusammenzuziehen.
Stelle fest, dass beim PC-Crash Anfang des Jahres ein halbes Jahr Tagebuchnotizen verlorengegangen sind.
Blättere in einem ungarischem Buch zu Autogenem Training, das ich mir 1988 gekauft hatte.

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Schauspielerempfehlungen von Proust: Weniger historische Lektüre als die konkrete Umgebung, in seinem Falle „Launen alter Damen in der Provinz.“

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25.7.06

Mail von Jochen ans U-Boot: Bittet um Tausch für Kantinentermin. Er reist ja nach Odessa.
Fühle mich seit Tagen verbittert, der Urlaub bringt wenig. Ich schreibe mir alles von der Seele. Auch das hilft nichts.
Anruf von meiner alten Ami-Freundin Rebecca, die gerade wieder in Berlin weilt und mit der der Autor von „Schmidt liest Proust“ für mehrere Monate liiert war. Damals wetteten mein Schwager und ich beim ersten Gespräch zwischen den beiden, ob sie zusammenkämen. Was ich nicht ahnte – meinen Schwager hielt es dann auch nicht lange bei meiner Schwester.
Mit Rebecca, ihrem Mann Gogo und dem Kind Merlin ins Prinzenbad. Gut, wenn man auch nach Jahren wieder leicht an Freundschaften anschließen kann.

*

Jochen: „Der Ort, an dem man ein Buch liest, verändert den Eindruck…“
Ich lese dieses Buch vorm aufgeklappten Laptop. Ist schließlich keine Klo-Lektüre. Vielleicht noch fürs Bett. Reich-Ranicki liest angeblich immer am Schreibtisch.

***

26.7.06

Mail von Jochen an die Chaussee, dass er am 10.8. gegen 20.30 Uhr direkt vom Flughafen komme.

Höre drei Mozart-Divertimenti für Klarinetten und Fagott. Und ich kann bei fast jedem beide Stimmen mitsingen. Ich hab sie mal gespielt, und kann mich einfach nicht erinnern, in welchem Zusammenhang und mit wem.
Bin gezwungen, ein unangenehmes Gespräch mit einem Herrn H. von meinem Lieblings-Radiosender zu führen. Es geht darum, auszuloten, welche Art von Kooperation beim Festival meines Lieblings-Radiosenders mit dem Kantinenlesen möglich sei. Nachdem seine Maximalforderung, unsere Lesung einfach abzublasen, nicht fruchtet, schlägt er vor, dass eine Band und vier der Radio-Autoren auftreten sollen, und wenn wir unbedingt darauf bestehen, dann eben auch einer von den Lesebühnen. Ich gebe mich so kompromissbereit wie möglich. Aber wie ich später erfahre, lügt mir H. die Hucke voll.
Probiere Poppers autogenes Training aus.

*

Jochen wieder in Berlin. Er gibt einen 50-Runden-Lauf auf. Strecken von mehr als 15 km laufe ich nicht mehr im Stadion. Es ist einfach zu frustrierend.

Proust vergleicht den Nachmittags-Mond mit einer Schauspielerin, die erst später auftreten wird. In den 1001 Nächten wird die Tänzerin mit dem Mond verglichen. Wie banal.

***

27.7.06

Mail von Volker an die Chaussee, dass er eine blog-basierte Startseite nicht hinkriegt. Als ich anderthalb Jahre später mit großem Aufwand die verschiedenen Wünsche der Enthusiasten zu einem Kompromiss zusammenfasse und diesen vorstelle, wird der zwar zunächst von allen goutiert, später ist er Auslöser von Streits und schlechter Laune.

Jochen trägt Auszüge aus dem Proust-Blog bei der Chaussee vor. Es funktioniert nicht so recht. Dafür ernten meine drei am Lennonschen „In His Own Write“ orientierten Nonsense-Miniaturen großen Beifall. Dass auch ich unter diesem Missverhältnis leide, ahnen weder Jochen noch Publikum.

*

Umfangreiche Naturschilderungen stellen Jochens Lesegeduld auf die Probe.

***

28.7.06

Mail von Jochen aus Odessa: „bis jetzt alles okay hier, heiss und schwuel.“

Entwerfe eine Impro-Langform, die ich „4.000 Hubschrauber“ nenne.
Erster Auftritt auf dem Badeschiff mit der Lokalrunde. Open Air funktioniert besser als gedacht.

*

Jochen erreicht am frühen Morgen Odessa und wird in einem 30 Jahre alten Wolga durch die Innenstadt chauffiert. Frage mich, ob es einer der ganz alten Wolgas ist, bei denen die vordere Sitzbank durchgehend war.

Die Herzen Prousts und Schmidts hängen an „Dingen und Wesen“ der Kindheit. Selbst der schlimmste architektonische DDR-Schrott ist nicht sicher vor Jochens Nostalgie. Dabei hat er doch so ein gutes Auge für die Gegenwart, deren Schönheit sich ihm aber vermutlich erst erschließen wird, wenn sie abgerissen wird.
Von Swann, nach dem das erste Buch benannt ist, erfahren wir nun zum ersten Mal.

269. Nacht e) Lernen in einer Woche

Ich stolpere über die Nachricht der Nachrichtenagentur AP: „Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriegs können Bundeswehrsoldaten wieder mit einem speziellen Tapferkeitsorden ausgezeichnet werden.“ Abgesehen von der Frage, ob so ein Orden überhaupt notwendig ist, warum steht da „wieder“ und „seit Ende des Zweiten Weltkriegs“? Damals gab es doch keine Bundeswehr? Oder sollte sich die Bundeswehr in der Tradition der Wehrmacht sehen? Gott behüte!

Kleinigkeiten, die ich in dieser Woche gelernt habe

  • Montag: Die Impro-Langform „Deconstruction“ lässt sich formal auf hunderte Arten spielen, ebenso wie der „Harold“.
    Camouflage war eine schwäbische Band.

  • Dienstag: Es gibt kaum Gerichte, in denen Kohlrabiblätter die Hauptzutat sind. Eines stammt aus Brasilien (wobei hier eigentlich Mineira verwendet wird).

  • Mittwoch: Laktose-Intoleranz ist angeblich durch Biofeedback-Therapie „heilbar“. Andererseits gerade vor ein paar Tagen einen Artikel in der ZEIT gelesen, in dem betont wurde, dass Laktose-Intoleranz eben keine Krankheit sei. Mit anderen Worten, diese seltsame Therapie müsste meine Enzymproduktion wieder derart in die Gänge bringen, dass ich auf einmal wieder anfange Laktase zu produzieren.

  • Donnerstag: Es gibt ein Bundesamt für Steuern.
    Ronald Reagan hatte sich als kalifornischer Gouverneur persönlich für die Absetzung der kommunistischen Professorin Angela Davis eingesetzt. Ob er etwas mit ihrer Verhaftung zu tun hatte, weiß ich nicht.
    Als Bradley-Effekt wird in den USA eine Verzerrung bei Wahlumfragen genannt, bei denen der Interviewte aus sozialer Erwünschtheit nicht zugibt, den schwarzhäutigen Kandidaten nicht wählen zu wollen. Unklar ist, ob dieser Effekt bei den diesjährigen Präsidentschaftswahlen eine Rolle spielt. Was ich außerdem nicht gelernt habe: Ob die Meinungsforschungsinstitute diesen Effekt bei ihren Prognosen schon mit einberechnen.
    Ruth Fischer, die KPD-Chefin der mittleren zwanziger Jahre und Schwester von Hanns Eisler, argumentierte oft antisemitisch, obwohl ihr Vater einer jüdischen Familie entstammte.

  • Freitag: An Tuberkulose erkrankt man vor allem, wenn das Immunsystem geschwächt ist.
    Biofeedback hat nichts mit Bioresonanztherapie zu tun.

  • Samstag: Ich habe bisher keine systemtheoretische Analyse der derzeitigen Wirtschaftskrise gefunden.

  • Sonntag: McCain besänftigt seine Fans, die Obama aufgrund der Schmierenkampagne für einen terroristischen Araber halten. Erstmals tut mir McCain beinahe leid.

***

Nachdem ihr Sohn sie ausführlich beredet hat, begibt sich Alâ ed-Dîns Mutter Mit einer Schüssel voll Edelsteinen zum König von China, um für ihren Sohn um die Hand dessen Tochter anzuhalten.

269. Nacht d)

Was ich mal mochte, jetzt aber nicht mehr

  • Vollmilchschokolade

  • Beethoven

  • Fernsehen überhaupt und Talkshows im Speziellen

  • Recht behalten

  • Auf Rockkonzerte gehen

  • Otto Waalkes

 Was ich mal nicht mochte, jetzt aber schon

  • Ingwer

  • Tanztheater

  • Goethe

  • Mozart

  • Ein Telefon besitzen

  • Yoga

  • Soziologische Systemtheorie und Konstruktivismus

 Was ich mal nicht mochte, jetzt aber immer noch nicht

  • Tocotronic

  • Fisch

  • Orgelfugen

  • Samt

  • Kalt duschen

  • Fußballgucken

  • Walt-Disney-Comics

Was ich mal mochte, jetzt komischerweise immer noch

  • Boney M.

  • Honig

  • Früh aufstehen

  • atonale Musik von Hanns Eisler

  • Texte meiner Kollegen der Chaussee der Enthusiasten

  • Zaubertricks

***

Alâ ed-Dîn hört auf seine Mutter, schmeißt Ring und Lampe weg. Ende der Geschichte.

Alâ ed-Dîn besteht darauf, die Lampe zu behalten. In den folgenden Tagen leben sie vom Verkauf der Schüsseln, deren Wert Alâ ed-Dîn nicht kennt. Er nimmt eine nach der anderen zum Basar, und verkauft sie einem Juden,

der gemeiner war als der Teufel.

Für jede Schüssel erhält er einen Dinar und der Jude flucht insgeheim, dass er ihm

nicht einen Dreier gegeben hatte.


Dreier 17. Jh. (Abb. Numispedia)

 


Golddinar 5. Jh. (Abb. Numispedia)

Scheint eine seltsame Übersetzung aus dem Französischen zu sein. Denn der Dreier als Kleinmünze war nur in Norddeutschland gebräuchlich, nicht aber in Frankreich. In China schon gar nicht.

Nachdem die zehn Schüsseln und auch noch der Tisch verkauft sind, rubbelt Alâ ed-Dîn wieder an der Lampe, alles wiederholt sich. Nach dem Verbrauch der Lebensmittel will er wieder die Schüsseln verkaufen, wird aber von einem muslimischen Händler abgefangen, der ihn darüber aufklärt, dass

den Juden das Gut der Muslime, die den einigen Allah, den Erhabenen verehren, als erlaubte Beute gilt.

Man beachte, dass diese antisemitischen Zeilen vom Franzosen Galland verfasst wurden.

Der muslimische Händler gibt ihm siebzig Dinar pro Schüssel, und Alâ ed-Dîn lernt nun auf dem Basar das Handeln, verkehrt auch unter Juwelieren und erfährt so, dass die Steine, die er aus der Höhle geholt hatte, keine Glasmurmeln sind, sondern Edelsteine.
Eines Tages läuft ein Ausrufer durch die Straßen der Stadt und befiehlt allen, sich zu verbergen,

denn die Herrin Badr el-Budûr, die Tochter des Sultans will sich ins Bad begeben. Jeder, der diesen Befehl übertritt, wird mit dem Tode bestraft werden.

Wie lange war wohl die Prinzessin nicht mehr baden?

Um sie zu beobachten, versteckt sich Alâ ed-Dîn hinter der Tür des Badehauses.

Wer streute Zauberschminke wohl auf die Blicke ihr
Und pflückte Rosenblüten wohl von der Wange ihr?
Ein nächtlich Dunkel ziert der Haare schwarze Pracht,
Doch ihrer Stirne Licht erhellt die finstre Nacht.

Die ersten Verse in dieser Erzählung. Man beachte den Primreim der ersten beiden Zeilen.

Alâ ed-Dîn kehrt heim, legt sich nieder und wird liebeskrank.

269. Nacht c) – Berlin Marathon 2008

Eine gute Woche ist nun nach dem Berlin Marathon vergangen. Ich bin völlig erholt. Aber auch der Lauf selber ging so gut wie noch nie. Keine Blasen während des Laufs, kein Mann mit dem Hammer, keine Gelenkprobleme, keine Krämpfe, keine ausgedehnten Gehpausen. Von Anfang an, lief alles perfekt.

Ich hatte vorher die etwas seltsame Idee, meine während des Laufs zunehmenden physischen Probleme zu dokumentieren, indem ich an jedem Kilometer einen Stopp einlegte. Aber das Leid hielt sich in Grenzen, vielleichtgerade wegen der kurzen Pausen. Schon bei km 9 habe ich die erste kleine Stretchingpause eingelegt. Ab der Hälfte widmete ich jeden weiteren Kilometer einigen Personen, die mir gerade wichtig sind.

Den kompletten Lauf habe ich hier dokumentiert

***

Es mutet schon etwas seltsam an, dass der Maure so schnell aufgibt, da er ja immerhin mehrere Jahre gebraucht haben muss, bis er nach China gelangt ist.

Nachdem Alâ ed-Dîn mit Weinen und Klagen fertig ist, besinnt er sich des Rings, den ihm der Zauberer gegeben hat. Er fleht weiter zu Allah und ringt dabei wie ein Trauernder mit den Händen, so

dass seine Hand an dem Ringe rieb.

Aber warum musste er sich da des Ringes besinnen?

Es erscheint ein Dämon, der bekennt, er sei der Sklave des Ringträgers. Alâ ed-Dîn befiehlt ihm, ihn zu befreien, was auch höchste Zeit wird, da er schon seit drei Tagen in der Höhle festsitzt. Er geht den Weg zurück, den er gekommen ist und

dankte Allah dem Erhabenen, der ihn zur Oberfläche der Erde herausgeführt und ihn vom Tode errettet hatte.

Allah? Oder nicht doch der Dämon?

Alâ ed-Dîn kehrt ins Haus seiner Mutter zurück und berichtet ihr alles ausführlich,

was wir dann auch noch in aller Ausführlichkeit lesen müssen, Galland scheint Zeilen schinden zu wollen. An anderen Stellen in "1001 Nacht" heißt es immer: "Doppelt erklärt ist nichts wert."

Nachdem sich der Sohn ausgeruht hat, will die Mutter zum Basar gehen, um vom Erlös des gesponnenen Garns Essen zu kaufen. Alâ ed-Dîn rät ihr, lieber die Lampe zu verkaufen, die brächte sicherlich mehr Geld. Doch wie Mütter so sind, sie meint, man müsse die Lampe vorher putzen, dann brächte sie einen höheren Erlös. Ein Dämon erscheint. Sie fällt in Ohnmacht, Alâ ed-Dîn jedoch befiehlt dem Geist, gutes Essen zu besorgen, dies bringt er augenblicklich herbei. Ausdrücklich erwähnt wird darunter nur:

Brot, weißer als Schnee.

Sie essen sich satt, aber anschließend bittet die Mutter ihren Sohn Alâ ed-Dîn darum, Ring und Lampe fortzuwerfen:

"denn sie verursachen uns große Furcht; (…) Auch wäre es eine Sünde für uns, mit ihnen zu verkehren; denn der Prophet – Allah segne ihn und gebe ihm Heil – warnt uns vor ihnen."… Weiterlesen

269. Nacht b) Jekaterinburg – Jonglage mit Omnibusschimmeln

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Jekaterinburg – Jonglage mit Omnibusschimmeln

(12.4.07)
E-Mails und das Weltweitgewebe katapultieren einen gedanklich nach Hause. In wenigen Stunden ist man nun nach Asien geflogen, hat sich flink ein paar Urteile zurechtgebastelt, hat in einem Tschechenrestaurant gespeist, von weitem die Gedenkstätte für die Zarenfamilie in Augenschein genommen. Das Reisen wird banalisiert, die grundlegenden Fakten kann ich mir ganz ohne Reiseführer aus der deutschen Wikipedia zusammenklauben. Es liegt einzig in der Kraft des Einzelnen, sich die Aufregung zurückzuerobern. Goethe ritt aus purer Neugier nach Italien, und das zu einer Zeit, als man in Italien nichts davon wusste, was man außerhalb von Italien für ein Italienbild hatte, und somit auch keine entsprechenden standardisierten Klischee-Wünsche industriell zu befriedigen wusste. Das Staunen war echt. Heute hat jede Stadt, jeder Ort ihr Muss-man-gesehen-haben, und dort ist Staunen Pflicht. Da man aber zu einer derartigen spontanen Empfindung ja allein durch die Standardisierung des Ortes nicht in der Lage ist, muss der Besucher die Besonderheit durch das Hervorholen der Kamera signalisieren. Aber selbst das ist vergebliche Liebesmüh, denn um so gute Fotos wie die vom Postkartenstand oder in der Google-Bildersuche hinzukriegen, müsste man schon mehrere Jahre in eine Profi-Fotografen-Ausbildung investieren. Man kann sich zwar auch selber vor der Sehenswürdigkeit ablichten lassen, aber was ist das viel mehr als der Beweis, seine Pflicht des Sich-Ablichtens vor der Sehenswürdigkeit erfüllt zu haben? Da uns also die Unmittelbarkeit des Erstaunens versperrt bleibt, suchen wir panisch die Besonderheit im kleinen Detail: Man hält es schon für verrückt, dass Jekaterinburg eine Millionenstadt ohne McDonald’s ist, die Schreibtische im Hotel sind aus Massivholz, im Erdgeschoss der Rüstungsfabrik eine Spielhölle. Jochen Schmidt geht spazieren, um dem Zufall auf die Sprünge zu helfen. Ich gehe schlafen, um meinen Jetlag auszugleichen.

(13.4.07)
Das hier angebotene Frühstück deutet darauf hin, dass die Hoteliers mit westeuropäischen Standards in Berührung gekommen sind, sogar ein probiotisch anmutendes Müsli lockt auf dem Büffet. Die vier Fernseher, auf denen Dauernachrichten dröhnen, sind so angeordnet, dass man ihnen nicht ausweichen kann, und so muss ich es zulassen, dass mir die morgendliche Mahlzeit mit Bildern vom Anschlag auf das irakische Parlament gewürzt wird. Vielleicht ist man das als Frühstücksfernsehgucker gewöhnt, aber ich habe keinen Fernseher mehr und reagiere morgens auf solche Bilder wie ein Kleinkind, das man mit Thrash-Metal-Doppelalbum weckt.
In der Jekaterinburger Universität sollen wir vor den Deutsch-Studenten einen Vortrag über die Berliner Lesebühnen halten. Das können sie dann im Studienbuch unter "Landeskunde" verbuchen. Zunächst hatte ich Jochens Einstiegsreferat, das er mir per Mail zugeschickt hatte, für etwas speziell gehalten: Würde eine 19jährige russische Studentin verstehen, was es für einen wendegebeutelten Ostdeutschen im Jahre 1998 bedeutete, den Humor launiger Kurzgeschichten zu entdecken? Würden sie die Anspielungen verstehen, die Bedeutung von Steins Gebet gegen die Arbeit, dass wir uns an der Tatsache aufgegeilt hatten, dass Tube mit kaputten Schuhen auf die Bühne ging? Kurz vor Beginn des Seminars wärmen wir uns im Institutsbüro auf. Ich beäuge die Lehrbücher in den Regalen. "Zeitungsdeutsch verstehen" klingt gut. In diesem Buch von 1968 wird sogar mit Wörtern wie Omnibusschimmel jongliert. Wenn man hier sogar Vokabeln benutzt, die nicht einmal ich kenne, dann werden sie wohl auch Jochens Vortrag verstehen. Notfalls werde ich die Sache mit ein paar Fotos und Filmen von unseren Lesebühnen auflockern.
Endlich auf der richtigen Seite des Hörsaals stehen – auf der Seite der Wahrheit. Nicht einmal die Professorinnen dürfen uns hier kritisieren, denn wir sind die Experten, die Spezialisten. Jochen beginnt den Einstiegsvortrag mit der Binsenweisheit, überall in der Welt glaube man, die Deutschen hätten keinen Humor. Die Studentinnen schauen ihn angesichts dieser Neuigkeit an wie einen Senegalesen, der dasselbe von seinem Volk behauptet. Jochens Einsamkeit, Tubes kaputte Schuhe, die Studentinnen in der hintersten Reihe beginnen, Käsekästchen zu spielen, eine Bemerkung darüber, wie witzig es doch war, wie Ahne damals 1998 eine Serie über seine Möbelstücke vorlas – von der hinteren bis zur mittleren Reihe machen die Studentinnen nun ihre Hausaufgaben für die nächste Stunde oder schicken SMS. Die Freude, die Wahrheit gepachtet zu haben, verfliegt, wenn sich für die Wahrheit niemand interessiert, außer ein paar Professorinnen.
Ein Wort zu den Männern: Ihre Aufgabe in diesem Hörsaal besteht darin, den Beamer zu installieren, dann verschwinden sie. Der einzige männliche Student hier, wird wohl entweder der Hahn im Korb sein oder der schwulste Mann westlich von Wladiwostok. Fragen zu Jochens Vortrag gibt es keine. Ich versuche, mit einem kleinen Chaussee-der-Enthusiasten-Filmchen aufzulockern. Leider ist der Film auf der Riesenleinwand nur so groß wie eine Postkarte und man kann wegen des schlechten Tons nichts verstehen. Ich erkläre, was man da jetzt sehen könnte.
Ich spreche langsam.
In Hauptsätzen.
Damit alle Studentinnen verstehen.
Das sind Jochen und ich.
Bei einer Lesung.
Wir sprechen da gerade über Gewalt.
Über Gewalt von Frauen gegen Männer.
Die Studentinnen lachen.
Ich notiere auf einem Zettel: "Gewalt-Witze gegen Männer funktionieren."
Und? Gibt es jetzt Fragen?
Warum schreiben Sie? – Weil wir es in der Schule gelernt haben?
Kennen Sie russische Autoren? – Ja.
Haben Sie schon mal Probleme mit der Polizei gehabt? – Nur, wenn Stephan Zeisig die Diskothek zu laut aufgedreht hat.
Für das Referat würde ich uns eine Drei Plus geben, aber hinterher kommen ein paar achtzehnjährige Studentinnen an, die so aussehen, als hätten sie ihre Pubertät noch vor sich und begehren Autogramme. Wir zieren uns nicht.

***

Nachdem der Maure seinem angeblichen Neffen Alâ ed-Dîn die Sehenswürdigkeiten und sogar den Sultanspalast gezeigt hat, verspricht er ihm, ihn am Freitag nach dem Gottesdienst zur Stadt hinauszuführen – zu den Gärten und Lustplätzen.

In welcher chinesischen Stadt sollte den ein Sultan über ein muslimisches Volk geherrscht haben?
Was nicht besonders für Gallands Erzähltalent spricht: Die Handlungen werden angekündigt, ausgeführt und berichtet, so dass wir sie drei Mal lesen müssen.

Die beiden gehen also vor die Tore der Stadt, wo

die Wasser flossen aus Mäulern von Löwen, die von gelbem Messing waren.

Es dauert mehrere Stunden, und Alâ ed-Dîn verliert allmählich die Geduld,

bis sie zu der Stätte gelangten, die das Ziel des maurischen Zauberers war.

Alâ ed-Dîn holt auf Geheiß des Mauren Brennholz, und dieser entfacht ein Feuer, zaubert ein bisschen, und der Erdboden öffnet sich. Alâ ed-Dîn versucht zu fliehen, doch der Maure schlägt ihn nieder. Im Boden ist eine Platte eingelassen, in die ein Ring eingefasst ist, den nur unser Held Alâ ed-Dîn zu heben vermag. Dies tut er und steigt auch hinab, da ihm der scheinbare Oheim verspricht, er könne ihn reich machen. Alâ ed-Dîn möge in den hinteren Saal gehen und von dort die Lampe holen. Erst auf dem Rückweg dürfe er sich die Taschen mit Juwelen, Gold und Silber vollstopfen, die er in den dorthin führenden Gärten finden würde. Zur Sicherheit steckt er ihm einen Siegelring an den Finger, den man nur in der Not zu drehen bräuchte.
Alâ ed-Dîn tut wie ihm befohlen wurde. Als er mit der Lampe zurückkommt, ist die letzte Stufe der Treppe zu hoch, und Alâ ed-Dîn bittet seinen "Oheim", ihm zu helfen, doch dieser verlangt zuerst die Lampe. Da Alâ ed-Dîn aber die Lampe unter all den Juwelen hat, vermag er nicht an sie zu gelangen.
Vor Zorn wirft der Maure Weihrauch ins Feuer, und die Platte schließt sich über Alâ ed-Dîn.

Das Motiv ist eindeutig das vom "Blauen Licht" bei Grimms bzw. der Version von Andersen "Das Feuerzeug". Unklar bleibt, wer hier von wem abgekupfert hat. "Das Blaue Licht" erschien in der Grimmschen Sammlung 1814, es ist durchaus denkbar, dass "Aladin" oder Motive dieser Geschichte zu jener Zeit in popularisierter mündlicher Form durch Europa geisterten.… Weiterlesen

269. Nacht a) – Jekaterinburg – Betrug fängt im Kopf an

(12.4.07)

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Jekaterinburg – Betrug fängt im Kopf an

Am Jekaterinburger Flughafen empfängt uns Irina. Ich habe noch nie eine russische Reisebegleiterin erlebt, die nicht Irina hieß. Wahrscheinlich eine zwingende Voraussetzung bei der Bewerbung um diesen begehrten Job Womöglich legen russische Eltern per Namensgebung den beruflichen Weg ihrer Nachkommen fest. Gennadis werden Metro-Rolltreppen-Reparateure und Irinas Reisebegleiter für deutsche Touristen.
Der vom Goethe-Institut angeheuerte Fahrer wirkt wie einer jener Schlägertypen des KGB aus amerikanischen Spionagefilmen. Schweigsam, aber irgendwann, wenn er von oben das Kommando bekommt, wird er uns umlegen und seinem Kommissar Bericht erstatten. Bis dahin verhält er sich zugeknöpft und korrekt. Das früher Swerdlowsk genannte Jekaterinburg ist, so berichtet uns der Fahrer-Agent, nach Moskau, Petersburg und Nishni-Nowgorod die viertgrößte Stadt Russlands. Allerdings wird man das in den Städten Omsk, Nowosibirsk und Krasnojarsk, die wir in den nächsten Tagen besuchen, ebenfalls behaupten.
Jekaterinburg scheint sich in der Phase der ursprünglichen Akkumulation zu befinden (s. Karl Marx: Das Kapital Band I): Holzhäuschen, Beton-Glas-Stahl-Konstruktionen und Sowjetfassaden wechseln sich ohne Sinn und Verstand ab. Die Hauptstraßen sind, wie uns auch auch aus anderen russischen Städten bekannt ist, dermaßen breit, dass man als Fußgänger einen halben Tag braucht, um auf die andere Straßenseite zu gelangen. Dabei fuhr zur Zeit ihrer Entstehung höchstens alle zwei Stunden ein PKW den Leninprospekt herunter. Jochen Schmidt argumentiert, es läge an den extrem breiten Flüssen Russlands. Doch warum sind dann die Straßen des am Mississippi-Delta gelegenen New Orleans so wurschtelig schmal? Ich vermute eher, dass die russischen Architekten nach der Oktoberrevolution alle erschossen wurden und man das Relaunch einer Kindergarten-Werkstatt übertrug: Patsche-patsche – fertig ist die Straße. Der weitblickende Stalin ließ die Verantwortlichen erschießen, aber die Straßen wurden dennoch gebaut, denn die seherischen Fähigkeiten des Generalissimus ließen ihn schon damals erahnen, dass der zu hochprozentigem Alkohol neigende Russe als Autofahrer ein großzügig angelegtes Manövrierfeld benötigt.
Das Hotel gehört zu den besten der Stadt. Falko Hennig, der vor kurzem ebenfalls in Russland aufgetreten war, hatte berichtet, dass man ihm die Rezeption per Anruf ein paar Abendhäppchen anbot, die nicht nur aus Kaviar, Wodka und frisch gezapftem Bier sondern auch aus frisch bezopften russischen Mädchen bestanden. Sollte man, nachdem man so oft derartige Angebote auf der Oranienburger Straße abgelehnt hat, sich nicht wenigstens mal nach dem Preis erkundigen. Aber was, wenn es nachher bloß 2,99 Euro kostet? Dann kann man sich schlecht rausreden, das es einem zu teuer wäre. Man könnte ja auch nur mal mit dem zu einer derart erniedrigenden Arbeit gezwungenen Mädchen reden, und das unter „Recherche“ verbuchen, wobei ich natürlich nichts dagegen hätte, wenn mir das arme Mädchen während unseres Gesprächs den Nacken massiert. Oder die Füße, oder den Bauch, oder die Schläfen, den Rücken, die Oberschenkel. Ab welcher Art von Massage würde ich meine Freundin betrügen? Doch eigentlich nur, wenn das Mädchen einen Körperteil berührt, der von meinem Slip eingefasst wird. Aber heißt das, dass Beziehung, Treue und Liebe nur auf Hintern und Genitalien beschränkt sind. Treue oder Betrug – das fängt doch im Kopf an. Und wenn es alles nur eine Frage des Kopfes ist, dann könnte ich auch gleich die Hose runterlassen. Angstvoll schiele ich nach 23 Uhr immer wieder auf das Telefon, aber es bleibt still. Glück gehabt.

***

Die Geschichte von Alâ ed-Dîn und der Wunderlampe
(Aladin)

In einer Stadt in China lebt ein armer Schneider, dessen Sohn Alâ ed-Dîn heißt.

Und dieser Knabe war von seiner Jugend auf ein Tunichtgut und Taugenichts.

Schon dieser Anfang ist anders konstruiert als die bisherigen Erzählungen, und es ist unglaubwürdig, dass Galland die Geschichte woanders als in seinem Kopf „gefunden“ hat:

  • Der Held ist bei 1001 Nacht in der Regel noch gar nicht geboren.

  • Warum hat er einen arabischen Namen, wenn er in China lebt?

  • Warum heißt er genau so wie der Held der vorherigen Geschichte?

  • Tunichtgut und Taugenichts scheinen auch eher vom europäischen Ethos geprägte Bezeichnungen zu sein als typische zu überwindende Eigenschaften.

Alâ ed-Dîn spielt nun auch lieber

mit den anderen Buben, Lehrlingen,

als seinem Vater zu helfen, welcher dann auch stirbt.

Seine arme, unglückliche Mutter aber musste ihn von dem ernähren, was sie durch Spinnen mit eigener Hand verdiente, bis er fünfzehn Jahre alt war.

Spinnen als Handwerk der Ärmsten – auch ein europäisches Motiv?

Eines Tages kommt ein maurischer Derwisch in die Stadt, der Alâ ed-Dîn beobachtet:

„Dieser Knabe da ist ja der, den ich suche.“

Dass der Derwisch ein Maure sein soll, scheint mir ebenfalls eine europäische Projektion. In der Figur des Mauren sammelt sich das Unheimliche, das Exotische, das Dunkle, das Afrikanische verbindet sich mit dem Orient. Der Derwisch wäre eher im persischen Raum zu vermuten, bestenfalls in Ostafrika.

Der Derwisch gibt sich als Oheim Alâ ed-Dîns aus und beklagt den „Tod seines Bruders“. Er erklärt, Alâ ed-Dîn solle nun wie sein Sohn sein, gibt ihm zehn Dinare und kündigt seinen Besuch bei ihm und seiner Mutter an. Die Mutter scheint einigermaßen verwundert über den nie gekannten Oheim, kocht aber am nächsten Tag, als Alâ ed-Dîn wieder mit zwei Dinaren heimkommt ein gutes Essen, um den Mauren zu empfangen.
Langwierig erzählt der Maure (man könnte auch sagen Galland) eine dürre Geschichte, wie er von seinem angeblichen Bruder getrennt wurde und nun nach vierzig Jahren wieder zurückkehrte. Er fragt nach dem Handwerk Alâ ed-Dîns und die Mutter klagt:

„Mühsam spinne ich Baumwolle Tag und Nacht.“

Der Derwisch verspricht Alâ ed-Dîn, ihn zu einem feinen Kaufherrn zu machen. Da

freute er sich sehr; denn er wusste genau, dass diese Herren alle immer feine und saubere Kleider tragen.

Ich kann mir nicht helfen – auch das klingt für mich europäisch.

Am nächsten Tag führt der Maure Alâ ed-Dîn zum Basar, kleidet ihn ein, geht mit ihm ins Badehaus, trinkt mit ihm Scherbett und

zeigte ihm die Stadt, die Moscheen und alles Sehenswerte, was es in dem Orte gab.

Das sollte Alâ ed-Dîn, der Herumtreiber noch nicht gesehen haben?… Weiterlesen

269. Nacht – Strickkleider und Schnarch-Lacher

(12.4.07)

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Strickkleider und Schnarch-Lacher

Angeblich sind die Zwischenansagen des Kapitäns und der Stewardessen auch auf Deutsch. Erkennen kann man es nicht, der Tonfall und der Klang sind dieselben.
Als wir in Moskau ankommen, jammert Jochen, er habe im Flugzeug nicht schlafen können. Somit ist Jochen Schmidt der einzige Mensch, den ich kenne, der auch im Wachsein schnarcht, von ein paar Schnarchlachern abgesehen, deren Vorkommen in meiner unmittelbaren Umgebung in den letzten Monaten zugenommen hat. Ein Schnarchlacher ist ein Mensch, dessen Lachen zwar einigermaßen verhalten klingt, der dann aber beim Luftholen kräftig grunzt. Haben die dafür zuständigen Ärzte den Grund für dieses Phänomen schon mal untersucht? Ich glaube nicht.
Passkontrolle. Jochen wird angeschnauzt, weil er unverschämterweise kein Einreiseformular ausgefüllt hat. „Ot kuda?“, fragt er und will wahrscheinlich wissen, woher man diese Papiere bekommt, ich vermute aufgrund der barschen Reaktion der Flughafenaufpasserin einen Vokabelfehler. Willkommen in Russland.
In der Nähe des Flughafencafés, von dem wir abgeholt werden sollen, legen wir uns auf die Wartebänke zwischen die jemand Videosäulen gebaut hat, auf denen ein Drei-Minuten-Video des World Wildlife Funds läuft. Ein Jaguar und ein Hirsch. Der Hirsch, dann wieder der Jaguar. Der Jaguar im Schnee, der Hirsch im Schnee. Der Hirsch bei Nacht, der Jaguar bei Nacht. Wie in einem Liebesfilm fragt man sich: Kriegen sie sich oder kriegen sie sich nicht? Oder anders gefragt: Unter welchen Umständen kriegen sie sich? Aber der Zuschauer wird enttäuscht. Wie in einer Liebeskomödie aus den 50er Jahren sieht man das Paar erst am Morgen danach. Der Jaguar kaut schon etwas übersättigt an den Hirschresten. Hab ich etwas verpasst? Ich habe in den nächsten 5 Stunden genug Gelegenheit, meine Filmanalyse zu verifizieren, denn der dreiminütige Jaguar-Hirsch-Clip läuft hier als Endlos-Schleife.
Unsere deutsche Begleiterin Dana, die man uns für die nächsten Tage als Beschützerin zugeordnet hat, können wir gar nicht erkennen, so russisch ist sie gekleidet. Aber das ist ein Schicksal, das anscheinend jedem widerfährt, der länger als ein halbes Jahr hier lebt. In der Schule konnte man früher auch die Russischlehrerinnen, die ein Jahr lang in Moskau studiert hatten, an ihrer Vorliebe für unvorteilhafte Strickkleider, altmodische Tropfenformbrillen, unzweckmäßige Plastegürtel und eigenwilliges Naschwerk identifizieren.
Der Binnenflughafen Scheremetjewo 1, zu dem uns Dana lotst, wirkt, als hätten ihn russische Leibeigene vor der Erfindung der zivilen Luftfahrt erbaut. Die slawische Rustikalität des Gebäudes und der hier angebotenen Nahrung kontrastiert auf beeindruckende Weise mit der distinguierten Preisgestaltung der Cafeteria.
Ein gleichzeitig geschäftsmännisch aber auch polit-mafiös wirkender Bartträger, den ich instinktiv-rassistisch als Armenier einordne, setzt sich, drei Russen nehmen neben ihm Platz, und ein Sonnenbrillenträger baut sich ostentativ als Personenschützer am Eingang des Cafés auf. Die drei Russen sind die Idealtypen des russischen Mannes:
1. der fette Alkoholiker-Macho á la Jelzin
2. der fetthaarige Funktionär á la Karpow
3. der Bodybuilder á la Iwan die Kampfmaschine in Rocky IV
Um ein Binnenflugzeug in Russland zu besteigen, muss man sich beim Sicherheits-Check fast bis auf den Leoparden-Schlüpper ausziehen. Ich vermute, dass sie nur von ihrer mangelhaften Durchleuchte-Technik ablenken wollen. Wenn man kein Messer mitnehmen darf, warum gibt es dann in der Ersten Klasse Stahlbesteck und Glasflaschen?
Die Sitzreihen sind diesmal so eng, dass sogar Jochen Probleme hat. Falls sich mein Vordermann anlehnt, werde ich mir die Kniescheiben brechen. Jochen hat den Gangsitz, aber sobald er seine Beine etwas rausschiebt, pfeifen ihn die Stewardessen zusammen. Müssen die eigentlich auch einen Freundlichkeitskurs belegen. Der Umstand, dass sie auf diesem Flug nur sachlich und nicht mürrisch sind, scheint das zu belegen.
Ankunft Jekaterinburg. Die übliche Hektik bei der Landung. Diesmal ist das Flugzeug gerade erst einmal aufgedetscht und noch nicht mit dem Bremsen fertig, als schon einige Eifrige aufstehen. Es nutzt ihnen nichts. Beim Warten aufs Gepäck sehen wir uns alle wieder. Eine Gruppe Kaukasier hat Pech gehabt. Das Gepäck ist auf dem Rollfeld vom Laster gefallen, aber jetzt ist leider Mittagspause in Jekaterinburg, da könne man nichts machen. Kaukasier sind in Russland eben nur Kaukasier und stehen in der sozialen Hierarchie irgendwo zwischen Dieb und Hund. Und so müssen die Kaukasier bis zum nächsten Flug warten und der kommt in fünf Stunden.

Als genuesische König erwacht,

sah er Alâ ed-Dîn und seine eigene Tochter auf seiner Brust sitzen,

die ihn auch noch mit Waffengewalt überreden wollen, zum Islam zu konvertieren.

So könnte im Jahre 2008 ein Horrorfilm beginnen: Ein Staatsoberhaupt wacht auf, und auf seiner Brust sitzt seine plötzlich zum Islam konvertierte Tochter, begleitet von einem grimmigen Moslem.

Da zückte Alâ ed-Dîn den Dolch und durchschnitt ihm die Kehle von Ader zu Ader. Dann schrieb er auf ein Blatt, was sich zu getragen hatte, und legte es ihm auf die Stirn.

Die Prinzessin ist in der Lage, den Zauberstein zu bedienen, den sie reibt. Es erscheint ein Ruhelager, mit dem sie sich in die Lüfte erheben und fliehen. Der Stein versetzt sie außerdem in die Lage,

  • in einem öden Tal Bäume wachsen und einen Fluss fließen zu lassen, an dem sie die religiöse Waschung vollziehen können

  • einen Tisch mit Speisen erscheinen zu lassen

  • einen Ritter erscheinen zu lassen, der die Truppen bekämpft, die der Bruder der Prinzessin ihnen hinterhergeschickt hat

vgl. Tischlein-deck-dich bei Grimms, wo der Reiter seine Entsprechung im Knüppel-aus-dem-Sack hat

Man reist weiter nach Alexandrien, wo sie Ahmed ed-Danaf treffen. Mit dem fliegenden Ruhelager reisen sie über den Umweg Kairo, wo Alâ ed-Din seinen Vater wiedertrifft, nach Bagdad, wo er seinen nun zwanzigjährigen Sohn Aslân zum ersten Mal sieht. Der Kalif führt den Erzdieb Ahmed Kamâkim vor.

Sofort zog Alâ ed-Dîn sein Schwert und schlug ihm den Kopf ab.

Der Kalif lässt den Ehevertrag für Alâ ed-Dîn und die genuesische Prinzessin Husn Marjam schreiben.

Als er dann zu ihr einging, fand er, dass sie eine undurchbohrte Perle war.

Aslân wird zum Hauptmann der sechzig ernannt.

Hier endet die Geschichte, und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass am Ende Zauberstein und Dämonen quasi hervorgezaubert wurden, um die Handlungsstränge zusammenzuknoten. Die Idee von einer erzählenswerten Geschichte ist hier völlig anders – es geht viel mehr ums Erzählen selbst, die Geschichte von Alâ ed-Dîn ist die einer seltsamen Biografie, weniger die von einer seltsamen Begebenheit.

Ende

Die 269. Nacht wird zwar fortgesetzt, ist aber außergewöhnlich lang, da Galland hier die (wahrscheinlich von ihm selbst erfundene) Geschichte von Alâ ed-Dîn und der Wunderlampe eingefügt hat.… Weiterlesen